Es beginnt etwas zu bröckeln

Aber dennoch: Ich bleibe in Deutschland

von Ralph Giordano

Ein Gespenst geht um in Deutschland, das Gespenst einer Lüge: Die eigentlichen, die wahren Verursacher des Antisemitismus seien - die Juden selbst. Dieser uralte antisemitische Umkehrschluß hat seit kurzem hierzulande einen aktuellen Namen: Jürgen Möllemann - stellvertretender Vorsitzender der Freien Demokratischen Partei Deutschlands (FDP), ihr Chef im Land Nordrhein-Westfalen und Fraktionsvorsitzender im Landtag. Ich will bekennen, was das unsägliche Verhalten dieses Ego-Shooters und Verbalbulldozers samt den halbherzigen, wahltaktisch bestimmten Reaktionen des Parteivorsitzenden Guido Westerwelle im Begriff sind, subjektiv in mir anzurichten. Nämlich so etwas einzubüßen wie eine bisherige Grundgewißheit: "Letztlich ist die jüdische Gemeinschaft in Deutschland doch gut aufgehoben!"

Jetzt, spüre ich, beginnt etwas zu bröckeln, jetzt erodiert eine Substanz, die sich bis dato als sehr konstant erwiesen hat, jetzt taucht eine latente Frage auf, die ich nicht will und niederzuschlagen versuche, und die sich trotzdem nach vorn drängt: "Wird Deutschland wieder gefährlich?" Heute noch hervorgerufen durch die Wankelmütigkeit der Spitze einer, zugegeben, kleinen Partei, sich wegen eines eventuellen Wahlstimmenzuwachses aus dumpfbackiger Ecke von dem lebenden Gegenmuster des deutschen Liberalismus zu trennen. Was aber morgen, wenn das Modell erfolgreich wäre? Was, wenn es Schule machen sollte, wenn das beharrlich antisemitische Fünftel der Deutlichen als wahltaktisches Wechselpotential andere in Versuchung führte?

Hier sollen keine Pferde scheu gemacht, soll kein falsches Menetekel an die Wand geworfen werden: Die demokratische Republik, der demokratische Verfassungsstaat, sie stehen nicht vor ihrer Aushebelung von rechts. Vielmehr sind die Reaktionen (nicht nur) der Christlichen Union auf den Skandal der FDP - immerhin der wahrscheinliche Koalitionspartner nach einem möglichen Regierungswechsel - durchaus ermutigend.

Dennoch kann es keinen Zweifel geben, daß sich derzeit in Deutschland Unheimliches tut - eine Hemmschwelle sinkt, etwas bisher Lauerndes dringt offen nach oben. Kurz: ein Klima beginnt sich zu verändern. Und die jüdische Gemeinschaft, eine Art Seismograph für politische Erdstöße, bekommt sie als erste zu spüren. Auch ich, und zwar von ganz tief innen her: In keiner Epoche seit der Befreiung vor siebenundfünfzig Jahren ist heftiger an den mir von den Nazis injizierten Fluchtinstinkt appelliert worden, als in unserer Gegenwart.

Dabei - sind nicht schon genug Bürden angehäuft? So die Bürde der Erinnerungen, die von der Zeit, sonst doch gnädiger Allesheiler, nicht gelöscht werden konnten. Im Gegenteil - je mehr Jahre vergehen, desto näher rücken die Schreckensbilder von damals, desto kürzer werden die Abstände zwischen den Alpträumen. Und so auch die zweite, die Bürde des großen Friedens mit den Tätern, ihrer nahezu kollektiven Entstrafung, die ich unter den Begriff der "zweiten Schuld" gestellt habe. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind sie nicht nur juristisch davongekommen, sie konnten auch ihre Karrieren unbeschadet fortsetzen.

"Wie leben Sie damit?" werde ich, gerade jetzt wieder, oft gefragt. "Wie halten Sie das aus?" Und: "Warum haben Sie, nach allem, Deutschland nicht verlassen?"

Ich bin geblieben, weil es nichtjüdische Deutsche waren, die in der Nazizeit ihr Leben riskierten, um das unsere zu retten. Ich bin geblieben, weil sich sehr bald herausstellte, daß der Nationalsozialismus wohl militärisch, nicht aber ideologisch geschlagen war. Hätte ich nach dieser Erkenntnis Deutschland verlassen, wäre ich mir den Opfern gegenüber wie ein Deserteur vorgekommen.

Ich bin geblieben, weil Deutsch meine Muttersprache ist, das wunderbare Instrument meines Berufes, diese deutsche Sprache, die selbst in der Heimatlosigkeit unterm Hakenkreuz immer meine Heimat war, ein lebendes Wesen, mit dem es niemals Dissonanzen gegeben hat.

Und ich bin, viertens, geblieben, weil nach einer langen Periode des Einzelkämpfertums eine weitere Erkenntnis aufkam, nämlich daß es Millionen Deutsche gibt, die in elementaren Fragen so dachten und fühlten wie ich oder ich wie sie.

Deshalb ich bin geblieben. Nicht als jüdischer Racheengel, sondern als einer, der sich sein ganzes, nunmehr fast achtzigjähriges Leben herumgeschlagen und herumgeplagt hat mit dieser Last, deutscher Jude oder jüdischer Deutscher zu sein, und der sie nicht abwerfen kann und nicht abwerfen will, versöhnungsbereit gegenüber jedem, der sich ehrlich müht, auch gegenüber ehemaligen Nazis, die das tun, absolut unversöhnlich jedoch gegenüber jeder Art von Unbelehrbarkeit.

Und ich bleibe. Ich werde meinem Fluchtinstinkt nicht nachgeben. Aber ich will, daß dieses Deutschland von heute weiß, daß hier immer noch Augen- und Tatzeugen weilen, Menschen, denen beim unfreiwilligen Einatmen der Auspuffschwaden im Stau des motorisierten Wohlstandsblechs unweigerlich Gedanken an die Gaskammern von Auschwitz, an die Gaswagen von Chelmno kommen; Überlebende, die beim Anblick jeder Wunde, jeden Tropfen Bluts an Babi Jar, an Lidice, an Sobibor denken, und die nie mehr das ebenso begrifflos wie inflationär benutzt Unwort "Einsatz" in den Mund nehmen, nachdem es doch die mobilen Mordkommandos der "Einsatzgruppen" gegeben hat.

Ich fordere den selbstverständlichen Respekt vor jüdischem Schicksal. Was nicht heißt, daß Israel und seine Politik etwa unter kritischen Naturschutz gestellt werden, natürlich nicht. Aber wenn Juden, wie jetzt wieder, das schlimmste angetan wird, was ihnen angetan werden kann, nämlich sie zu Urhebern des Antisemitismus zu erklären, dann wird es allerhöchste Zeit, daß er endlich ausbricht - der "Aufstand der Anständigen".

Jüdische Allgemeine, 6.6.2002

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