Warnung vor Stellvertreterstreit um Nahost-Konflikt

Erklärung des Vorstands der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste

In einer Erklärung zur Situation in Israel und Palästina hat der Vorstand der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) heute seiner Hoffnung auf eine friedliche Annäherung der Konfliktparteien Ausdruck verliehen, die das beiderseitige Existenzrecht sicherstellt, und zugleich davor gewarnt, hierzulande einen politischen Stellvertreterstreit zu führen oder gut gemeinte Ratschläge in eine ausweglos scheinende Situation zu rufen. Außerdem bekräftigte die ökumenische Friedensorganisation, dass sie ihr Freiwilligenprogramm in Israel trotz der schwierigen Lage fortsetzen werde und forderte zur weiteren Begegnung mit und in Israel auf.

Im Zusammenhang mit der deutschen Debatte zum Nahostkonflikt kritisierte der ASF-Vorstand, dass die Grenze zwischen differenzierter Israelkritik und antiisraelischen oder antisemitischen Positionen häufig eindeutig überschritten werde. In einzelnen Politikerstatements werde der Konflikt im Nahen Osten "zum Blitzableiter eigener Geschichtsbearbeitung". Analogien zwischen den Opfern der nationalsozialistischen Vernichtung und den Opfern der israelischen Besatzung bedeuteten eine "Relativierung des Holocaust, die eher auf eigene Verdrängungsmechanismen denn auf wirkliche Analysen aufbaut", heißt es in der Erklärung.

Hier die Erklärung des ASF-Vorstands zur aktuellen Situation in Israel und Palästina im Wortlaut:

"Aktion Sühnezeichen Friedensdienste hat sich in den vergangenen Wochen bezüglich öffentlicher Israel-Verlautbarungen bewusst zurückgehalten. Durch unsere langjährige Arbeit in Israel und in Deutschland wissen wir einerseits um die Komplexität der politischen Lage und die Schwierigkeit, ihr von Deutschland aus gerecht zu werden, andererseits um die Anfälligkeit in der deutschen Diskussion, Israel und die Palästinenser zu Projektionsfiguren zu machen, die dann die Träger der Last der deutschen Geschichte auf die eine oder andere Art werden. Der Vorstand von ASF will mit diesem Papier, die schon lange währende interne Diskussion aufnehmen und eine Stellungnahme zur Diskussion vorlegen zwischen Freiwilligen, ehemaligen Freiwilligen, dem politischen Umfeld und der Öffentlichkeit. Dabei ist anzumerken, dass nicht nur die Diskussion in der Mitgliedschaft von ASF sehr kontrovers ist, sondern auch im Vorstand unterschiedliche Akzentuierungen existieren. Seit 41 Jahren ist Aktion Sühnezeichen Friedensdienste in langfristigen Freiwilligendiensten in Israel tätig. Unser Zugang zu Israel findet vor dem Hintergrund unserer Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vernichtung der europäischen Juden statt. ASF bekennt sich bewusst auch zur Schuld des europäischen Christentums am Jahrhunderte langen christlichen Antijudaismus, ohne den der rassistische Antisemitismus des Nationalsozialismus und dessen mörderische Folgen nicht zu erklären sind. Deshalb hat sich ASF seit Beginn als Organisation verstanden, die durch das Tun ihrer Freiwilligen praktische Solidarität mit dem jüdischen Volk übt. Das hat uns allerdings nicht gehindert, den arabisch-israelischen und jüdisch-palästinensischen Konflikt wahrzunehmen und uns mit unseren bescheidenen Mitteln für einen Friedensprozess zu engagieren. Spätestens seit dem Anschlag auf einen Bus mit ASF Freiwilligen in Nablus 1978, bei dem zwei unserer Freiwilligen ermordet wurden, ist nachvollziehendes Gespräch und die Begegnung mit der israelisch-palästinensischen Bevölkerung integraler Teil unserer Arbeit geworden. So gibt es neben der Konzentration unserer Projekte auf die Unterstützung und die Kommunikation mit Überlebenden der Shoah, auch Projekte im sozialpolitischen Bereich und Projekte zur Verständigung zwischen palästinensischen und jüdischen Israelis. Dabei erleben unsere Freiwilligen nicht erst seit der zweiten Intifada die große Spannung zwischen der Nähe zu den Überlebenden der Shoah, von denen viele durch die aktuellen Gewalttaten retraumatisiert werden, und der Verbitterung vieler palästinensischer Israelis, entstanden durch eine Atmosphäre des Misstrauens und der Diskriminierung.

