Unterdrückte Wahrheiten

Von einem israelischen Soldaten, der sich weigert, die Waffe gegen Palästinenser zu erheben

von Asaf Oron

Asaf Oron gehört zu den Erstunterzeichnern einer Erklärung israelischer Reservisten, die sich weigern, weiter in den besetzten palästinensischen Gebieten Dienst zu tun. Teilweise sitzen diese Soldaten wegen Wehrdienstverweigerung im Gefängnis. Gegen sie sind inzwischen Anzeigen und Aufrufe in israelischen Medien geschaltet worden. Ein Bürgermeister rief alle Behörden dazu auf, die Verweigerer nicht einzustellen; Unternehmer forderten, dass jeder privater Arbeitgeber sie entlassen müsse. Die Website der Organisation der Verweigerer: www.seruv.org.il   (http://www.seruv.org.il/defaulteng.asp  )

Am 5. Februar 1985 stand ich auf und verließ meine Wohnung, um zur Erfassungsstelle für Wehrpflichtige in der Rashi-Straße in Jerusalem zu gehen; dann verabschiedete ich mich von meinen Eltern, stieg in den schäbigen alten Bus, der uns zur Militärstation brachte, und wurde Soldat.

Genau 17 Jahre später befinde ich mich in direkter Konfrontation mit der Armee - während die breite Öffentlichkeit zusieht, mich beschimpft und verhöhnt. Die Rechten sehen mich als Verräter, der sich nur drücken will vor dem Heiligen Krieg, der für sie um die nächste Ecke lauert. Die Leute der politischen Mitte drohen mir selbstgerecht mit dem Finger und reden von Untergrabung der Demokratie und Politisierung der Armee. Und die Linke? Die gestandene "moderate" Linke des Establishments, die noch bis gestern hinter meiner Stimme her war, wendet sich von mir ab. Alle faseln über Legitimität und Illegitimität und zeigen nichts anderes als das Ausmaß ihrer Ignoranz gegenüber jeglicher politischer Theorie und ihre Unfähigkeit, eine wirkliche Demokratie von einer Dritte-Welt-Demokratie im Stile Perons zu unterscheiden.

Kaum einer fragt mich, was doch auf der Hand liegen müsste, nämlich warum ein ganz normaler Typ eines Morgens aufsteht und mitten aus dem Alltag mit Arbeit und Kindern heraus beschließt, dass er nicht mehr mitspielen will. Und wie es kommt, dass er dabei nicht alleine ist sondern dass 50 . . . Entschuldigung, 100 . . . ach nein, 200 . . . (inzwischen sind es 500 Reservisten in ganz Israel; A. d. Ü.) ganz normale Typen wie er genau dasselbe tun?

Der Generation unserer Eltern entringt sich ein tiefer Seufzer: Ach, wieder haben wir sie blamiert. Dabei ist es am Ende doch eure eigene Schuld, oder? Denn wie habt ihr uns erzogen? Einerseits ging es immer um universelle ethische Werte, allumfassende Gerechtigkeit: Frieden, Freiheit und Gleichheit für alle. Und auf der anderen Seite hieß es: "Die Araber wollen uns ins Meer werfen." "Sie sind schlau und primitiv." "Man kann ihnen nicht trauen."

Einerseits waren da die Songs von John Lennon, Pete Seeger, Bob Dylan, Bob Marley und Pink Floyd, Songs von Frieden und Liebe, gegen Militarismus und Krieg. Auf der anderen Seite gab es die Lieder über die Liebsten, die auf ihrem Panzer in den Sonnenuntergang ritten. "Der Panzer ist dein, und du bist unser." Ich wuchs mit beiden Wertesystemen auf, dem ethischen Code und dem Stammes-Code, - und war naiv genug zu glauben, dass sie koexistieren können.

