Jenseits der Schambarriere

Walser, Möllemann und die Deutschen

von Horst-Eberhard Richter

Das Gespenst des Antisemitismus treibt wieder sein Unwesen. Zwei Prominente, beide persönlichen Antisemitismus weit von sich weisend, haben maßgeblich dafür gesorgt, das Übel wieder ans Licht zu bringen.

Schon in seiner berühmt/berüchtigten Friedenspreisrede 1998 hatte Martin Walser für Eingeweihte durchblicken lassen, daß er vor allem seinen scharfen Kritiker Reich-Ranicki meinte, als er wortreich den Medien und gewissen Intellektuellen vorwarf, noch immer auf der Schande der deutschen Vergangenheit herumzureiten. Er selbst wolle endlich wegsehen. Weder das bei Ignatz Bubis ausgelöste Entsetzen noch die Unmengen suspekter Dankesbriefe brachten ihn in Verlegenheit. Es schien ihm nur recht, wie ein überfälliger Befreier von einem scheinbar unangemessenen Schamgebot bejubelt zu werden.

Vier Jahre später. Ausgerechnet für den geschichtsträchtigen 8. Mai 2002 lädt der Bundeskanzler eben diesen Martin Walser zu einem öffentlichen Gespräch über die Lage der Deutschen ein. Kurz darauf ein neuer Eklat: In seinem angekündigten neuen Buch, dessen Vorveröffentlichung die FAZ ablehnt, hat sich Walser wiederum Reich-Ranicki - diesmal unverhüllt - als Haßobjekt, sogar als fiktives Mordopfer auserwählt, den Mann, der nur wie durch ein Wunder die Hölle des Warschauer Ghettos überlebt hatte. Selbst wenn Walser von seinem überbordenden Narzißmus tatsächlich nur zum Haß auf die spezielle Person getrieben worden wäre - daß er ihn zugleich als Juden an den Pranger stellt, kann seiner Intelligenz nicht entgangen sein, obwohl er sich genau so ahnungslos wie 1998 gibt.

Gleichzeitig feiert Jürgen Möllemann, ähnlich wie 1998 Walser, ungeniert den brausenden Beifall für seine öffentlichen Provokationen, die von einem bestimmen Publikum als Legitimierung antijüdischer Gefühle verschlungen werden. Ein halbherziger Rückzieher wird ihm als aufgezwungene Unterwerfung unter die political correctness nachgesehen.

Walser und Möllemann sind nicht nur, aber auch Symptoms eines viel weiter reichenden Problems. Ihre Resonanz trifft mit einem in der Tat neuen Aufleben eingestandener antijüdischer Gefühle zusammen: 1999 konnten es nur 19 Prozent der Deutschen "gut verstehen, daß manchen Leuten Juden unangenehm sind". 2002 ist die Zahl auf 33 Prozent angewachsen. Unverständnis für "unangenehme Gefühle" bekundeten 1999 55 Prozent, neuerdings sind es nur noch 37 Prozent.

Aus diesen Zahlen läßt sich nicht unmittelbar ein Einstellungswandel ablesen, denn man weiß nicht, in welchem Maße neuerdings nur ungenierter zugestanden wird, was vorher noch als peinlich verschwiegen wurde. Aber das macht den Befund nicht erträglicher. Die Frage ist aber auch und vor allem, warum die demokratische Öffentlichkeit nicht schon längst wachsamer reagiert hat. 1998 hatte Ignatz Bubis peinlicherweise noch große Mühe, sich gegen Walsers Ermutigung zum Wegsehen und gegen dessen "geistige Brandstiftung" zu behaupten. War es nur Blindheit oder etwa gezielte Wahlkampfstrategie, daß sich Kanzler Schröder von seinen Beratern ausgerechnet Walser als repräsentativen Gesprächspartner zum 8. Mai 2002 auswählen ließ?

Und warum hat es die FDP erst so weit kommen lassen, daß Möllemann um der 18 Prozent willen seine Arme zum Empfang von Wählergruppen ausbreitete, die in unserer demokratischen Kultur bislang keinen anerkannten Platz beanspruchen konnten? Diese Kultur steht jetzt auf dem Prüfstand. Es geht in der Hauptsache wahrlich nicht um Walser und Möllemann, auch nicht um die Politik Israels in Nahost, sondern primär um uns selbst. Nämlich ob wir die Immunitätsbarriere aufrechterhalten können, die bisher in demokratischen Wahlkämpfen von innen heraus und nicht erst durch Moralkeulen schwingende Tugendwächter gegen antisemitische Stimmungsmache abzuschirmen half. Ob diese Schambarriere restabilisiert werden kann - nach Möllemanns von Westerwelle partiell unterstützten Entgleisungen -, das ist der Test, vor den wir alle - nicht nur die FDP - gestellt sind.

Noch eine Bemerkung am Rande: Natürlich fühlen sich die Deutschen durch die furchtbare Kette der Gewalt in Nahost aus ihrer eigenen Geschichte heraus besondere berührt. Eine Chance, diese Beunruhigung praktisch konstruktiv umzusetzen, läßt sich immerhin darin erkennen, an der Unterstützung der Friedenskräfte beider Seiten mitzuwirken, die nach allen Verletzungen und Leiden bereit sind, einen Weg zu friedlicher Verständigung und zum Zusammenleben in zwei ebenbürtigen Staaten zu suchen. Ebenso wie der deutsche Außenminister bemühen sich verschiedene hiesige Friedensgruppen um eine solche sinnvolle Hilfe.

Der Autor ist Direktor des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt/Main

Jüdische Allgemeine, 6.6.2002

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