Predigt zum Jubiläum "25 Jahre Konferenz landeskirchlicher Arbeitskreise Christen und Juden" in der Annenkirche in Dahlem am 19.01.2003 Text: Römer 12, 9 - 16

von Propst Dr. Karl-Heinrich Lütcke

Ein schöner Text mir vielen schönen Worten. Wir können sie gebrauchen - gerade weil wir wissen, wie sehr wir hinter dem schönen Bild von Gemeinde zurückbleiben, das diese Sätze malen. Sie laden ein, ja sie locken zu einem erneuerten Leben. Manche Teile mag man zunächst als Allerweltssätze verstehen, die auch als goldene Worte in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt werden, ohne Rücksicht freilich auf das, was sonst noch darum herum in diesen Zeitungen steht. Um diesen Worten auf den Grund zu kommen, ist es allerdings nötig, sie in dem Zusammenhang zu sehen, in dem sie in der Bibel stehen.
1. Wie lebt eine Gemeinde, die Römer 9 - 11 gehört hat?
Wie lebt eine Gemeinde, die gehört hat und in ihr Herz aufgenommen hat, was Paulus im Römerbrief in den Kapiteln 9 -11 geschrieben hat? Wie lebt eine Gemeinde, die weiß: sie ist ein Ast am Stamm Israels, dessen Wurzeln in Gottes Liebe, in Gottes erwählendem Handeln gründen? Denn das ist der Zusammenhang, in dem dieses 12. Kapitel des Römerbriefes steht. Man sieht ja manchmal den Römerbrief so: Zuerst steht in den Kapiteln 1 - 11 eine dicke Dogmatik, nicht leicht zu verstehen, und nun kommt vom 12. Kapitel an das Konkrete, die Ethik. Nein, für die Gemeinde in Rom und auch für uns gehört das zusammen. Wir können, wenn wir über Ethik reden, also über das konkrete Leben einer christlichen Gemeinde, nicht davon absehen, was zuvor über unsere Verwurzelung im Volk Gottes, Israel, gesagt ist und über die bleibende Erwählung Israels. Ein Beispiel für diese Verschränkung: Im 11. Kapitel heißt es: "So rühme dich nicht gegenüber den Zweigen. Rühmst du dich aber, so sollst du wissen, dass nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel trägt dich." Und in unserem Text heißt es: "Haltet euch nicht selbst für klug."

Um die Erneuerung unseres Denkens und Handelns geht es im 12. Kapitel des Römerbriefs. Und diese Erneuerung wächst aus dem Eingepflanztsein in das Volk der Verheißung. In Christus sind wir nicht mehr fremd dem Bund Gottes mit Israel, nicht mehr ohne Hoffnung in der Welt. Durch ihn haben wir Anteil an seinen Gaben: Tora, Gottesdienst, Verheißung. In Christus sind wir herausgerufen und herausgeholt aus dem Vertun des Lebens in Geschwätz und Tändelei, in Spaß- und Erlebnisgesellschaft, hineingeholt in die Verheißungswelt des Volkes Gottes, in seine Weisungen für ein sinnvolles Leben. Das 12. Kapitel des Römerbriefs und auch dieser Predigtabschnitt beschreiben, wie Menschen leben, die aus einem gottfernen (Paulus sagt: heidnischen) Leben herausgeholt und hineingeholt werden in den Bund Gottes mit seinem Volk, in den Kraftbereich der Liebe Gottes und seiner Weisungen. Die vielen schönen Sätze dieser Mahnungen und Weisungen hängen alle mit dieser Wurzel zusammen. Sie entfalten in vielfältige Richtung, was Jesus uns Christen weitergegeben hat als Kern der Weisungen Gottes: Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst. Ja, sie sind auf ihre Weise, ähnlich wie Korinther 13, ein Hohes Lied der Liebe. Sie sind ein bunter Strauß von Früchten eines in Christus erneuerten Geistes. Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur.