So war ich, als ich eingezogen wurde. Nicht gerade begeistert, aber doch erfüllt von dem Bewusstsein einer heiligen Mission von Mut und Opferbereitschaft zum Nutzen der Gesellschaft. Aber wenn so ein Neunzehnjähriger findet, dass er statt in einer heiligen Mission im Frevel der Verletzung menschlicher Würde und Freiheit gelandet ist, wagt er nicht, jemanden - gar sich selbst - zu fragen, ob das in Ordnung ist. Er tut, was alle anderen tun, und passt sich an. Schließlich hat er genug Probleme, und das Wochenende ist verdammt weit weg.

Man gewöhnt sich schnell daran, und viele lernen sogar, es zu genießen. Wo kann man sonst schon auf Patrouille gehen - was heißt, wie ein König die Straßen entlangspazieren und so oft es einem Spaß macht Fußgänger schikanieren und demütigen, sich mit den Kumpels derbe Scherze ausdenken - und sich gleichzeitig wie ein großer Held fühlen, der das Vaterland verteidigt? Die Abenteuer in Gaza wurden zu großen Heldenerzählungen, eine Quelle des Stolzes für Giv'ati, einer damals relativ neuen Brigade mit wenig Selbstbewusstsein. Lange Zeit konnte ich mit diesem "Heldentum" nichts anfangen. Aber als ich als Leutnant einmal das Kommando hatte, ist etwas in mir zerbrochen. Ohne nachzudenken wurde ich zum perfekten Vollstrecker der Besatzung. Ich rechnete ab mit "Emporkömmlingen", die nicht den nötigen Respekt zeigten. Ich zerriss die Ausweispapiere eines Mannes, der im Alter meines Vaters war. Ich schlug, schikanierte, wurde zum schlechten Beispiel, und alles das passierte in Kalkilia, kaum drei Meilen entfernt vom ach so netten Heim von Opa und Oma. Nein. Ich war keine "bedauerliche Ausnahme". Ich war die Regel.

Nach meinem Wehrdienst wurde ich entlassen, und dann begann die Erste Intifada (wie viele werden es noch?). Ofer, ein Waffenkamerad, der in Dienst blieb, wurde zum Helden: dem Helden des zweiten Giv'at-Prozesses. Er hatte eine Kompanie unter seinem Kommando, die einen palästinensischen Demonstranten in einen dunklen Olivenhain gezerrt und geschlagen hatte, bis er tot war. Im Urteil wurde bestätigt, dass Ofer das Kommando hatte. Er musste für zwei Monate ins Gefängnis und wurde aus der Armee entlassen; ich glaube, das war das härteste Urteil gegen einen israelischen Soldaten in der gesamten Ersten Intifada, in der etwa tausend Palästinenser zu Tode kamen. Ofers Bataillonskommandeur sagte aus, es gäbe einen Befehl von oben, dass körperliche Misshandlungen als legitime Methode der Bestrafung gelten, wobei er sich selbst ausdrücklich einschloss. Andererseits dementierte der Brigadekommandeur Efi Itam, der mehrmals gesehen wurde, wie er persönlich Palästinenser misshandelte, dass er je einen solchen Befehl gegeben habe, und wurde nie angeklagt. Auf dem Weg in ein neues Leben als Politiker belehrt er uns inzwischen über moralisches Verhalten. (Ganz nebenbei: In der derzeitigen Intifada wird die große Mehrzahl der palästinensischen Tode nicht einmal untersucht. Keiner schert sich darum.)

Schließlich wurde ich wieder Zivilist. Mir fiel das Buch "Der gelbe Wind" des israelischen Schriftstellers David Grossman über das Leben in den besetzten Gebieten in die Hände, das gerade herauskam. Ich las es, und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Endlich begriff ich, was ich dort getan hatte, was ich dort gewesen war.

