Zum Tod von Friedrich-Wilhelm Marquardt

Ein Nachruf von Matthias Loerbroks

Marquardts 7 bändige Dogmatik:
  • Von Elend und Heimsuchung der Theologie. Prolegomena zur Dogmatik

  • Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie, in 2 Bdn.

  • Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften?, Eine Eschatologie, in 3 Bdn.

  • Eia, wärn wir da.Eine theologische Utopie
Ein großer Theologe ist gestorben, ein freier und origineller, aber nicht ungebundener Denker, ein mit allen Sinnen wacher, empfindlicher Zeitgenosse, intensiver Gesprächspartner, eindrücklicher Prediger und prägender Lehrer. Vor allem: er war unter den Theologen einer der ganz wenigen, die zutiefst sich erreichen ließen von Auschwitz, begriffen haben, was für ein Bruch und Einschnitt die Schoa ist, nicht nur, aber auch für die christliche Theologie.

Friedrich-Wilhelm Marquardt wurde 1928 in Eberswalde geboren, studierte nach dem Krieg evangelische Theologie, war einer der ersten westdeutschen Studenten an der Kirchlichen Hochschule in Zehlendorf, damals noch mit dem Ziel, Pfarrer in der DDR zu werden, studierte aber vor allem in Marburg bei Rudolf Bultmann, der Heideggers Existenzialphilosophie zur Voraussetzung allen theologischen Verstehens machte. Ob durch Heidegger, Camus oder Sartre - viele Angehörige der später so genannten skeptischen Generation wurden damals Existenzialisten, weil sie das für nüchtern hielten, weil sie nach der Katastrophe des Nationalsozialismus und seiner glaubensbereiten Anhänger möglichst gar nichts mehr glauben wollten. Doch Marquardt merkte bald, dass in Marburg von Nüchternheit keine Rede sein konnte: rauschhaft exstatisches, pathetisches Aufderstelletreten, ziellose Aufgeregtheit, ein letztlich faschistisches All Zeit bereit - wie Marquardt schon lange vor den französisch inspirierten Heidegger-Debatten spürte. Er wechselte zu dem anderen großen Theologen der 50er Jahre, zu Karl Barth in Basel. Wirklich ernüchternd und befreiend wurde für ihn dort, Theologie im politischen Kontext zu diskutieren, wurde für ihn vor allem die Religionskritik, nicht nur die von Feuerbach und Marx, sondern auch die biblisch-theologische Religionskritik Karl Barths. Was er da gelernt hat, drückte er in einem Barth-Zitat aus, das er zur Überschrift eines Aufsatzes für den Registerband der Kirchlichen Dogmatik machte: "Kritischer müßten mir die Historisch-Kritischen sein": gesellschaftskritisch nämlich, ideologiekritisch, also politisch gesellschaftlich aufgeklärt selbstkritisch. Er hat aber auch sein Marburger Erbe nie verleugnet, bis zuletzt immer wieder zu Bultmann gearbeitet - und dem Prediger und Kirchentagsredner Marquardt war existenzialistisches Pathos nicht völlig fremd.

Marquardt wurde Pfarrer, zunächst in Bayern, dann im Rheinland, wo er zu jener kirchlichen "Bruderschaft" gehörte, die den Streit um die Atomwaffen zur Bekenntnisfrage erhob und damit die Evangelische Kirche fast zur Spaltung gezwungen hätte.

Ende der 50er Jahre wurde er Studentenpfarrer an der Freien Universität Berlin - gegen den Willen des damaligen Bischofs Dibelius. Helmut Gollwitzer hatte die Berufung erzwungen, indem er sie zur Bedingung für sein eigenes Kommen machte. Die meisten reichen und etablierten Berliner hatten damals die Stadt angesichts des Chrustschow-Ultimatums in der umgekehrten Richtung verlassen, waren nach Bayern oder ins Rheinland gezogen. Der kalte Krieg bezog auch die Universitäten ein - eine der ersten Aufgaben des Studentenpfarrers Marquardt war, einen Studenten zu beerdigen, der - von westberliner Professoren und westalliierten Geheimdiensten verheizt - in Ostberliner Haft ums Leben gekommen war. Bald darauf geriet Marquardt selbst in die Mühlen des kalten Kriegs: ein entsetzter Brief an Kurt Scharf, in dem er von einem Besuch von Studentenpfarrern bei der Bundeswehr berichtete, bei dem ganz unverblümt von der Militärseelsorge als Teil der psychologischen Kriegsführung die Rede war, war nach Ostberlin gelangt und dort veröffentlicht worden. Marquardt wurde daraufhin von westlichen Geheimdiensten in die Zange genommen, wurde dabei krank an Leib und Seele.