Zuvor stehen die bekannten Sätze von der Vielfalt der Gaben, der "Charismen", die der Gemeinde gegeben sind. Auch die "Tugenden" in unserem Text sind Charismen, also Gaben des Geistes, sozusagen Alltagscharismen - freilich nicht alltägliche Alltagscharismen. Z. B. Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft - Sätze gegen die wachsende Entsolidarisierung in unserer Gesellschaft. Oder: Freut euch mit den Fröhlichen, weint mit den Weinenden - Sätze für eine Kultur des Anteilnehmens im Gegensatz zu dem täglichen Begaffen von Fleisch, Leid und Lustigkeit in den verschiedenen Medien, einem Begaffen, das in der Form des Zappens zwischen Kanälen deutlich wird: zappen, bis es in unseren Seelen zappenduster wird. Oder: Segnet und flucht nicht - Menschen aufbauen, nicht heruntermachen; vom erfahrenen Segen abgeben, statt ihn für sich behalten. Freilich dürfen wir gerade in diesem Zusammenhang von Römer 9 - 11 nicht vergessen, wie diese Mahnung in unserer Geschichte in ihr Gegenteil verkehrt worden ist. Paulus sagt: Segnet, die euch verfolgen. In unserer Geschichte ist daraus geworden: Wir haben die verfolgt, die uns segnen, nämlich die Juden, durch die wir Zugang zu dem Segen Abrahams bekommen haben. Und wegen dieser schlimmen Verirrung in unserer Geschichte ist die Aufgabe, die Ihr Euch in den landeskirchlichen Arbeitskreisen Christen und Juden vorgenommen habt, so wichtig.
2. Einer komme der anderen mit Ehrerbietung zuvor - danke für den Dialog
"Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden", so heißt es zwei Verse später im Anschluss an unseren Text. Beim Gespräch von uns Christen mit den Jüdinnen und Juden geht es nicht nur darum, Frieden zu halten, sondern mehr noch: Es geht um die Aufgabe, einen radikal zerstörten Frieden zu heilen. Mühsamer, geduldiger Neuaufbau von Beziehung und Frieden. Das hat unsere Kirche als ihre Aufgabe gesehen und in den Kundgebungen der EKD-Synode von 1950 und 2000 auch zum Ausdruck gebracht. Aber es ist immer zweierlei: eine Aufgabe erkennen - und: eine Aufgabe anpacken. Nicht träge, sondern brennend im Geist, beharrlich im Handeln und beharrlich im Gebet. Und das ist die Leistung derer gewesen, die sich hier besonders engagiert haben. Dazu gehören, man muss es erwähnen, wenn man auf dieser Kanzel steht, Helmut Gollwitzer, Gerhard Bauer und Friedrich-Wilhelm Marquardt; dazu gehört die Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag, und dazu gehören eben auch die landeskirchlichen Arbeitskreise. Ich weiß, das war nicht immer spannungsfrei etwa auch im Gegenüber zu Kirchenleitungen, Fakultäten oder theologischen Ausschüssen. Aber das muss es auch nicht sein. Denn in der Erkenntnis der Wahrheit kommt man nur im Streit um die Wahrheit voran. Ein gut ausgetragener Konflikt ist Konsens im Werden. Schleiermacher hat das so gesagt: "Wenn Streit ist in der Kirche, ist gemeinschaftliche Lehre im Werden." Das kann man gerade bei diesem Thema verfolgen: Die neuen Bestimmungen in den Kirchenverfassungen über das Verhältnis zu den Juden als dem Volk Gottes sind Beispiele für den zum Lehrkonsens gewordenen Streit. Deswegen ist auch aus kirchenleitender Sicht denen, die diesen Streit vorangetrieben haben, also auch Ihnen, zu danken. In besonderer Weise ist denen zu danken, die sich auf jüdischer Seite auf diesen Versuch eines Neuanfangs im Dialog eingelassen haben. Shalom Ben Chorin hat 1967 geschrieben: "Dieses (jüdisch-christliche) Gespräch hat die Aufgabe, Fremdheit, Misstrauen und Hass zwischen Juden und Christen abzubauen. Das kann nicht geschehen durch illusionäre Vorstellungen, die man sich voneinander macht. Das kann nur geschehen durch klare Erkenntnis der beiden Positionen - in ihren unendlichen Variationen. Dazu ist es nötig, dass man den Wurzelgrund des anderen kennt." Und Shalom Ben Chorin beschreibt seine eigene Erfahrung und seinen Wunsch so: "Hier hat sich ein Jude bemüht, den Wurzelgrund des Christentums, das Evangelium, kennen zu lernen und ist dabei auf ein kostbares Stück eigenen Ackers gestoßen. Möchte doch der Christ, der hinabsteigt zu den Quellen des Judentums, in ihnen die lebendigen Wasser erkennen, aus denen Jesus von Nazareth geschöpft hat."