Langsam sah ich, dass sie mich betrogen hatten: Sie hatten mich in dem Glauben erzogen, dass irgendjemand da oben für alles sorgt. Jemand, der all das Zeugs kennt, das für mich simplen Typen zu hoch ist. Und dass selbst dann, wenn Politiker uns enttäuschen, die höheren Ränge der Armee immer wachsam bleiben, Tag und Nacht; dass sie auf unsere Sicherheit aufpassen und dass jede einzelne ihrer Entscheidungen das Ergebnis heiliger Notwendigkeit ist. Ja, sie haben uns, die Soldaten der Intifada, betrogen, genau wie sie die Generation betrogen haben, die im Jom-Kippur-Krieg zu Brei geschlagen wurde, und wie die Generation, die während der Invasion im Libanon tief im libanesischen Sumpf versank. Und die Generation unserer Eltern sagt immer noch nichts.

Schließlich fand ich mich als freiwilliger Helfer in einem kleinen, voll gequalmten Büro in Ostjerusalem ein, suchte Schriftstücke über Tode, Brutalität, bürokratische Gemeinheiten oder einfach nur alltägliche Schikanen. Mein Gefühl war, dass ich hier immerhin ein bisschen für mein Verhalten bei der Giv'ati-Brigade büßte. Aber es war auch ein Gefühl, als ob ich mit einem Teelöffel das Meer ausschöpfen soll.

Aus heiterem Himmel wurde ich dann das erste Mal als Reservist für den Dienst in den besetzten Gebieten einberufen. Geradezu hysterisch rief ich meinen Kompaniekommandeur an. Er beruhigte mich: Wir würden an einer Außenstelle stationiert, von der aus man den Jordan überblicken könne. Kontakt mit der Bevölkerung sei unwahrscheinlich. Und so war es dann auch - aber einige meiner Freunde waren für den Sicherungsdienst an der Damia-Brücke (hier überqueren Palästinenser die Grenze zwischen Jordanien und Israel; A. d. Ü.) eingeteilt. Es waren die Tage unmittelbar vor dem Golf-Krieg, und palästinensische Flüchtlinge strömten in großer Zahl aus Kuwait in die besetzten Gebiete (vom Regen in die Traufe). Die Reservisten - meist eher politisch rechts orientiert - zuckten zusammen beim Anblick weiblicher Wehrpflichtiger, die gut gelaunt Stofftiere und Babykleidung zerfetzten, um sicherzustellen, dass sie keinen Sprengstoff enthielten. Auch ich zuckte zusammen, wenn ich ihre Geschichten hörte, aber ich war auch optimistisch: Reservisten sind eben doch Menschen, egal welcher politischen Richtung sie anhängen. Drei Jahre später, als ich drei Wochen mit einem gefeierten Spähtrupp in den beschlagnahmten Ruinen einer Villa im äußeren Abasans (wer nicht weiß, wo das ist, hat selbst schuld) verbrachte, war es vorbei mit meinem Optimismus. Hier wurde mir klar, dass derselbe menschlich reagierende Reservist auch ein ekliger, erbärmlicher Macho werden und auf die Stufe seiner Zeit als junger Wehrpflichtiger regredieren konnte. Auch nur ein einziges Mal mit diesen Typen auf Patrouille zu sein, reichte mir vollkommen. Ich ging zu dem Offizier, der den Dienstplan machte, und bat darum, ausschließlich zum Wachdienst eingeteilt zu werden. Dienstplaner mögen so Leute wie mich, denn die meisten Soldaten ertragen das Basiscamp nur wenige Stunden am Tag.

Weil ich aus erster Hand und jahrelanger Erfahrung genau wusste, was da drüben vor sich ging und wie die Wirklichkeit aussah, hatte ich vom ersten Tag der Zweiten Intifada an keinerlei Schwierigkeiten, die Verschleierungen des Krieges und den Vorhang aus Lügen zu durchschauen, und wusste, was da drüben passiert. Jahrelang hatte sich das Militär mit Sprüchen gefüttert wie "Wir waren in der ,ersten' Intifada zu freundlich", oder "Hätten wir in den ersten Tagen bloß 100 getötet, dann wäre alles anders gekommen." Jetzt wurde den Militärs erlaubt vorzugehen, wie sie es für richtig hielten. Ich wusste genau, dass Ehud Barak der Armee freie Hand gegeben hatte und dass Shaul Mofaz (derzeitiger Oberkommandierender) alles tat, um das Blutvergießen zu maximieren.

