Das heidefarbene Vergessen

Die Gedenkstätte des KZ Bergen-Belsen und die fünfzigjährige Geschichte des Verdrängens

von Thomas Maron

Wie schön muss hier im Herbst die Heide glühen. Zwischendrin grünen die Birken, Wacholdersträucher gedeihen prächtig, urdeutsches Gesträuch, ganz im Sinne des Landschaftsarchitekten Wilhelm Hübotter. Ausgerechnet jener Mann, der für SS-Führer Heinrich Himmler die Nazi-Kultstätte "Sachsenhain" entwarf, sollte nach dem Krieg auf dem Gelände des Konzentrationslagers Bergen-Belsen dem Gedenken Gestalt verleihen. Statt zu erinnern, schuf er ein Idyll. "Hier ruhen 5000 Tote" steht auf einem Stein neben einem Massengrab, so als seien KZ-Häftlinge nicht ermordet worden, sondern sanft entschlafen. Erst von 1966 an stemmte sich eine kleine Ausstellung gegen das heidefarbene Vergessen. Nach und nach wurde die Dokumentation erweitert. Jetzt wird mit großem Engagement ein neues Konzept erarbeitet. Ab 2005 soll erstmals die gesamte Geschichte des Konzentrationslagers umfassend in den Blick genommen werden, auch jene Zeit nach der so genannten "Stunde Null", in der das Grauen begrünt wurde. 1940 errichtete die Wehrmacht sechzig Kilometer nordöstlich von Hannover in Bergen-Belsen ein Kriegsgefangenenlager. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion vegetierten dort allein im Winter 1941 bis zu 21 000 sowjetische Kriegsgefangene. 20 000 von ihnen liegen in einem Massengrab in der Nähe des Lagers vergraben. Im April 1943 übernahm die SS Teile des Geländes und errichtete dort ein KZ, das die Menschenverächter des Dritten Reichs "Aufenthaltslager" nannten.

Der ursprüngliche Plan, dort gefangen gehaltene Juden gegen im Ausland internierte Deutsche auszutauschen, wurde nie ernsthaft verfolgt. Stattdessen wurden von März 1943 an kranke, völlig erschöpfte und deshalb arbeitsunfähige Häftlinge aus anderen Lagern nach Bergen-Belsen gebracht. In den letzten Kriegsmonaten wurden außerdem frontnahe Vernichtungs- und Konzentrationslager geräumt; Ziel vieler "Todesmärsche" war Bergen-Belsen. Dort grassierten Seuchen. Es gab kein Frischwasser. Die Menschen tranken aus Pfützen. 35 000 entkräftete Menschen kamen allein in den ersten Wochen des Jahres 1945 um.

Anders als beispielsweise Auschwitz konnte Bergen-Belsen nicht mehr geräumt werden. Als die Briten am 15. April 1945 das Lager befreiten, bot sich ihnen deshalb ein nicht beschreibbares Bild. Auf dem typhusverseuchten Gelände fanden sie 60 000 sterbenskranke, bis auf die Knochen abgemagerte Menschen zwischen über 10 000 unbestatteten Leichen. Die Baracken mussten wegen der Seuchengefahr niedergebrannt werden. Bis Ende Juni starben 14 000 befreite Menschen an den Folgen der Marter. Die Bilder, die britische Fotografen und Filmteams machten, gingen um die Welt; so wurde der Ort zum Synonym für die Völkermordmaschinerie des Dritten Reichs.

Die Geschichte des Verschweigens begann im Oktober 1946. Die Briten gaben den Deutschen den Auftrag, ein würdiges Gedenken zu ermöglichen. Die Provinzverwaltung ließ daraufhin, gegen den Widerstand der Opfer, sofort Zäune, Wachtürme und das Krematorium abreißen. Und Wilhelm Hübotter ließ fortan zigtausend Ermordete unter Heidegras "ruhen".

"Das Lager", sagt Rolf Keller von der niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung, "wurde völlig zum Verschwinden gebracht." Um es zumindest wieder erkennbar zu machen, wird ab August ein Archäologe eingestellt, der Relikte der Vergangenheit aufspüren soll. Der Arbeit von internationalen Jugendcamps ist es zu verdanken, dass bereits Fundamente von Häftlingsbaracken freigelegt werden konnten. In der jüngst veröffentlichten Auslobung des Landes Niedersachsen für die Neugestaltung heißt es, die jetzige Landschaftskonzeption spiegle "eine mehr als fünfzigjährige Geschichte des Verdrängens und Vergessens". Eine völlige Umgestaltung soll es jedoch schon allein deshalb nicht geben, weil das Heideidyll "Zeugnis des Umgangs mit der Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland" und somit selbst "Kulturdenkmal" sei.

