Propaganda für den Tod

von Inge Günther

Der Märtyrer-Kult grassiert wie ein ansteckendes Fieber im Nahen Osten. Nach blutiger Tat wartet auf den Selbstmord-Attentäter das Paradies. Allah und 72 Jungfrauen sollen den jungen Palästinenser für die Morde im Namen des Propheten belohnen. Übrig bleiben die Helden-Mütter - sie weinen, schweigen oder triumphieren.

Ihren jüngsten Sohn hat Halima Saleh Assin zuletzt am frischen Grab seines Vetters gesehen. Er war nicht weg zu bewegen von dem Friedhof am Rande des palästinensischen Flüchtlingslagers Balata. Vorher hatte er im Krankenhaus von Nablus ausgeharrt - vor dem Kühlraum, wo die von einem israelischen Panzergeschoss zerfetzte Leiche seines älteren Cousins Mahmoud Atini - ein toter Held der örtlichen Al-Aksa-Brigaden - bis zur Bestattung aufbewahrt worden war. Vergebens redete die Mutter ihrem Jüngsten zu, mit nach Hause zu gehen und wieder etwas zu essen. Der 17-jährige Dschihad kam nicht. Drei Tage lang blieb er verschwunden. Drei Tage, in denen Halima Saleh Assin vor Sorgen verging, ob ihm etwas zugestoßen sein könnte. "Ich hatte Angst", erinnert sie sich, "dass er an seiner Trauer sterben könnte." Dann standen plötzlich ein paar Männer von den Al-Aksa-Brigaden vor der Tür. "Sagritii !!!", forderten sie. "Wir haben gute Nachrichten für dich, sagritii - stimm' den Freudentriller an." Tausend Gedanken rasten ihr durch den Kopf. Aber die Männer rückten erst mit der Sprache raus, als sie tatsächlich wie verlangt ihrer Zunge ein spitzes Tremolo entlockte, mit dem nach traditioneller Sitte arabische Frauen Festtagsgesänge anstimmen. "Sei stolz, dein Sohn ist ein Schahid geworden, ein Märtyrer", sagte einer von ihnen. Salima wurde schwarz vor Augen. Im Grunde geht bis heute über ihre Vorstellungskraft, was wirklich passiert ist: Ihr 17-Jähriger schnallte sich am 27. Mai einen mit Nägeln gespickten Bombengürtel um den Leib und sprengte sich vor einem Eiscafe in Petach Tikva in die Luft. Dass ihr Lieblingssohn Dschihad eine israelische Großmutter und deren Enkelkind mit in den Tod riss, dazu über 50 andere unschuldige Passanten verletzte, davon mag die 53-jährige Salima bis heute nichts hören. Sie klammert sich an ihren irrwitzigen Glauben, die Opfer seien allesamt Soldaten und Geheimdienstler im Auftrag Israels gewesen. Doch ihren Jüngsten wähnt sie im Paradies, wo er "als Schahid an der Seite Allahs sitzt". Selbst dieser Trost ist nichts gegen den schmerzhaften Verlust. "Wenn mich die Leute in Balata darauf ansprechen, sag' ich: 'ja, ich bin stolz auf Dschihad'. "Aber mein Herz", sagt Halima und klopft sich auf ihren mächtigen Busen, "fühlt sich an wie ausgebrannt".

Einen Block weiter lebt Aisha Abu Sur in dem Flüchtlingscamp, dessen Gassen bisweilen so eng sind, dass man unwillkürlich die Schultern einzieht, um nicht an die Hausmauern zu stoßen. Die Behausung der Abu Sur ist noch ärmlicher als die ihrer Nachbarn. Zehn Personen teilen sich Wohnzimmer, Küche und zwei Kammern. Bis vor kurzem waren es sogar elf. Doch von Mohannad, dem zweitältesten Sohn, ist der Familie nur ein Poster an der Betonwand geblieben. Es zeigt ihn mit jungenhaftem Strahlelächeln in einem weißen T-Shirt. Ein ganz normaler Teenager, 17 Jahre alt, wären da nicht das Logo von Fatah und Al-Aksa-Brigaden und die Kalaschnikoff, die er in den Händen hält.

So bewaffnet hat sich Mohannad in die jüdische Siedlung Itamar nahe der Westbank-Stadt Nablus geschlichen, das Feuer wahllos eröffnet und drei Jeschiwa-Studenten ermordet. Einen Tag, nachdem sein bester Freund Dschihad sich in Petach Tikva in eine menschliche Bombe verwandelt hatte.

