Friedrich-Wilhelm Marquardt
2.12.1928 - 25.5.2002

Zum Gedenken an einen grossen Lehrer in der Christenheit

von Martin Stöhr

Als die vom DKR neu gestiftete Buber - Rosenzweig - Medaille 1968 zum ersten Mal verliehen wurde, da waren die Ausgezeichneten zwei nonkonformistische Wissenschaftler, ein Theologe an der Freien Universität Berlin sowie ein Historiker und Dramaturg am Wiener Burgtheater: Friedrich-Wilhelm Marquardt und Friedrich Heer. Heer hatte in seinem Buch "Gottes erste Liebe" leidenschaftlich die vom kirchlichen Judenhass vergiftete Geistes- und Realgeschichte Europas geschildert, die Gottes bleibende Berufung Israels durchkreuzen wollte.

Marquardt hatte 1964 "Die Bedeutung der biblischen Landverheissungen für die Christen" veröffentlicht, worin er das so oft bedrohte und bestrittene Existenzrecht Israels auf dieser Erde schilderte und als christliche Verantwortung einforderte. 1967 folgte sein erstes grosses Buch, das Linien aufzeigte, wie eine Erneuerung der Beziehungen zwischen Juden und Christen aussehen könnte: "Die Entdeckung des Judentums für die christliche Theologie". Er entwickelte die Neuansätze in der Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Karl Barth, bei dem er sowohl "altes" Denken über Israel findet wie "neues" findet, zB in seiner Erwählungslehre.

Ihm war klar, dass neben einer neuen Lektüre der Bibel eine kritische Überprüfung der christlichen Lehrtraditionen notwendig ist. Das Jahresthema hiess damals: "Suchet den Frieden und jaget ihm nach!" Die Aufgabe schloss für beide Preisträger auch den Frieden ein, der - nach Jahrhunderten des Hasses und der Verfolgung - eine im Denken und Handeln erneuerungsbedürftige Christenheit mit Israel zu suchen hatte, mit jenem Israel, das in dem von Deutschland weitgehend ohne Widerspruch propagierten und organisierten Massenmord am jüdischen Volk ein Drittel seiner Menschen verloren hatte.

"Das Wichtigste am Judentum sind die Menschen" - diesen Satz Leo Baecks zitierte Marquardt immer wieder. Ihm wurde sehr früh deutlich, wie radikal die denkerische und praktische Umkehr sein musste. Mit Jüdinnen und Juden zusammen zu arbeiten, von und in Israel zu lernen, das war neu. Die Christenheit hatte oft gemeint, seit Paulus und Johannes alles über "die" Juden zu wissen, ohne mit den jeweils Lebenden zu sprechen. So hatte man die notwendige Solidarität mit dem jüdischen Volk in den Zeiten seiner Bedrohung verweigert und sich selbst gegen die Judenfeindschaft wehrlos gemacht, als diese sich völkisch, biologistisch oder wirtschaftlich begründete und ab 1933 schliesslich Regierungsprogramm in Deutschland wurde.

1959 war Marquardt als Studentenpfarrer mit einer der ersten Studentengruppen nach Israel gefahren. "Le Chaim", zum Leben, hiess der lange vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen von der Reisegruppe veröffentlichte Bericht. Das war seine Lebensaufgabe: Israel, in seinem Staat und in der Diaspora, in seiner lebendigen Vielfalt kennenzulernen und für es einzutreten, dass sein Leben nicht noch einmal angetastet werde.

Mit seinem Lehrer Helmut Gollwitzer, dessen Assistent er zunächst wurde, später sein Nachfolger an der FU Berlin, gründete er 1960 die "Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag". E.L.Ehrlich, R. R. Geis, Sch. Ben Chorin und Eleonore Sterling waren von Anfang an gleichberechtigte jüdische Mitglieder dieser AG. Sie gab mit grosser Öffentlichkeitswirkung Anstösse in alle evangelischen Kirchen, bis hin zu Änderungen ihrer Verfassungen, ihrer Lehr- und Schulbücher. Noch steht der Erneuerungsprozess in den Gemeinden und theologischen Fakultäten am Anfang. Das sah Marquardt, der sein Leben lang in einem inspirierenden Austausch mit jüdischen Kollegen arbeitete und lernte, wie kaum jemand sonst.