Inzwischen hatte ich zwei kleine Kinder, zwei Jungen, und wusste aus Erfahrung, dass es keinen Mensch gab - nicht einen einzigen auf der ganzen Welt -, der dafür sorgen könnte, dass sie, sobald sie 18 sind, nicht in den besetzten Gebieten eingesetzt werden. Das heißt: Es gab keinen Menschen - außer mir selbst. Und keiner außer mir wird ihnen, wenn sie groß sind, ins Gesicht sehen und ihnen sagen müssen, wo ihr Papa war, als alles das passierte. Mir war klar: Dieses Mal würde ich nicht mehr gehen.

Ursprünglich war es eine ganz stille Entscheidung, etwas verlegen, etwa nach dem Motto: "Ich bin eben ein bisschen komisch, kann eben nicht mehr dahin gehen und darüber auch nicht viel sagen." Aber je mehr Zeit verging und der Wahnsinn, Hass und die Hetze wuchsen und die Generäle die IDF (israelische Armee; A. d. Ü.) zu einer Terrororganisation machten, wurde daraus ein Protestschrei: "Wenn ihr nicht seht, dass dies ein einziges großes Verbrechen ist, das uns an den Rand der Vernichtung bringt, dann seid ihr nicht mehr bei Verstand!" Und dann entdeckte ich, dass ich nicht alleine war. Es war, als ob man Leben auf einem anderen Planeten entdeckt.

Übrigens verstehen wir ganz gut, warum alle so böse auf uns sind. Wir haben die kleine, saubere Ordnung der Dinge durcheinander gebracht. Der heilige Status quo ist, dass die Rechte das exklusive Recht auf Fragen über Leben und Tod hat und nach Blut schreien darf. Die Rolle der Linken ist, Wein trinkend im Sessel zu sitzen und zu jammern, auf den Messias zu warten, der mit einem einzigen Wink seines Zauberstabs die Rechte verschwinden lässt, und die Siedler, Araber, das Wetter und den ganzen Nahen Osten noch dazu. So soll die Welt funktionieren. Warum also macht ihr so einen Aufstand? Was habt ihr bloß? Böse Buben!

Seht ihr wirklich nicht, was wir tun und warum wir aus der Reihe getanzt sind? Begreift ihr den Unterschied nicht zwischen einer stillen, privaten Verweigerung und einer organisierten, öffentlichen? (Und dass da kein Irrtum entsteht: Die private Verweigerung ist der einfachere Weg.) Ihr versteht es wirklich nicht? Lasst es mich ganz deutlich sagen.

Erstens erklären wir, dass wir uns dem ersten Wertesystem verpflichtet fühlen, demjenigen, das schwer greifbar, abstrakt und wenig gewinnbringend ist. Wir glauben an den moralischen Code, den man gewöhnlich Gott nennt (und meine atheistischen Freunde, die diesen Brief unterschrieben haben, müssen mir da verzeihen - wir glauben alle an Gott, den wirklichen, nicht den der Rabbiner und Ayatollahs). Wir glauben, dass ein Stammescodex keinen Platz hat, dass er einfach nur einen Götzendienst tarnen soll, und zwar einen, mit dem man nichts zu tun haben sollten. Wer solchem Götzendienst zur Macht verhilft, wird am Ende selbst zum Brandopfer.

Zweitens ist es ein Versuch, für den wir uns (zusammen mit anderen Gruppen, die noch mehr verachtet und schikaniert werden als wir) mit unserer konkreten, leiblichen Existenz einsetzen, den nächsten Krieg zu verhindern. Den unnötigsten, idiotischsten, brutalsten und unmoralischsten Krieg in der Geschichte Israels.

Wir sind der junge Chinese, der sich dem Panzer in den Weg gestellt hat. Und du? Wenn du nirgends zu sehen bist, sitzt du vermutlich selbst im Panzer und weist den Fahrer an.

Frankfurter Rundschau, 28.8.2002

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