Auch im Falle Mohannads handelte es sich um ein Selbstmordkommando. Seine Absicht, den "Weg der Märtyrer" zu gehen, hatte er in einem Video hinterlassen. Ein Bote hat später der Familie eine Kopie gebracht. Doch von den Al-Aksa-Brigaden ließ sich keiner blicken. "Das sind alles Diebe", erregt sich Aisha Abu Sur (42) und zerknüllt ein weiteres von Tränen durchnässtes Taschentuch zwischen ihren Fingern. "Sie haben mir meinen Sohn genommen und für ihre Zwecke missbraucht. Ich hätte niemals zugelassen, dass er ein Schahid wird, und alles daran gesetzt, ihm das auszureden. "Von Mohannads Attentat hat seine Mutter als Letzte erfahren. Auf der Straße, von Fremden, die es im Radio gehört hatten.

Naima al-Abed hingegen wusste schon fünf Tage zuvor von dem Entschluss ihres Sohnes Mahmoud (23). Er habe eine, wie sie es nennt, "militärische Operation" begehen wollen. Sie, eine überaus selbstsichere Frau aus einem der besseren Slums für die Mittelklasse in Gaza-City, nahm sogar an den Vorbereitungen teil. Mit dem Sohn, dem angehenden Schahid, ist sie zum Versteck der Hamas gefahren, um gemeinsam das Abschiedsvideo aufzunehmen. "Achte darauf, dass du mit jeder Kugel auf den Kopf eines Soldaten zielst", hat sie ihm geraten, als er zu seinem ersten Versuch aufbrach. Dreimal kehrte Mahmoud al-Abed, ein Student islamischen Rechts, unverrichteter Dinge zurück, weil die Armeepatrouillen nicht an dem gelegten Hinterhalt aufkreuzten. Da bat sie ihn, beim nächsten Mal einfach ohne einen letzten Gruß los zu ziehen.

Mit fester Stimme schildert Naima al-Abed (49) den Todestag ihres Sohnes, der so etwas wie der Höhepunkt ihres Lebens wurde. Es war der Morgen des 15. Juni. Spät in der Nacht war Mahmoud heimgekehrt, "in ziemlich schlechter Verfassung", wie sich die Mutter erinnert. "Er hatte sich kaum hingelegt, als sein Handy klingelte. Er stand auf, zog sich an und ging. "Ein paar Stunden danach meldeten die Nachrichten einen palästinensischen Angriff mit Schusswaffen und Handgranaten auf einen Soldatenposten nahe der israelischen Siedlung Dugit im Norden des Gazastreifens. Ihr Gefühl, dass das Mahmoud gewesen sein könnte, wurde zur Gewissheit, als die Hamas-Gesandten anklopften. "Ich konnte es erst kaum glauben, dass er es wirklich zum Märtyrer gebracht hat - vor lauter Angst, er sei vielleicht verletzt oder verhaftet worden."

Die Issedin al-Kassem-Brigaden, der bewaffnete Flügel der Hamas, haben sie für ihre heroische Haltung mit einem Gemälde belohnt. Zu sehen ist Mahmoud mit entschlossenem Blick über seinem schmal rasierten Schnäuzer. Um ihn herum sind ein umzäunter israelischer Wachposten, Sprengsätze, ein lodernder Feuerball und darüber die Jerusalemer Al-Aksa-Moschee arrangiert. "Wenn ich das Bild anschaue", sagt Naima al-Abed, "geht mir das Herz auf." Wisse sie doch ihren Sohn jetzt im Paradies, wo es ihm an nichts mangele, dank der 72 Jungfrauen, die Allah jedem Märtyrer beigeselle. "Mahmoud hat aus tiefster Inbrunst an den Dschihad - den heiligen Krieg - geglaubt." Und seine Mutter tut es noch immer. "Das Land, das die Juden uns mit Gewalt geraubt haben, müssen wir mit Gewalt zurückerobern." Zum Zeichen trägt sie die Stirnbinde der Hamas ums Kopftuch geschlungen, die ihr der Sohn, vor seiner Kamikaze-Tat als Geschenk überlassen hat. "Es gibt keinen Gott außer Allah und Mohammed ist sein Prophet", steht in grüner Schrift darauf.