Ebenfalls als Studentenpfarrer leitete er - zusammen mit seinem TU-Kollegen Rudolf Weckerling - eine Reise von Studierenden nach Israel. Kurz darauf gehörte er zu den Gründern der Kirchentagsarbeitsgemeinschaft Juden und Christen - und das Verhältnis zwischen Christen und Juden wurde eins seiner Lebensthemen. Er wurde Assistent bei Gollwitzer und schrieb eine bahnbrechende, Augen öffnende Doktorarbeit über Israel in der Theologie Karl Barths und wurde dafür mit der Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet.

Mit Beginn der Studentenbewegung Ende der 60er Jahre, die er sich ganz nah gehen ließ, mit Haut und Haaren und unter die Haut, sah er sich vor einer doppelten Aufgabe: zum einen wollte er den Bürgern der Stadt den revolutionären Aufbruch der Studenten erklären und verstehbar machen, zum anderen den Studenten, die damals nicht mehr viel von Theologie hielten, zeigen, welches revolutionäre Potential in Bibel und Theologie steckt. Letzteres wurde dann 1971 zu seiner Habilitationsschrift: Theologie und Sozialismus. Das Beispiel Karl Barth. Marquardt unternahm es zu zeigen, dass Sozialismus nicht nur zu den ethischen Konsequenzen gehörte, die Barth aus seiner Glaubenserkenntnis zog, sondern dass sozialistische und marxistische Fragen, Kategorien, Denkfiguren auch seine dogmatische Arbeit prägten - und löste damit einen Skandal aus: die Kirchliche Hochschule lehnte die Arbeit als unwissenschaftlich ab (Wissenschaftlichkeit war auch damals schon ein Kampfbegriff), und Gollwitzer legte daraufhin seinen Lehrauftrag an der Kirchlichen Hochschule unter Protest nieder, lehrte nur noch an der FU. (Wie stürmisch es damals zuging, zeigt ein Blick in die Theologische Realenzyklopädie - theologisch ungefähr so vornehm wie sonst der Große Brockhaus, ist sie sich aber nicht zu vornehm, in einem langen Artikel über Karl Barth zu betonen, er habe bei der Abfassung seines Römerbriefs Lenins "Staat und Revolution" noch gar nicht kennen können.) Beide Themen, die Marquardt mit Entdeckungen in der Theologie Karl Barths anstieß, das Verhältnis der Christen zu den Juden und die gesellschaftliche Bedingtheit wie auch das gesellschaftliche Aufklärungspotential von Theologie hängen zusammen, denn zu der gesellschaftlichen Situation, in der Theologie entsteht und auf die sie sich bezieht, gehört, dass es die Situation nach Auschwitz ist. Auch Marquardt hat Zeit gebraucht, dieses "nach" in seinem ganzen Gewicht wahrzunehmen. Es war bewegend, wie beim Nürnberger Kirchentag 1979 eine ganze Messehalle voller Menschen gebannt, fast mit angehaltenem Atem zuhörte, als er über "Christsein nach Auschwitz" sprach.

Als Gollwitzers Nachfolger an der FU hat er in den 70er und 80er Jahren seine vor allem im christlich-jüdischen Gespräch gewonnenen Einsichten in einer neuen Dogmatik, einer Glaubenslehre zusammengefasst, die inzwischen in sieben dicken Bänden erschienen ist. Und schon deren quantitative Aufteilung ist aufschlussreich: ein Band Methodisches, in dem grundlegend Rechenschaft abgelegt wird, was christliche Theologie nach Auschwitz sein und tun muss; zwei Bände "Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden": welche Bedeutung hat es für den christlichen Glauben, dass Jesus Jude ist?; drei Bände Eschatologie, also Hoffnungslehre, und dann noch ein weiter Band: eine theologische Utopie, die auch seine Gotteslehre enthält. Die Gewichtung zeigt: auch durch schwärzeste Einsichten in die Fraglichkeit der Theologie wollte er sich weder die Bedeutung Jesu noch die Hoffnung ausreden lassen oder nur noch kleinlaut und gedämpft davon reden. Das wäre ihm wie eine Kapitulation vor dem Erzfeind, dem Tod, vorgekommen.

Am Sonnabend ist Friedrich-Wilhelm Marquardt in Berlin gestorben, am Vorabend des Sonntags Trinitatis und an dem Schabbat, an dem in den Synagogen der Abschnitt "Nasso" aus dem 4. Buch Mose gelesen wird, der den Segen enthält: der HERR segne dich und behüte dich; der HERR lasse leuchten sein Angesicht über dir und sei dir gnädig; der HERR erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.

Die Berliner Kirche hat einen großen Lehrer, vielleicht einen Propheten verloren, auf den sie zu seinen Lebzeiten kaum gehört hat. Gebe Gott, dass sie nachsitzt, nachliest und lernt.

Dr. Matthias Loerbroks ist evangelischer Pfarrer in Berlin

Zuerst gekürtzt erschienen in:
der Tagesspiegel vonm 28.05.2002

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