Ein übelriechender Brei

Antizionismus und Antisemitismus sind zwei Seiten ein und derselben Medaille

von Moritz Neumann

Selten war in Deutschland häufiger die Rede von Antisemitismus als in den zurückliegenden Wochen und Monaten. Allerdings stets mit der Betonung, man sei kein Antisemit, nur weil man sich das Recht nehme, Israel zu kritisieren. Auch und gerade als Deutscher.

Die Anmerkung "auch und gerade als Deutscher" ist eine eigene Wertung wert. Denn der damit nicht selten unausgesprochen einhergehende Herzenswunsch nach der vielbeschworenen "Normalisierung", nach dem Schlußstrich unter die ganz bestimmte Art der historischen Hypothek, mag ein noch so starkes Sehnen sein - es funktioniert bis auf weiteres nur einseitig, und funktioniert damit eben überhaupt nicht. Weder mit Herrn Walser noch ohne ihn.

Gegen den Vorwurf der Feindseligkeit gegenüber Juden wehren sich jene besonders laut, die sich ertappt fühlen. Eine Variante des Haltet-den-Dieb-Syndroms - nachdem man zuvor einem anderen in die Tasche gelangt hat. Eine Abart auch der aus früheren Jahren noch besser bekannten Kollektivschuld-Abwehr. Es gebe keine Kollektivschuld, so schallte es uns Juden bei nahezu jedem Gesprächsbeginn über Holocaust und deutsche Schuld vielfach entgegen. Dabei hatte kein ernstzunehmender Repräsentant der Juden diesen Vorwurf je erhoben. Es gebe keine Kollektivschuld, wehrten sich erbittert die nichtjüdischen Gesprächspartner, es gebe nur die Schuld jener, die persönlich verstrickt gewesen seien. Wobei freilich die Frage unbeantwortet blieb, wo die persönliche Verstrickung begonnen hat. Bei persönlicher Bereicherung im Zuge der sogenannten Arisierung, bei der Mitwirkung an Deportationen? Bei der unmittelbaren Beteiligung als "kleines Rädchen" am gigantischen Mordprogramm? Oder schon beim begeisterten Heil-Schreien und dem zackig nach oben gerichteten Arm zum Hitler-Gruß?

Es gebe keine Kollektivschuld - das war eine oft gehörte und gern ausgesprochene Form vorauseilender Entschuldung ohne vorangegangenen Schuldzuweisung. Und so klingt es heute häufig, wenn die Annahme zurückgewiesen wird, es könne sich jemand durch seine politisch gemeinte Positionsbeschreibung als Antisemit offenbart haben - wo er doch nur die Politik Israels habe kritisieren wollen. Und das müsse doch, bitteschön, erlaubt sein.

Die oftmals scheinbar so unschuldig-blauäugig daherkommende Frage, ob Kritik an Israel nicht zulässig sei, offenbart nichts anderes als Scheinheiligkeit und, seien wir ehrlich, Provokation. Wer sollte denn, zumal von jüdischer Seite, behauptet haben, die Kritik an Israel sei per se nicht erlaubt? Aber die Fragestellung allein suggeriert wieder mal die Neuauflage des alten Vorurteils von der jüdischen Weltverschwörung. Diese ominöse Macht, die den Juden selbst die Kritik vom Leibe hält - und sei es auch nur mit Hilfe der moralischen Waffe. Walser, der Unsägliche, spricht hier gern von der "Auschwitzkeule".

Es ist immer wieder die gleiche alte Leier. Damals die Kollektivschuld, heute die Behauptung, es würde, wer Israel kritisiert, als Antisemit an den Pranger gestellt. Ich kann alle Kritikfreudigen beruhigen: Im Moment sieht es eher so aus, als würden all jene an den Pranger gestellt, die Israel verteidigen!

Noch einmal also: Kritik an Israel ist ebenso erlaubt wie an jedem anderen Staat. Vorausgesetzt allerdings, die Israelkritik berührt nicht die Existenz des jüdischen Staates und stellt ihn nicht grundsätzlich in Frage. Eben das aber verbindet sich beim alltäglichen Antizionismus gern zu einem übelriechenden Brei. Denn die Rechte der Palästinenser auf einen eigenen Staat zu betonen, ohne zugleich auch das Recht auf gesicherte Grenzen Israels mit gleichem Engagement zu beschreiben, hinterläßt einen unangenehmen Geschmack. Vollends ungenießbar aber wird der Brei, wenn locker über Israels vitale Sicherheitsinteressen hinweggegangen wird. Wo doch jeder wissen sollte, daß es noch immer das nicht nur ungeschriebene Ziel der palästinensischen Kriegs- und Terrorgruppen ist, die Existenz des jüdischen Staates auszulöschen. Da ändert es auch nichts, daß Jassir Arafat in seinen in englischer Sprache geführten Interviews den Eindruck eines moderaten und zu Kompromissen bereiten Realpolitikers zu hinterlassen versucht. Was ihm auch immer wieder gelingt. Nur wundert es doch sehr, wie wenig Aufmerksamkeit die vor Ort lebenden Korrespondenten internationaler Medien den in arabischer Sprache verbreiteten Äußerungen des selben Mannes schenken. Wäre ihr Interesse nicht partiell eingegrenzt, müßten sie sehr schnell erkennen, daß der palästinensische Friedensnobelpreisträger mit gespaltener Zunge spricht. Arafat der Januskopf, der sich gegenüber der Weltöffentlichkeit friedlich gibt, aber in seinen für die arabische Welt gedachten Erklärungen ungebrochen die Messer wetzt und ungeschminkt ausspricht, was seine Klientel hören will: Das Ziel ist die Auslöschung von Israel, dem Pfahl im Fleisch der arabischen Welt.

