Jüdisches Leben in der Schweiz in Stadt und Land

Reformierter Bund solidarisiert sich

von Otto Schenk

"Lomdim, der christliche Verein zum Kennenlernen des Judentums", startete in diesem Jahr seine Frühjahrstagung mit einem Bus in Richtung Zürich. 3o Damen und Herren aus dem weiten Umfeld reisten am Fronleichnamstag früh an, um bei einer reibungslosen Fahrt und bestem Wetter das Nachbarland Schweiz zu erreichen.

Viele der Mitreisenden besuchen schon seit Jahren Tagungen und Exkursionen von LOMDIM, sie gehören quasi schon zur "LOMDIM-Familie." Sie sind bewandert im christlich- jüdischen Dialog und freuten sich auf die Begegnungen mit jüdischen Gesprächspartnern und Gemeinden in der Schweiz.

Die Tagung in Zürich eröffnete eine neue Reihe der LOMDIM-Arbeit, die sich zum Ziel gesetzt hat, jüdisches Leben in den Nachbarstaaten zu erleben. Jetzt also die Schweiz!

Zürich, die elegante, vornehme und wohlhabende Großstadt zeigte sich zunächst noch ganz im Aufbruch. Quartier nahm die Gruppe im Ibis-Hotel im Technocenter, einem früheren Industriegebiet, das sich jetzt durch Theater, Bürobauten und werdende Einkaufshallen zum Geheimtipp mauserte. Das nächste Ziel war das Zürcher Lehrhaus in der Limmattalstraße, einer ruhigen, freundlichen Vorstadtgegend. Michel Bollag, der jüdische Leiter und Hanspeter Ernst, der christliche Direktor, übernahmen nun die Führung und das Programm der Gruppe. Das Zürcher Lehrhaus ist Teil "der Stiftung für Kirche und Judentum in der Schweiz" und bietet Kurse zu jüdisch-christlichen Themen an, gibt Hebräischunterricht und regt Seminare, Ausstellungen und viele Veranstaltungen an. Es arbeitet ein bisschen ähnlich wie eine Volkshochschule. Das Lehrhaus wird getragen von regelmäßigen Zuwendungen aus Kirchen, jüdischen Einrichtungen und Privatspenden.

LOMDIM pflegt seit Jahren einen engen Kontakt zum Zürcher Lehrhaus und es wurden auch schon einige Veranstaltungen besucht.

Gespannt und erwartungsvoll saßen die Teilnehmer schließlich im herrlichen Lehrsaal zusammen, blickten durch Weinranken in das Limmattal und lauschten dem ersten Referat:

Der jüdische Hochschullehrer Michel Bollag referierte eindrücklich und sachkundig über:"Jüdisches Leben in der Schweiz: Heute und in der Vergangenheit".

Heute leben etwa 17.ooo Juden in der Schweiz. Vorwiegend in den großen Städten. Sie sind in einem Dachverband organisiert und entfalten ein breites Gemeinde- und Kulturleben.

Eigentlich erging es den Juden in der Schweiz wie allen jüdischen Gemeinden im europäischen Umland. Sie kamen mit den Römern, sie wurden mit dem Wachsen des Christentums immer mehr diskriminiert und bedrängt und konnten nur dort existieren, wo es den lokalen Herrschern aus egoistischen - meist finanziellen - Gründen passte.

Als die Kirche im Mittelalter das Zinsverbot für Christen erließ, wurden die Juden zum Geldhandel gezwungen. Als es der Kirche um 14oo lukrativ erschien das Zinsverbot wieder aufzuheben, tat sie es und vertrieb die Juden wieder.

Jetzt durften Juden in der Schweiz nur noch in den so genannten Untertanenländern wohnen, vorwiegend in der Grafschaft Baden, heute Kanton Argau.

