Der Weg zum Selbstmord-Bomber

Eine Studie hat das Phänomen der Selbstmordattentate in Nahost untersucht

von Inge Günther

Eine Studie der Universität Tel Aviv hat das Phänomen der Selbstmordattentate in Nahost untersucht. Demnach sind die Anschläge weder mit dem Hinweis auf suizidgefährdete Täter noch mit dem radikalen Islam hinreichend zu erklären. Entscheidend sind der Gruppendruck und die persönliche Verpflichtung der Freiwilligen gegenüber den Al-Aksa- oder Hamas-Brigaden. Seit Beginn der zweiten Intifada am 29. September 2000 sind durch palästinensische Attentate mehr als 360 Zivilisten ums Leben gekommen. Fast alle waren Israelis, das jüngste Opfer ein Neugeborenes, das älteste eine Greisin von 90 Jahren. Die meisten Schussangriffe - so geht aus einem Report von amnesty international (ai) hervor - geschahen in Westbank und Gaza, den von Israel 1967 besetzten Gebieten. Die verheerendsten Resultate erzielten jedoch Selbstmordbomber, die sich - bis auf wenige Ausnahmen - im israelischen Kernland in die Luft sprengten. Ob Hamas, Dschihad oder Al-Aksa-Brigaden, sie alle haben sich dieser perfiden Taktik, einer Kombination von Selbsttötung und Massenmord, bedient. Aus ihrer Sicht ist dies die effektivste Waffe, gegen die sogar israelische Panzer machtlos sind. Aber weder mit dem Verweis auf über 1500 Palästinenser, die in dieser Intifada zu Tode kamen, noch auf ein Widerstandsrecht gegen die Besatzung lassen sich nach internationalen Konventionen Terrorakte legitimieren. Laut amnesty machen sich palästinensische Organisationen, die zielgerichtet eine Zivilbevölkerung attackieren, eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit schuldig - die von dem internationalen Strafgerichtshof geahndet werden müssten.

"Die Missachtung aller Regeln" zeichne den eskalierten Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern aus, konstatiert Liz Hodgkin, die Nahostbeauftragte von ai. Hierzu zählt auch, dass die Regierung Ariel Scharon mit internationalem Recht ebenfalls unvereinbare Kollektivstrafen wie die Zerstörung der Häuser von Attentäterfamilien praktiziert und zwecks weiterer Abschreckung einzelne Verwandte nach Gaza deportieren will.

Dabei sind die Selbstmordbomber nur letztes Glied in einer verhängnisvollen Kette. In einer Studie fanden Israels Militärs und Geheimdienstler heraus, dass keiner der Attentäter als Führungsmitglied in den einschlägigen Terrororganisationen fungierte. Das deckt sich mit der Analyse von Ariel Merari, Psychologieprofessor an der Tel Aviver Universität und seit Jahren auf das Phänomen von Selbstmordanschlägen spezialisiert. Seine Erkenntnis: Der radikale Islam allein taugt nicht als hinreichendes Erklärungsmuster. Die Selbstmordbomber lassen sich auch nicht mit dem Hinweis auf arme Psychopathen oder klassische Suizidkandidaten erklären. "Der eigentliche Schlüssel ist der Gruppendruck", hat Merari in seiner Untersuchung von über 50 Täterprofilen entdeckt.

Freiwillige Rekruten finden sich zwar in palästinensischen Flüchtlingslagern zuhauf. Aber ihren Einsatzbefehl erhalten sie von den Kommandanten bewaffneter Einheiten. Merari ist kein Fall bekannt, in dem sich Selbstmordbomber ohne Zutun Dritter den Sprenggürtel umgeschnallt hätten. Viele Stunden der Indoktrination investieren etwa die Issedin al-Kassem-Brigaden der Hamas in die Schahid-Anwärter, denen glorreiche Vorbilder und ausgewählte Koranzitate an die Hand gegeben werden. Anschließend wird der Kandidat meist in Zellen von drei oder vier Personen "betreut". Die sorgen dafür, dass er nicht in letzter Minute abspringt. Das "wichtigste Element" ist nach der Einschätzung von Professor Merari jedoch die persönliche Verpflichtung gegenüber der Organisation. Die wird formell in einem Video mit starrem Setting dokumentiert: Vor aufgepflanzten Waffen, palästinensischer Flagge und dem Bild der Al-Aksa-Moschee bekennt der Kandidat, der nächste Schahid zu sein. "Damit erhält er den Status eines toten Helden, noch bevor er den Anschlag begangen hat", sagt der Psychologie-Professor. So wie für einen "Walking Dead", einen zum Tode Verurteilten in amerikanischen Gefängnissen, der Vollstreckungstermin unerbittlich näher rückt, gibt es von da an für den Selbstmordattentäter kaum ein Zurück.

Frankfurter Rundschau, 27.7.2002

zur Titelseite

zum Seitenanfang


Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau
Pfr. U.Schwemer, Theodor-Storm Str.10, 64646 Heppenheim;
Tel: 06252-71270 / Fax: 06252-72606