ASF hat sich von Anfang an für die diplomatische Anerkennung Israels eingesetzt. Das Existenzrecht Israels ist nicht verhandelbar. Gerade deshalb stimmen uns manche Versicherungen der Anerkennung des Existenzrechts Israels skeptisch, da sie einen Ton durchklingen lassen, als ob dieses Existenzrecht disponibel wäre. Mit Freude nehmen wir die Fortschritte in den arabischen Ländern zur Anerkennung dieses Existenzrechts zur Kenntnis. Angesichts der nach wie vor erheblichen Widerstände, die in dieser Frage zu überwinden sind, bleiben wir noch hoffnungsvoll misstrauisch. Soviel jedenfalls ist klar: Substanzielle und nachhaltige Fortschritte werden nur erzielt werden können, wenn auch das Recht des palästinensischen Volkes auf einen eigenen Staat endlich verwirklicht wird.

Mit großer Sorge verfolgen wir den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, der seit nunmehr 18 Monaten erneut äußerst gewaltvoll ausgetragen wird. Inzwischen ist ein Zustand erreicht, in dem beide Bevölkerungen in Angst und Schrecken leben. Fassungslos stehen wir vor dem Scheitern von Oslo, in dessen Folge kein Ende der Unsicherheit für Juden und Jüdinnen in Israel abzusehen ist. In diesem Zusammenhang finden wir es unerträglich, dass Juden und Jüdinnen heute auch in Deutschland wiederum direkt angegriffen werden und jüdische Institutionen verstärkt hinter Barrikaden und Polizeisperren existieren müssen.

Die Beurteilung der gegenwärtigen Lage in Israel/Palästina hängt, wie wir aus mannigfachen Diskussionen wissen, entscheidend von der Beurteilung des Verhandlungsergebnisses von Camp David ab. Die eine Seite meint, dass das Angebot von Ehud Barak - auch angesichts der Siedlungspolitik während seiner Amtszeit - nicht wirklich ernst gemeint und somit die Zustimmung von Yassir Arafat unmöglich gewesen sei. Die andere Seite sieht in der Ablehnung der Barak-Vorschläge durch Arafat bestätigt, dass die Palästinenserführung keinen Frieden wollte und will, was sich dann in der zweiten Intifada und der inzwischen ja kaum noch bestrittenen Unterstützung der so genannten Selbstmordanschläge, die de facto Mordanschläge sind, durch die PLO-Führung erweise. Deutlich differenzierter sind auch im Vorstand von ASF unterschiedliche Positionen zu dieser Frage vertreten. Einig ist sich der Vorstand allerdings darin, dass mit gegenseitigen Schuldzuweisungen in der jetzigen Situation nicht viel zu gewinnen ist. Die Zeit für die umfassende kritische und selbstkritische Auseinandersetzung der Akteure mit Schuld und Gewalt liegt noch vor uns. Leider! Denn es ist ein wesentliches Merkmal dieses Konflikts, dass weder einseitige Erklärungen noch Verurteilungen seiner historischen, politischen und gesellschaftlichen Realität gerecht werden. Fürs erste ist schon viel gewonnen, wenn wir dem Bedürfnis entgegentreten, die Situation in klaren Feindbildern und schematischem Schwarz-Weiß-Denken abzubilden. Es gilt die Wahrnehmung und damit unsere Diskursfähigkeit zu schärfen. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass die Fraktion unter den Palästinensern, die Israel liquidieren will, an Stärke gewonnen hat. Festzuhalten ist auch, dass in der israelischen Regierung die Kräfte, die glauben, den Konflikt mit Gewalt lösen zu können, ohne allerdings benennen zu können, was nach der militärischen Gewalt kommen soll, deutlich an Gewicht gewonnen haben. Die palästinensische Autonomiebehörde ist faktisch zerschlagen. In den besetzten Gebieten ist für viele die Versorgung nur unter existenzbedrohenden Bedingungen möglich. Auch in Israel ist das gesellschaftliche Leben zum Erliegen gekommen. Beide Gesellschaften können nicht in dieser Form weiter existieren.

Es muss ein politischer Weg gefunden werden. Dieser umschließt die Garantie für beide Seiten, gewaltfrei und in Sicherheit leben zu können. Wir kritisieren deshalb auf der palästinensischen und der israelischen Seite die Kräfte, die zu einer weiteren Eskalation beitragen und in der Logik der Gewalt verharren.