1622 werden zum ersten Mal Juden in den Dörfern Lengnau und Endingen erwähnt. Von diesen beiden Dörfern wird später noch die Rede sein, denn von 1776 bis 1866 durften in der Schweiz nur in den beiden "Judendörfern" Lengnau und Endingen Juden leben! Sehr unwillkommen von der christlichen Dorfbevölkerung, nur auf Druck des Landvogtes! Erst ab 1866 dürfen Juden allmählich als gleichberechtigte Bürger in der Schweiz wohnen. Auch das geschah nicht aus Freundlichkeit, sondern weil die USA, Frankreich, Groß-Britanien und die Niederlande mit Handelsboykott gegen die Schweiz drohten!

Trotzdem kann das jüdische Leben in der Schweiz ganz anders betrachtet werden als die jüdischen Gemeinden in Deutschland und den Ländern, die von den Deutschen überfallen worden waren: In der Schweiz hat es nie einen Holocaust, eine Schoa, gegeben.

Die jüdischen Gemeinden in der deutschsprachigen Schweiz sind auch vorwiegend deutschsprachig. In der französischsprachigen Schweiz gibt es lebendige jüdische Gemeinde mit starken nordafrikanischen Einflüssen.

Israel und Diaspora: Rabbiner Tovia Ben Chorin, Zürich

In einem sehr komprimierten Referat führte Rabbiner Ben Chorin die Gruppe in die fruchtbare Spannung zwischen dem Staat Israel und dem Leben der jüdischen Gemeinden in der Welt ein. Jeder Jude kann heute, wenn er will, in Israel leben. Kann man also das angenehme Züricher Dasein noch mit Exil bezeichnen? Würden alle Juden der Welt in Israel leben, dann müsste man eine Verengung, eine Provinzialisierung des jüdischen Denkens befürchten. Gäbe es keinen jüdische Staat Israel, so wären die jüdischen Menschen in der Welt viel gefährdeter und schutzloser als heute. Allerdings muß Israel ein demokratischer Staat sein und bleiben, wenn die jüdischen Gemeinden der Schweiz ihm zur Seite stehen wollen. Rabbiner Ben Chorin stand vor einer wichtigen Feier: Die liberale, jüdische Gemeinde Zürich: Or Chadasch (Neues Licht) weihte ihre neue Synagoge an diesem Wochenende ein.

Ein festliches Abendessen in der orthodoxen jüdischen Gemeinde beschloß diesen ersten Tag.

Bibelarbeit: Ein Feuerwerk von neuen, ungewohnten Ideen Am nächsten Vormittag erlebte die Gruppe eine hinreißende Zusammenarbeit von Michel Bollag und Hanspeter Ernst bei der Auslegung des Wochenabschnittes zum Schabbat.

"Und wenn die Lade aufbrach, so sprach Mose: Herr, steh auf! Laß deine Feinde zerstreut werden und alle, die dich hassen, flüchtig werden vor dir. Und wenn sie sich niederließ, so sprach er: Komm wieder, Herr, zu der Menge der Tausende in Israel." ( 4.Mose, 1o, 35,36).

Was die beiden Herren aus diesen beiden Versen an Geschichten, Gleichnissen, Kombinationsmöglichkeiten und Gedankengebäuden entstehen ließen, es faszinierte die Zuhörinnen und Zuhörer total!

Der Nachmittag gehörte zunächst einer Ausstellung in der "Eidgenössischen Technischen Hochschule" zum Thema: Die Literaturstadt Czernovicz: "Viersprachenlieder erfüllen die Luft."

Anschließend wanderten die Teilnehmer unter Führung des Historikers und Museologen Ralph Weingarten durch die Züricher Innenstadt und entdeckten die Spuren jüdischer Vergangenheit. Am Abend zeigte sich Zürich wie eine wunderschöne italienische Lagunenstadt.

Der Schabbat begann ganz vorschriftsmäßig mit dem Besuch des Gottesdienstes. Die Gruppe teilte sich: Einige besuchten den orthodoxen Gottesdienst in der Löwenstraße. Dort wurde noch eine Bat Mizwa ( eine Art Konfirmation für ein Mädchen) gefeiert. Viele Leute, auch modisch gekleidete Frauen, nahmen an dem Gottesdienst teil.