Mütter wie sie gelten unter Islamisten als Nachfolgerinnen von Hansa, die laut Koran die Kämpfer Mohammeds vor einer Schlacht beschwor: "Denkt daran, dass das ewige Reich besser ist als diese irdische Welt. Die "moderne Hansa" verbreitet diese Botschaft per Video. Bereitwillig schiebt Naima al-Abed die Kassette ein, lässt vor und zurück spulen, um zu jenen entscheidenden Stellen zu gelangen, an denen sie neben ihrem Sohn erscheint, das Gewehr zwischen ihnen. "Das ist einer unserer letzten gemeinsamen Momente", sagt er da, woraufhin sie ihre Teetasse abstellt und sein Antlitz auf dem Bildschirm küsst. Die beiden älteren Töchter, gehüllt in einen schwarzen und einen weißen Schleier - al-Niqab genannt -, der nur die Augenschlitze frei lässt, huschen aus dem Zimmer. Beim Gedanken an den Bruder seien ihnen die Tränen gekommen, sagt die Mutter. Der Vater, ein Lehrer, steht unschlüssig herum. Er ist einen Kopf kleiner als seine Frau und ihr auch sonst so wenig gewachsen wie der Rest der Familie. Nebenan erzählt die zwölfjährige Sabriin, was sie einmal werden möchte: eine Mutter von vielen Kindern, "die als gute Moslems kämpfen".

Die palästinensische Gesellschaft hat eine Kultur entwickelt, wird später der Intellektuelle Salah Abdel Schafi sagen, "die den Tod glorifiziert". Er gehört zu den Erstunterzeichnern eines öffentlichen Aufrufs gegen Selbstmordattentate in Israel, weil sie nationalen Interessen nur schadeten. Doch im Sumpf aus Armut und Verzweiflung, Hass auf die israelischen Besatzer, Aussichtslosigkeit des Diesseits und religiös verbrämter Todessehnsucht haben die Stimmen der Vernunft nur wenig Boden gewonnen.

Wie ein ansteckendes Fieber grassiert hingegen der Märtyrerkult, dessen sich die militanten Organisationen bedienen. Der direkten Antwort auf die Frage, ob er seinen eigenen Sohn zu einem Kamikaze-Unternehmen schicken würde, weicht Ismael Abu Schanab, Vordenker der islamistischen Hamas in Gaza-City, zwar aus. Wenn der erst mal 18 sei, könne er selbst entscheiden. Aber Schahid zu werden, sei nun mal die höchste Ehre eines Moslems. Und 160 Kilometer weiter nördlich, in der Ibad al-Raham Moschee von Balata, dem größten Flüchtlingscamp der Westbank, predigt der blinde Scheich Mohammed Bakhid, wenn mehr Märtyrer produziert würden, sei am Ende der Sieg gewiss. "Da wir keine Panzer haben, sind sie unsere effektivste Verteidigung."

Eine mörderische Waffe, selbstzerstörerisch dazu. Die Fassaden in Balata wie in fast allen palästinensischen Lagern sind mit den Plakaten toter Kämpfer und Attentäter zugekleistert. Mindestens sieben, acht Freunde von Mohannad seien schon vor ihm den Weg des Schahid gegangen, berichtet Aisha Abu Sur. Sie hatte geglaubt, ihr Sohn sei davor gefeit, weil die Al-Aksa-Brigaden doch Rücksicht darauf nehmen müssten, dass er der einzige Ernährer in der Familie war. Warum funktionierte auch diese Hemmschwelle nicht? Hoffte er auf die Dollars aus Irak oder Saudi Arabien, die den Angehörigen als eine Art Kriegsrente für den Verlust ihres Verwandten ausgezahlt würden? Nein, erwidert die Mutter. Ihr hat auch keiner einen Schekel an Unterstützung angeboten, weder die Autonomiebehörden noch die Kampfbrigaden. "Ich glaube, Mohannad wollte nur noch Vergeltung." Rache für seine toten Freunde. Für Dschihad. Und Dschihad wollte Rache für seinen toten Cousin.

Frankfurter Rundschau, 27.7.2002

zur Titelseite

zum Seitenanfang


Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau
Pfr. U.Schwemer, Theodor-Storm Str.10, 64646 Heppenheim;
Tel: 06252-71270 / Fax: 06252-72606