In den ersten Jahren nach dem Krieg fanden in Bergen-Belsen jene, die wissen wollten, kein Wort der Erklärung, erst von 1966 an zeigte eine kleine Ausstellung, dass die Toten Opfer waren und ihre Mörder Deutsche. Es gab jedoch noch immer keine Führungen und keine fortlaufende wissenschaftliche Aufarbeitung der Zeitzeugnisse. Weitere 19 Jahre sollten vergehen, bis das billige Gedenken peinlich wurde: Als im Frühjahr 1985 Ronald Reagan nach Deutschland kam, stand neben dem Soldatenfriedhof in Bitburg die Gedenkstätte Bergen-Belsen auf dem Besucherprogramm. Rolf Wernstedt war damals als SPD-Politiker noch Oppositionsabgeordneter, später wurde er Kultusminister, jetzt ist er Landtagspräsident Niedersachsens. "Unwürdig" sei dieser Ort gewesen, sagt Wernstedt, und als Reagan kam, wurde dies der Welt vor Augen geführt. "Man musste wenigstens sagen, dass wir etwas Größeres vorhaben", sagt Wernstedt, der schon zuvor im CDU-dominierten Parlament eine Aufwertung der Gedenkstätte angemahnt hatte. Der Reagan-Visite folgte ein einstimmiger Beschluss des Landtags, 1990 wurde die jetzige Ausstellung eröffnet. Erst seitdem gibt es Führungen, erst seitdem werden dort Überlebende betreut.

Seitdem werden auch endlich systematisch die Namen der Toten recherchiert. Die SS-Schergen konnten zwar das Lager nicht räumen, sie schafften es aber, die Registratur zu vernichten. Bernd Horstmann arbeitet in Bergen-Belsen an der Fortschreibung des 1995 erstmals erschienenen Gedenkbuchs. Darin stehen die Namen jener Menschen, deren Haft in Bergen-Belsen als belegt gilt. Inzwischen können 40 000 der etwa 120 000 KZ-Gefangenen beim Namen genannt werden. Für die Angehörigen jener, die auf diese Weise Gewissheit über das Schicksal ihrer Verwandten verschafft bekommen, ist "der Eintrag im Gedenkbuch so bedeutsam wie ein Grabstein", sagt Horstmann.

Die Schautafeln der jetzigen Ausstellung konzentrieren sich auf jene Jahre, in denen Juden, politische Gefangene und andere Verfolgte in Bergen-Belsen umgebracht wurden. Geplant ist, von 2005 an stärker als bisher an das Kriegsgefangenenlager zu erinnern. Mehr Beachtung soll auch das DP-Camp finden, das nach dem Krieg in der nahe gelegenen Wehrmachtskaserne eingerichtet wurde. Nach Deutschland Verschleppte, so genannte displaced persons (DP), planten dort bis zum Sommer 1950 ihr Leben nach dem Überleben. Das jüdische DP-Camp in Bergen-Belsen war mit bis zu 12 000 Bewohnern das größte in Deutschland.

Ausgerechnet jetzt, da die Gedenkstättenarbeit an Fahrt gewinnt, sieht sich die SPD-geführte Landesregierung zum Sparen gezwungen. Das Kultusministerium will die Stelle des pädagogischen Leiters nicht mehr besetzen. Lehrer sollen stattdessen weniger unterrichten, um Führungen übernehmen zu können. Ex-Kultusminister Rolf Wernstedt wird sich damit nicht abfinden. Für ihn ist klar: "Das geht nicht, das ist Unsinn." Die rot-grüne Koalition hat die Arbeit in "Gedenkstätten von überregionaler Bedeutung" forciert. In diesem Jahr stellt der Bund für Projekte in Bergen-Belsen über eine Million Euro zur Verfügung. Wissenschaftler werden damit bezahlt, die in Israel, den USA und Großbritannien nach Überlebenden und Angehörigen suchen. Interviews werden aufgezeichnet, Tagebücher und andere Dokumente gesichtet. Jeden Tag bearbeitet Bernd Horstmann mindestens eine Anfrage, ein Wettlauf gegen die Zeit: "Die Zahl der Überlebenden, die sich melden, stagniert."

Frankfurter Rundschau, 10.7.2002

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