Die andere Hälfte nahm in der neuen liberalen Synagoge Platz. Hier sitzen Frauen und Männer zusammen, Frauen beteiligen sich an der Toralesung und Rabbiner Ben Chorin leitete umsichtig und mit viel Gesang den Gottesdienst.

Die Gruppe bekam einen echten Eindruck von dem lebendigen jüdischen Leben der Stadt.

Am freien Nachmittag besuchten viele noch die Chagallfenster im Fraumünster und ließen sich sonst von dem immer noch wunderschönen Frühsommerwetter am See beeindrucken.

Zum Ausklang des Schabbat trafen sich alle noch einmal im Zürcher Lehrhaus. Nach einem köstlichen Abendimbiß führte Hanspeter Ernst ein in den Jüdisch - christlichen Dialog in der Schweiz.

Nachdem Herr Ernst die verschiedenen Gruppen und Vernetzungen im jüdisch-christlichen Dialog der Schweiz dargestellt hatte, ließ er die Gruppe teilhaben an Fragen, Hoffnungen und Nöten, die ihm während der Arbeit im Lehrhaus gekommen sind.

Das Gespräch ist für beide Seiten wertvoll und es sei ein Ammenmärchen zu behaupten, nur die Christen zögen Nutzen aus den Begegnungen (z.B. Schawuoth und Pfingsten). Da die Kreise des Dialogs überaltert seien, müssten Themen gefunden werden, die locken, ohne sofort zu theologisch oder problematisch zu klingen (Kunst, Musik, Verantwortung für die Welt etc).

Auch in der Schweiz sind es nur Wenige, die sich dem Dialog verpflichtet fühlen. Vom Lehrhaus aus werden Versuche gemacht, auch breitere Veranstaltungen anzubieten (Konzerte, Ausstellungen, Fahrten).

Mit nachdenklicher Musik und einem guten Glas Wein ging der Schabbat im Lehrhaus zuende. Alle waren voll des Dankes und der Freude über diese gelungenen Tage.

Zwei Judendörfer in der Schweiz: Endingen und Lengnau.

Zürich lag noch in sonntäglicher Ruhe, als der Autobus mit der LOMDIM-Gruppe in den wunderschönen, sommerlichen Morgen fuhr. Zunächst folgte die Route noch ein bisschen dem Züricher Fluß Limmat, um dann in den Kanton Aargau ins Surbtal zu kommen. Die Kurstadt Baden wurde passiert - herrlich die tiefen Täler und gepflegten Dörfer und Städtchen - und nach einer halben Stunde Fahrt wurde in Endingen gehalten.

Was gibt es hier zu sehen? Warum fährt eine jüdisch-christlich interessierte Reisegesellschaft hierher, wo es doch in der Schweiz so herausragende Sehenswürdigkeiten gibt?

Nur in diesem Dorf und dem Nachbarort Lengnau durften jahrhundertelang Juden in der Schweiz leben.

Nur in den eidgenössischen Untertanenländern, also hier in der Grafschaft Baden, durften sie siedeln. Nur in den bald als Judendörfern bekannten Orten. Sie erhielten vom Landvogt Schutzbriefe für jeweils 16 Jahre und mussten dafür schwer bezahlen.

Die christliche Bevölkerung der Dörfer war gar nicht entzückt von den jüdischen Mitbewohnern und drangsalierten die jüdischen Familien wo sie konnten.

Es war den Juden verboten Landbesitz zu erwerben oder Häuser zu bauen. Andererseits wurden die Christen angewiesen Wohnraum an Juden zu vergeben. Juden und Christen durften nicht unter einem Dach wohnen. Geschickt löste man das Problem und baute zwei Haustüren. Die eine führte in den Judenteil, die andere in den christlichen Hausbereich (noch heute sind solche Türen zu finden.) Den Juden wurde erlaubt Handel mit beweglicher Ware zu betreiben. So wurden sie Viehhändler und Hausierer, was bei die nahen Messeplätze Baden und Zurzach vorteilhaft war.

