"Wir sind die modernste Synagoge Berlins"

In der Oranienburger Straße trifft sich der egalitäre Minjan zum Gebet

von Alexander Zeller

Um Mißverständnissen vorzubeugen: "Schalom! Wir sind eine Gruppe, die sich regelmäßig in diesem beeindruckenden Gebäude trifft, das natürlich eine Touristenattraktion ist. Wir aber sind keine Touristenattraktion!"

Die Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte ist in vieler Hinsicht etwas Besonderes, und so sah man sich dort gezwungen, obigen Hinweis in ein Informationsblatt aufzunehmen. Doch nicht nur wegen der goldenen Kuppel des Centrum Judaicum, die zum Symbol für das wieder erstarkende jüdische Leben in Deutschland geworden ist, sticht der Minjan in der Oranienburger Straße hervor. Die Selbstdarstellung liest sich folgendermaßen: "Eine Gruppe von Betern, die sich in den bestehenden Synagogen Berlins nicht wiederfanden, beschloß 1995 einen eigenen lernenden Minjan zu gründen ... Dabei ging es ihnen um folgende drei Punkte, die grundsätzlich anders sein sollten als in den übrigen Synagogen: Männer und Frauen sollen in allen Bereichen gleichberechtigt sein ... . Schließlich will der Minjan das Beten so gut selbst erlernen und beherrschen, daß er auch ohne Chasan oder sonstigen professionellen Vorbeter auskommt."

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin stellte dann im Februar 1998 die Synagoge in der Oranienburger Straße dem egalitären Minjan zur Verfügung - neben Frankfurt/Main dem einzigen unter den Zentralratsgemeinden. Erstmals amtierte hier mit Avitall Gerstetter eine Frau als Kantorin.

Als "dynamisch, konstruktiv, streitbar" charakterisiert Elisa Klapheck, Mitglied des im Frühjahr neu gewählten Synagogenvorstands, den Minjan mit etwa neunzig Betern, von denen dreißig bis vierzig regelmäßig kommen. "Wir sind die modernste Synagoge Berlins", meint sie. Derzeit ist man unter anderem dort dabei, einen eigenen Siddur zu erarbeiten, denn bislang benutzen die Beter den Siddur der Union der Progressiven Juden.

Doch wäre es falsch, der Synagoge eine grundsätzliche Nähe zum liberalen oder Reformjudentum zu unterstellen: Konsens ist nur der egalitäre Gottesdienst, jedoch gibt es durchaus auch konservative Kräfte unter den Betern. "Die Synagoge ist sehr heterogen", sagt Klapheck; doch sieht sie jetzt einen "Konsolidierungsprozeß" ablaufen.

Nach der spektakulären Entlassung von Rabbiner Walter Rothschild durch die vorherige Berliner Gemeindeleitung vor zwei Jahren wurde jetzt ein Nachfolger für das liberale Amt gefunden: Rabbiner Ady Assabi ist im Juli in einer Kompromißlösung zunächst für ein halbes Jahr nach Berlin gekommen und wird dann natürlich auch in der Oranienburger Straße amtieren. Klapheck erwartet nun, daß mit seiner Berufung "mehr Profil hineinkommt".

Jakob Schenavsky gehört zu denjenigen Betern in der Oranienburger Straße, die Kultusdezernent Natan Del "nicht das größte Verständnis für nicht-orthodoxe Belange" vorwerfen. Bis zu den jüngsten Wahlen war er im Synagogenvorstand, ist dann aber nicht wieder angetreten - aus Zeitgründen, aber auch, weil er nicht genug "Spielraum" für die Arbeit in der Synagoge sah. Den einzelnen Synagogen würde nicht genug Mitbestimmung eingeräumt, kritisiert er: Weder bei Personalentscheidungen - wie bei der Entlassung von Rothschild, gegen den viele aus der Oranienburger Straße seinerzeit vehement protestierten - noch bei den finanziellen Mitteln. Nicht einmal eine Reparatur habe er eigenständig in Auftrag geben können. "Ein Synagogenvorstand hat eigentlich keine wesentlichen Funktionen", moniert er.

Kultusdezernent Natan Del ficht derartige Kritik Einzelner nicht an. Er sieht es hingegen geradezu als eine Aufgabe der Berliner Einheitsgemeinde an, auch "Flügel" wie denjenigen in der Oranienburger Straße zu fördern. "Sonst wäre es ja eine rein orthodoxe Gemeinde, und das ist sie ja mitnichten. Die Einheitsgemeinde ist dazu da, daß man diesem Flügel Freiräume schafft." Und tatsächlich, sagt er, wüßte er von keinem einzigen Anliegen der Synagoge, dem nicht nachgegangen worden wäre. So verspricht er sich auch von der Verpflichtung von Rabbiner Assabi durchaus "langfristige Perspektiven".

Daß der in der Oranienburger Straße ausgeübte Ritus nicht seinen persönlichen Neigungen - Del ist Beter in der orthodoxen Synagoge Joachimstaler Straße - entspricht, soll seiner politischen Unterstützung nicht im Wege stehen: "Jeder soll mit seiner Art der Religion glücklich werden. Die Wertigkeit zu kritisieren, liegt nicht bei mir", sagt er.

Rabbiner Rothschild, der inzwischen dem Gemeindeparlament als Repräsentant angehört und als solcher ebenfalls im Kultusausschuß sitzt, benutzt ein Bild, um die Situation in der Oranienburger Straße innerhalb der Jüdischen Gemeinde zu Berlin darzustellen: Die Synagoge sei ein "Sicherheitsventil", sagt er: "Alle schwierigen Leute, die mehr verlangt haben, hat man dorthin geschickt."

"Die Frage ist, ob ein Glas halbvoll oder halbleer ist", sagt Rothschild zu der Kritik an der Gemeindeleitung. Er gibt zu bedenken, daß die Oranienburger Straße von der Gemeinde als egalitärer Minjan ausgestattet und unterhalten wird - daß sei einzigartig für eine Zentralratsgemeinde, aber auch "so, wie es in einer Einheitsgemeinde sein sollte", sagt er. "Da ist das Glas halbvoll." Anderswo müsse ein egalitärer Minjan selbst die Gelder dafür sammeln.

Rothschild selbst fühlt sich auch weiter der Synagoge verbunden, auch wenn er dort nur noch zu besonderen Anlässen wie etwa einer Barmizwa amtiert. "Wenn ich mich irgendwo zuhause fühle, dann dort", sagt er. Tatsächlich sei es auch seinerzeit bei seiner Entscheidung für Berlin ihm und seiner Frau sehr wichtig gewesen, daß es in der Stadt einen egalitären Minjan gab. Und so ist ihm auch bekannt, daß es unter den Betern zwar Einigkeit über die Liturgie, aber nicht unbedingt über die Theologie gibt. Möglicherweise sollte man den Minjan deshalb teilen, schlägt er vor. So könne verhindert werden, daß diejenigen unter den Betern, die sich noch weiter in eine liberale Richtung entwickeln wollen, eine Austrittsgemeinde gründen. "Wenn die Einheitsgemeinde attraktiv ist, werden die Leute da bleiben", sagt Rothschild.

Jüdische Allgemeine, 28. August 2002

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