"Verhärtung" Israels

Predigt am 10. Sonntag nach Trinitatis über Römer 11,25-32

von Hans Maaß

Liebe Gemeinde,

die Schwierigkeit, über diese Worte des Apostels Paulus zu predigen, beginnt bereits mit der Wahl der Übersetzung. Denn alle Übersetzungen, die ich herangezogen habe, sind tendenziös. Entweder sind sie von einer versteckten, ihnen selbst wohl nicht bewussten Judenfeindlichkeit geleitet und sprechen von "Verstocktheit", oder sie übersetzen das entsprechende Wort zwar korrekt mit "Verhärtung", sprechen dann aber nicht mehr wie Paulus von der "Gesamtheit der Völker", sondern schränken ein: "die Gott berufen hat", weil ihnen Paulus wohl zu weitherzig ist und sie ihn korrigieren zu müssen meinen. Ich habe Ihnen deshalb eine eigene Übersetzung vorgelesen - nicht weil ich meine, dass ich besser Griechisch kann als andere, sondern weil ich Ihnen die Worte des Apostels möglichst unvoreingenommen wiedergeben wollte:

Ich will euch nicht in Unkenntnis über dieses Geheimnis lassen, damit ihr nicht auf euch selbst eingebildet seid:

Verhärtung ist Israel zu Teilen geschehen, bis die Gesamtheit der Völker eingegangen ist. Und so wird ganz Israel gerettet aufgrund dessen, dass geschrieben steht:

Kommen wird aus Zion der Retter
abwenden wird er von Jakob Auflehnung gegen Gott.
Und dies der Bund von mir aus,
wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.
Nach dem Evangelium zwar sind sie Feinde wegen euch,
nach der Erwählung aber Geliebte wegen der Väter.
Unabänderlich sind nämlich die Gnadengaben und die Berufung Gottes.
Denn wie ihr einst Gott ungehorsam wart, jetzt aber auf ihren Ungehorsam hin Erbarmen gefunden habt,
so sind sie jetzt ungehorsam auf euer Erbarmen hin, damit auch sie Erbarmen finden.
Denn Gott hat alle in Ungehorsam zusammengeschlossen, damit er sich über alle erbarme.

Dabei muss man sagen, Paulus ist zu einem Teil selbst schuld an diesem Umgang mit seinen Worten; denn er macht etwas, was man eigentlich nicht tun sollte: Er schreibt über Dritte: über Israel. Streng genommen begeht er diesen Fehler zwar nicht; denn er ist ja selbst Israelit. Aber seine Leser sind keine Israeliten, sondern aus der Völkerwelt - seine damaligen sowohl als auch wir heute! Und in unseren Ohren werden seine Worte automatisch zu Aussagen über andere, über Gottes Handeln mit anderen. Und da gilt, was ein bedeutender Theologe des 20. Jh. einmal gesagt hat: Wir sollten nie über Gott reden, sondern immer nur von Gott, und zwar so, dass es immer zugleich Aussagen über Gott und uns sind, also keine objektiven Lehren über Gott, sondern persönliche Bekenntnisse zu Gott!

Wenn Paulus über Israel spricht beachtet er diese Vorsichtsregel; denn er gehört zu Israel. Und was er über Gott und Israel sagt, ist ein Bekenntnis zu Gott und seinem unaufgebbaren Verhältnis zu Israel: Unabänderlich sind nämlich Gottes Gnadengaben und Berufung. Dies ist seine felsenfeste Gewissheit in bezug auf Israel. Und es ist eigentlich eine Schande, dass die Christenheit dieses Vertrauensbekenntnis zu Gottes Treue jahrhundertelang nur auf sich bezogen und Israel abgesprochen hat. Erst seit etwas mehr als 20 Jahren ist in den Kirchen vom ungekündigten Bund Gottes mit Israel die Rede. Unsere badische Landeskirche hat nach dem Rheinland als eine der ersten deutschen Kirchen in einer Synodalerklärung von 1984 darauf verwiesen und im vergangenen Jahr das Bekenntnis zur "bleibenden Erwählung Israels" sogar in ihre Grundordnung aufgenommen - ungefähr 1950 Jahre, nachdem Paulus seinen Römerbrief geschrieben hat. So lange dauert es mitunter, bis sich biblische Erkenntnisse in der Kirche durchsetzen: 1950 Jahre!

Paulus, der Israelit, der Rabbinenschüler, der sich zunächst dagegen gewehrt hatte, dass die Botschaft von der Rettung der Menschen vor dem gerechten Zorngericht Gottes auch für Angehörige der Völkerwelt gelten sollte, er wusste, wovon er sprach, wenn er von der Verhärtung Israels schrieb. Nicht von der Verstockung! Verstockung klingt zu endgültig, zu böswillig. Nein, Paulus wusste aus eigener Vergangenheit: Sie bleiben hart, konsequent, ihrer Grundüberzeugung treu: Gottes Gnadengaben und Berufung sind zwar unabänderlich; aber sie gelten nur dem Gottesvolk. Menschen aus der Völkerwelt konnten darauf nur hoffen, wenn sie dem Gottesvolk beitraten, das Joch der Tora auf sich nahmen. Und dazu waren nur wenige bereit. So dachte auch Paulus bis zu jenem Zeitpunkt, als er seine Christusvision hatte und nun wusste: Wer glaubt, dass der auferweckte Jesus als Weltrichter wiederkommen und die Seinen retten werde, der wird ebenfalls dem Zorngericht Gottes entrinnen. Jetzt wurde aus dem Verfolger der Verkündiger des Evangeliums für die Völkerwelt. Er hatte die Seiten gewechselt!