Erst ab 1866 wurden die Juden allmählich in der Schweiz gleichberechtigt und begannen zu den Städten zu ziehen.

Der jüdische Reiseleiter an diesem Sonntagmorgen, Dr. Ralph Weingarten, hatte inzwischen den Schlüssel für die Synagoge in Endingen von einer der beiden letzten jüdischen Familien im Dorf geholt. Und nun erlebte die Besuchergruppe eine echte Überraschung:

Die Endinger Synagoge ist ein prächtiger, repräsentativer Bau. Sie steht auf einem kleinen Hügel mit einladendem Vorplatz. Dort wehen die Landesfahnen. Fast gleichzeitig murmeln viele: "Ich dachte das wäre die Kirche. Guck mal, da ist eine große Uhr und sogar eine kleine Glocke!" Tatsächlich hat Endigen bis heute keine Kirche, aber eine gut erhaltene, sehr stattliche Synagoge. Herr Weingarten schließt mit einem imponierenden Schlüssel auf und wieder sind die Besucher völlig sprachlos: Man geht ein paar Stufen runter und ist überwältigt von einem großen, hohen, hellen, bestens gepflegten Gotteshaus. Eine Empore ist auf beiden Seiten und über dem Eingang zu entdecken. In der "Apsis" leuchten wunderschöne, goldene Ornamente an der Decke und der Toraschrein nimmt ganz den halbrunden Raum im "Altarbereich" ein. Davor steht unübersehbar die "Bima", der Platz von dem aus der jüdische Gottesdienst geleitet wird. Zwei riesige goldene 9-armige Chanukkaleuchter flankieren den "Bimabereich". Kostbare Kronleuchter hängen herab, sie sind für Kerzen und elektrisches Licht benutzbar. In den hölzernen Bankreihen fallen die kleinen Schränke auf, die für jeden Besucher Gebetsmantel und Gottesdienstordnung aufbewahren können. Tiefbeeindruckt verlässt die Gruppe die Synagoge und fährt an dem alten Mikwebad - dem rituellen Tauchbad - vorbei zum jüdischen Friedhof für die Gemeinden Endingen und Lengnau.

Von einer Mauer umgeben, unter mächtigen alten Bäumen liegt - genau zwischen beiden Dörfern - der ehrwürdige, unzerstörte Friedhof mit seinen zahlreichen uralten Grabsteinen.

Seit 1764 werden hier - bis heute - Bestattungen vorgenommen. Zahlreiche berühmte Familien stammen aus den Judendörfern: z.B. Dreifuß, Guggenheim, Wyler oder Bloch.

Herr Weingarten erzählt in dieser idyllischen Umgebung ausführlich über jüdische Beerdigungsbräuche und lässt so manche Besonderheit hören. In Lengnau steht wiederum eine kirchenähnliche Synagoge. 175o wurde in beiden Dörfern die ersten Gebetsstätten gebaut und 1848 in Lengnau und 1852 in Endingen die heutigen Gebäude errichtet.

Zeitweilig lebten in den Dörfern mehr Juden als Christen (etwa 1ooo jüdische Menschen). Die Gemeinden hatten eigene Schulen und der Rabbiner war auch für die Zivilgerichtsbarkeit zuständig.

Heute gibt es in Lengnau noch ein jüdisches Altersheim, in dem aber kaum noch jüdische Bewohner leben.

Die Judendörfer Endingen und Lengnau in der Schweiz haben heute kein jüdisches Leben mehr. Seit Juden überall in der Schweiz wohnen durften, zogen die jüdischen Bewohner schnell aus der Enge und Beschwerlichkeit der Dörfer weg.

Und hier liegt der große Unterschied zwischen Deutschland und der Schweiz:

Wenn in Deutschland keine jüdischen Gemeinden oder Familien mehr in Dörfern und Städten leben, dann wurden sie vor Jahren deportiert und ermordet! In der Schweiz zogen sie einfach fort!

Tief beeindruckt und nachdenklich reiste die Gruppe wieder heim in den vertrauten Lebenskreis.

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Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau
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