Und urplötzlich geht es somit ums pure Lebensrecht des jüdischen Staates. Aber wenn dies so ist, dann ist es auch sofort vorbei mit der Legitimation zur Kritik am militärischen Kampf gegen den Terror, denn dann blickt hinter dem scheinbaren politischen Argument sehr schnell die häßliche Fratze der nackten Judenfeindschaft hervor. Was von denen, die sich selbst allenfalls einen Antizionismus bescheinigen lassen möchten, natürlich mit Verve von sich gewiesen wird. Antizionismus ja, doch Antisemitismus nein. Man habe ja schließlich seine Lektion gelernt.

Die Geschichte der zurückliegenden fünf, sechs Jahrzehnte ist voll von Beispielen einer immer wieder zutage tretenden Judenfeindschaft im Gewand scheinbaren Antizionismus', zu beobachten in allen Staaten der arabischen Welt, im einstmals kommunistischen Herrschaftsbereich, aber auch in Deutschland. Denken wir nur an die Zeit nach dem Sechstagekrieg von 1967, als gerade in Deutschland die bis dahin stets an der Seite Israels positionierten verschiedenen linken Gruppierungen urplötzlich zu einem überbordenden sogenannten Antizionismus umschwangen. Wer sich ihre Argumente näher anschaute, der mußte sehr schnell erkennen, daß unter den antiisraelischen Parolen der jungen Leute der alte Antisemitismus der Elterngeneration durchschien.

Und ein neuer. Neu insofern, als der antijüdische Affekt, wie Josef Joffe kürzlich in der Zeit treffend analysierte, auch eine sehr deutsche Funktion hat, nämlich die Entlastung von der ererbten Schuld. Wenn sich Juden so aufführten, daß man ihnen nachsagen dürfte, sie handelten wie einst die Nazis, dann werden automatisch die Verbrechen der Vorväter relativiert und historisiert. Und dann - na, endlich - dürfen die Kinder der Opfer nicht mehr auf die Kinder der Täter mit Fingern zeigen.

Eine besonders aparte Wortschöpfung zur euphemistischen Verbrämung alt-neuen Feinddenkens war im Jahre 1984 der Evangelischen Studentengemeinde gelungen, die in einem Arbeitsheft zum Nahostkonflikt die Feststellung voranstellte, es könne "eine Lösung der Palästina-Frage nur mit einer durchgreifenden Dezionisierung der jüdisch-israelischen Gesellschaft gelingen2. Welch gelungene Fortentwicklung von der blutigen "Endlösung der Judenfrage" hin zur "Dezionisierung der jüdisch-israelischen Gesellschaft". Das klingt doch eindeutig zivilisierter. Allerdings läßt sich kaum leugnen, daß der Geist, der dahinter steht, noch immer derselbe ist. Ob Antizionismus oder Dezionisierung - es sind doch alles nur Kinder desselben Urvaters, eben des Antisemitismus.

Wenn Sie mich jetzt fragen, ob ich Jürgen W. Möllemann für einen Antisemiten halte, dann wird mir kein spontanes "Nein" einfallen, bei aller sonst gepflogenen Zurückhaltung im Umgang mit dem Antisemitismusvorwurf. Aber es ist gar nicht so wesentlich, wie ich den Präsidenten der deutsch-arabischen Gesellschaft (!) und stellvertretenden Vorsitzenden der FDP im Blick auf seine Äußerungen beurteile. Viel entscheidender ist, wie erfahrene Parteimitglieder dies sehen, etwa die seriöse und kluge Hildegard Hamm-Brücher. Ihre vernehmliche Klage, sie sehe einen so massiven Irrweg hin zu starken antisemitischen Tendenzen und erwäge deshalb nach mehr als fünfzig Jahren Zugehörigkeit sogar ihren Parteiaustritt, ist eine Bekundung, die an Eindringlichkeit kaum zu überbieten ist.

Daß Jürgen W. Möllemann kein Freund Israels ist, das läßt sich verschmerzen. Seine Freunde kann man sich ja zum Glück noch aussuchen. Aber daß er, in einem Interview mit der taz Verständnis für terroristische Kamikaze-Attentäter geäußert hat (auch wenn er das später, wie Politiker es gern versuchen, als Fehlinterpretation zu relativieren versuchte), das ist zielgerichtete Menschenverachtung in Reinkultur. Dabei ist nicht zu vergessen, daß damit ja nicht Menschen gleich welcher Religion, Rasse oder Hautfarbe gemeint waren, sondern Attentate gegen jüdische Menschen in Israel. Also hat Die Zeit auch hier recht mit der Analyse: "Wenn Möllemann den Vizepräsidenten des Zentralrats, Michel Friedman, bezichtigt, die Hunde des Antisemitismus zu wecken, dann bestätigt er, was er zu verneinen sucht: es gibt diese Hunde."

Jüdische Allgemeine, 6.6.2002

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