Nie hätte er - wie ich in einigen Übersetzungen gefunden habe - sagen können, diejenigen Israeliten, die noch immer so dachten wie er früher, die "Hardliner", die hart blieben, seien Feinde Gottes. Nein, sie sind Feinde dieses Evangeliums für die Völkerwelt. Aber sie bleiben selbstverständlich Geliebte Gottes wegen der Väter. Dies betont er ausdrücklich, weil es wohl auch damals schon hochmütige Christen gab, die Israel für von Gott verworfen hielten.

Wegen der Väter. Immer wieder wird in der Bibel auf die Erwählung Abrahams, Isaaks und Jakobs Bezug genommen. Die Verheißungen, die sie empfangen haben, sind der Grund für Israels Hoffnung. Darauf vertraut das Volk, damit begründen die Propheten Gottes Heilszusagen, sogar dem kranken König Hiskia, der einmal seine Bitte um Heilung mit dem Hinweis auf seine Gottestreue und seine politische Bedeutung begründete, wird gesagt, um der Väter des Volkes willen habe Gott seine Bitte erhört. Und selbst Jesus begründet seine Einkehr bei dem Oberzöllner Zachäus damit, dass dieser ein Sohn Abrahams ist, und die Heilung einer verkrüppelten Frau damit, dass sie eine Tochter Abrahams ist. Und dennoch bleibt dieses Angebot Gottes nicht auf die Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs, Saras, Rebekkas, Leas und Rachels beschränkt.

Es geht um die Gesamtheit der Völker. Das war für manchen treuen, braven Angehörigen des Volkes Israel hart, sehr hart - und er verhärtete sich gegen dieses Evangelium, gegen diese Aufhebung der klaren Grenze zwischen Heilsvolk und Heidenvölkern. Aber er ist deshalb nicht abgeschrieben: Unabänderlich sind Gottes Gnadengaben und Berufung. Oder wie es ein andermal heißt: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig. Und das heißt, dem bleibe ich auch gnädig. Das ist Gottes Geheimnis, über Paulus seine Leserinnen und Leser in Rom, seine Gesprächspartner aus der Völkerwelt informiert, damit sie nicht ihrer eigenen Logik folgen und zu falschen Schlüssen kommen, etwa dem Schluss: Gott hat sein Volk verworfen, seine Treu aufgekündigt oder von Bedingungen abhängig gemacht.

Einer dieser Trugschlüsse, dem die Christenheit immer wieder erlag, war etwa die fatale Abänderung eines Satzes aus unserem Predigttext, als ob da stünde: "Am Ende, wenn alle Heidenvölker zum Glauben an Jesus Christus gekommen sind, wird auch ganz Israel an Jesus glauben." Das wollte einfach nicht in die christlichen Köpfe, dass jemand ohne Glauben an Jesus Christus gerettet werden könnte. Und dies ist nicht etwa eine Interpretation aus längst vergangenen Zeiten, nein, sie wird bis heute von vielen vertreten. Dabei steht hier ganz eindeutig: Ganz Israel wird gerettet, nicht: ganz Israel wird bekehrt. Wenn einst Juden den Fehler begingen, die Völkermission des Paulus als einen Verstoß gegen den Willen Gottes anzusehen, weil sie meinten, nur Angehörige des Volkes Israel könnten gerettet werden, dann dürfen wir jetzt nicht den umgekehrten Fehler begehen und meinen, nur Christusgläubige werden gerettet. Dies wäre dieselbe Verhärtung, nur mit umgekehrten Vorzeichen! Und Paulus müsste darüber urteilen: "Verhärtung ist mit den Christen zu großen Teilen geschehen." Diese Verhärtung, nur die Angehörigen der eigenen Gruppe für Gerettete und Heilsanwärter zu halten, bekämpft er und bezeichnet es als Ungehorsam gegen Gott, weil sie nicht mit der Barmherzigkeit Gottes rechnet, sondern nur mit normgerechtem Verhalten: Und dabei ist es egal, ob die Norm lautet: "Nur ein Jude kann Gott gefallen und mit seinem Erbarmen rechnen", oder: "Nur ein Christ kann ..." Jede dieser Einschränkungen ist "Einbildung auf uns selbst", Einschränkung der freien Gnade Gottes und damit Ungehorsam. Dies liegt in unserer menschlichen Natur. So kommt Paulus zu dem abschließenden Urteil, das beide in gleicher Weise trifft: "Gott hat alle in Ungehorsam zusammgeschlossen, damit er sich über alle erbarme."

Denn nicht der Gehorsam rettet, sondern Gottes Erbarmen. So ist es z. B. ein uraltes, unerschütterliches Bekenntnis Israels: Ganz Israel hat Anteil an der kommenden Welt. Wir wissen nicht, ob dieser Grundsatz z. Zt. des Paulus schon so formuliert war. Bekannt war er dem Sinn nach jedenfalls; dies zeigt der Satz des Paulus: Ganz Israel wird gerettet. - Genau so bedingungslos wie in jenem Satz aus dem Talmud.

Und Paulus sieht in diesem geheimnisvollen Zusammenhang einen Sinn: Gottes Heilshandeln zielt auf zwei Gesamtheiten, die Gesamtheit der Völker und ganz Israel, also die gesamte Menschheit, kein Teil ohne den anderen.

Dann wird auch die Auflehnung eines Teils Israels gegen Gott zu Ende sein, wenn die Erlösung der Völker an ihr Ziel gekommen ist. Gott selbst wird die Verfehlung Israels wegnehmen, wie er schon durch seinen Propheten angekündigt hat. Er selbst ist dieser Retter, der für alle aus Zion kommt - oder, wie es in der hebräischen Bibel heißt: für Zion.

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