Mit großer Sorge betrachten wir auch die militärischen Aktionen der israelischen Regierung, die sich in der Operation "Schutzwall" zugespitzt hatten. Wie unter anderem die schockierenden Bilder von Dschenin gezeigt haben, fallen den militärischen Aktionen nicht nur gesuchte Terroristen zum Opfer, sondern auch unschuldige ZivilistInnen. So sehr auch das Sicherheitsbedürfnis der israelischen Bevölkerung nach einer Lösung der Situation ruft, so wenig scheint uns dies langfristig mit militärischen Mitteln, die immer ungerecht sind, zu gewährleisten. Die Existenz und der fortwährende Ausbau der Siedlungen sowie die Abriegelung und Wiederbesetzung palästinensischer Gebiete stehen einer friedlichen Annäherung entgegen und setzen die Demütigung und wirtschaftliche Not des palästinensischen Volkes fort. Eine politische Handlungsperspektive lassen diese Operationen nicht erkennen. Wir sind andererseits schockiert über die Mordanschläge einiger palästinensischer Gruppen. Diese Anschläge, die in erschreckender Weise Zustimmung in weiten Teilen der palästinensischen Gesellschaft finden, tragen zutiefst antisemitische Züge und richten sich nicht nur gegen die Besatzung, sondern gegen die Existenz Israels überhaupt. Wir kritisieren die Versäumnisse der palästinensischen Autonomiebehörde, der Gewalt gegen Israelis entgegenzuwirken und die Anerkennung politisch durchzusetzen.

Das Geschehen im Nahen Osten bleibt nicht ohne Rückwirkungen auf die Situation in Deutschland. Ungeachtet des besonderen historischen Hintergrunds des deutsch-israelischen Verhältnisses kommt es immer wieder zu Israel-feindlichen Äußerungen. Es häufen sich Aussagen deutscher Politiker, welche die Grenze zwischen differenzierter Israelkritik und antiisraelischen bzw. antisemitischen Positionen eindeutig überschreiten. Es zeigt sich in manchem Statement, dass hier der Konflikt im Nahen Osten zum Blitzableiter eigener Geschichtsbearbeitung wird.

Eine gängige Formulierung in der deutschen Diskussion ist es, die Palästinenser als "Opfer der Opfer" zu bezeichnen. Wir lehnen diese Kategorie auch im übertragenen Sinne ab, da die schematische Einteilung in Täter und Opfer die komplexen regionalen Machtverhältnisse sowie historische und politische Konstellationen außer Acht lässt. Die Opfer der nationalsozialistischen Vernichtung in einen Kontext mit den Opfern der israelischen Besatzung zu setzen, suggeriert eine Analogie und bedeutet eine Relativierung des Holocaust, die eher auf eigene Verdrängungsmechanismen denn auf wirkliche Analysen aufbaut. Eine weitere unreflektierte, aggressive Reaktion auf den Nahostkonflikt zeigt sich in den jüngsten antisemitischen Anschlägen in Europa. Politische Äußerungen zum Nahostkonflikt müssen - wollen sie einen ernsthaften Beitrag zur Befriedung des Konflikts leisten -, den sensiblen Kontext berücksichtigen, in dem sie rezipiert werden und vermeiden, vorhandene Ressentiments zu stärken.

Amos Oz hat in seiner Erklärung zu dem Konflikt vom April diesen Jahres, in der er sehr deutlich sagt, dass das Sicherheitsbedürfnis beider Seiten befriedigt werden muss, von einer feuerlöschenden Teelöffelkampagne gesprochen, bei der jede und jeder einen Teelöffel voll Wasser in das Feuer gießen soll. Unser Beitrag dazu besteht nicht darin, hier einen Stellvertreterstreit zu führen oder gut gemeinte Ratschläge in eine ausweglos scheinende Situation zu rufen, sondern nach den je eigenen Anteilen zu gucken.

Wir setzen Hoffnung in kreative staatliche und zivilgesellschaftliche Angebote und Handlungsformen, die eine friedliche Annäherung der Konfliktparteien befördern.

Wir werden trotz der schwierigen Situation unser Freiwilligenprogramm in Israel fortsetzen. Dabei stehen wir in ständigem Kontakt mit der deutschen Botschaft, um die Sicherheit unserer Freiwilligen kompetent einschätzen zu können. Aufgrund unserer Erfahrung, dass die Begegnung mit Menschen eines der wirksamsten Mittel der Verständigung ist und weil Israel durch die schwierige Sicherheitslage einen hohen Verlust an Besuchern und damit auch GesprächspartnerInnen zu verzeichnen hat, rufen wir dazu auf, bei sorgfältiger Beachtung von Sicherheitsfragen, weiter die Begegnung mit und in Israel zu suchen."

Erklärung des Vorstands der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste zur aktuellen Situation in Israel und Palästina vom 12. Juni 2002. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an:

Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, Johannes Zerger (Referent für Öffentlichkeitsarbeit), Auguststr. 80, 10117 Berlin, Telefon: 030/28395-203, Fax: -135, E-Mail: zerger@asf-ev.de

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Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau
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