Immer ging es ihm in seiner Arbeit auch um eine Gesellschaft, die mehr Gerechtigkeit, Partizipation und vor allem selbstkritische Wahrheitsliebe (besonders gegenüber vergangenen und gegenwärtigen Irrwegen) als Formen ihrer Menschlichkeit benötigte. Den Aufbruch der Studenten ab 1966 begleitete Marquardt ebenso kritisch wie engagiert. Das verschaffte seiner wissenschaftlichen Arbeit sowohl Innovationskraft wie Praxisnähe, da die herkömmlichen Antworten von gestern zur Beziehung zwischen jüdischer Minderheit und christlich geprägter Mehrheitsgesellschaft ihre Bewährungsprobe nicht bestanden hatten. Ihm war es vergönnt, sein Lebenswerk noch zu vollenden. Es sind sieben eindrucksvolle Bände einer Dogmatik, der Darstellung der biblischen und christlichen Überlieferung in der Auseinandersetzung mit ihren jeweiligen Lebenswelten und Geistesströmungen. Und, so kann mit Fug und Recht gesagt werden, es ist neben der dreibändigen Dogmatik des us-amerikanischen Anglikaners Paul van Buren "A Theology of the Jewish-Christian Reality" weltweit der erste Versuch, eine Theologie zu entwickeln, die einmal die vielen neuen Erkenntnisse zum Selbstverständnis Israels und zum Selbstverständnis der Christenheit zusammenführt und zum anderen in einer kreativen Sprache die Christenheit auf einen "Schulweg" im ständigen Gespräch mit Israel einlädt.

Marquardt geht von der Fraglichkeit aus, in der nach Auschwitz Theologie und Kirche sich schuldhaft vorfinden, um im zweiten Teil, der Christologie, konsequent ernst zu machen mit der Tatsache, dass Jesus Jude ist, also ohne sein Volk und dessen Traditionen nicht verstanden werden kann. Der dritte Teil entfaltet eine "Hoffnungslehre" der Wege, auf denen Israel und die Kirche unterwegs sind: Hoffnung und Arbeit in der Unerlöstheit der Welt gegen den Tod und seine Komplizen, damit Gott "alles in allem" werde. Die Arbeit zeigt auch das biblische Aufklärungs- und Befreiungspotential gegenüber allen falschen Göttern, Autoritäten und Abhängigkeiten. Ein letzter Band, eine "Utopie", schildert die Inhalte dieser Hoffnung in einem geistvollen Durchgang durch die biblischen Bilder und ihre Realitätsbezüge und durch die Spiegelungen dieses biblischen Erbes in Kunst und Literatur, Musik und Philosophie. "Mitsehen und mitgehen können, das war ihm vielleicht als besondere Gabe beschieden" unterstrich sein Bruder Marten Marquardt in seiner Beerdigungsansprache. Und ein Gesprächspartner aus Israel, Yehoyada Amir, schrieb: "Sein Lebenswerk wendet sich vor allem an die christliche Welt, seine Bedeutung reicht jedoch weit darüber hinaus. Für viele Juden hat dieser Versuch ein neues Gespräch ermöglicht, das auch ihren religiösen Horizont erweitert hat. Für uns Juden bedeutete Marquardts Gegenwart und sein Wort eine Möglichkeit in einer neuen Weise Anteil an der Heilung der Welt (tikkun olam be malchut shaddai) zu nehmen, die vor seiner Generation nicht gegeben war."

Sein Leben und sein Werk verdienen grossen Dank, gerade von denen, die wie er sich bemühen, die Beziehungen zwischen Juden und Christen zu erneuern. Das beginnt mit dem Hören auf Israel, Mutter und Schwester der Christenheit. Der Dank, den auch die Arbeitskreise "Kirche und Israel" in allen Landeskirchen ihm als ihrem regelmässigen Lehrer schulden, wird darin lebendig wird, dass seine Arbeit, seine Fragestellungen und Ziele nicht vergessen, sondern wahrgenommen und weitergetragen zu werden.

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Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau
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