Diese Frucht solchen Bemühens haben Sie gewiss erfahren. In anderer Weise Frucht dieses Bemühens ist die Erklärung Dabru Emet (Redet Wahrheit), in der namhafte jüdische Hochschullehrer aus den USA und Kanada sich zu den Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Juden und Christen äußern. Für die, die den Text noch nicht kennen, zitiere ich als Beispiel einen kleinen Abschnitt: "Dieser Unterschied (zwischen Christen und Juden) kann nicht dadurch aufgehoben werden, dass eine Gemeinschaft darauf besteht, die Schrift genauer ausgelegt zu haben als die andere, noch dadurch, dass sie politische Macht ausübt über die anderen. Juden können die Loyalität von Christen ihrer Offenbarung gegenüber achten - genauso wie wir von Christen die Achtung unserer Loyalität gegenüber unserer Offenbarung erwarten. Weder Jude noch Christ soll dazu gedrängt werden, die Lehre der jeweils anderen Gemeinschaft zu übernehmen." Die Erklärung "Dabru Emet" ist für uns ein wichtiges Zeichen - auch wenn wir uns klarmachen müssen, dass sie auf jüdischer Seite durchaus umstritten ist. Sie sollte auch nicht so verstanden werden, dass Christen sie sich nun stolz an die Brust heften nach dem Motto: Alles in Ordnung. Ziel des Dialogs erreicht; sondern sie sollte uns Christen herausfordern zu weiterem Bemühen im Sinn der Paulus-Mahnung aus unserem Text: "Einer komme dem anderen in Ehrerbietung zuvor." Übersetzt in das Synodendeutsch heißt das: "Das Gespräch über den Glauben schließt die Achtung vor der Identität des anderen ein" (Kundgebung der EKD im Jahre 2000). Das ist ein Satz, der sich nicht direkt, aber indirekt gegen alle neu aufgekommenen Tendenzen zur Judenmission wendet.
3. Das Böse und das biblische Menschenbild
Ehrerbietung, Achtung der Würde eines Menschen - das sind die Formen des Umgangs, die wir auch in vielen anderen Zusammenhängen heute dringend brauchen: in Familien und im Kollegenkreise genauso wie in beruflichen Zusammenhängen (Lehrer und Schüler, Chef und Mitarbeiter) oder im öffentlichen Leben, wo es so viel menschenverachtende Praxis gibt - im Bloßstellen von Menschen, im Schnüffeln im ganz Privaten.

Aber auch für die großen politischen Fragen ist das wichtig: Achtung und Ehrerbietung. Dass manche sehr problematische Ausdrucksform islamischen Selbstbewusstseins auch Folge vielfältiger Missachtungserfahrungen ist, scheint deutlich. Deswegen ist, will man den clash of civilizations, den Zusammenprall der Kulturen vermeiden, auch hier der intensive und achtsame Dialog gefordert. Und wie gefährlich und brisant die Situation ist, das spüren wir an jener in Deutschland und jetzt auch hier in Berlin auftauchenden unheiligen und unseligen Allianz von rechtsradikalen Antisemiten und radikalen israelfeindlichen Islamisten. Das gibt eine, im doppelten Sinne des Wortes, explosive Mischung. Und hier ist äußerster Widerstand und äußerste Wachsamkeit angesagt. Denn hier wird in einem Atemzug das Existenzrecht des Staates Israel und das Leben der Juden in Deutschland angegriffen. Hier komme ich auch an eine Verstehensgrenze im Blick auf den Satz: Segnet und flucht nicht. Wie kann ich diesen Tendenzen und diesen Menschen so begegnen, dass ich sie als Menschen achte und zugleich aufs Schärfste ihrer Ideologie und ihren Handlungen widerstehe. Es ist ja immer gefährlich, die Welt in Gute und Böse aufzuteilen. Deswegen haben wir zu beachten: Paulus sagt: Hasst das Böse, hängt dem Guten an (nicht: Hasst die Bösen). Diese eindeutige Distanz zum Bösen ist keineswegs identisch mit der Verteufelung der Bösen. Sie verlieren durch ihre Taten nicht ihre Menschlichkeit, nicht einmal ihre Ehre. Wir spüren derzeit mit großer Sorge, wie das Reden vom Bösen, das der amerikanische Präsident pflegt, gefährliche Folgen zeigt.

Unsere Synode hat gestern die Gemeinden aufgefordert, im Gebet für den Frieden nicht nachzulassen und sich an gewaltfreien Protesten gegen den drohend am Horizont stehenden Krieg gegen den Irak zu beteiligen. Dabei hat sie durchaus die Gefahr gesehen, die das Regime im Irak für die Nachbarn und auch für den Irak selber bedeutet. So ein Krieg würde noch mehr Elend und unzählige Tote zur Folge haben und vor allem auch die Situation im Nahen Osten noch weiter destabilisieren.

Aber zurück zu Paulus und seiner Mahnung zu zuvorkommender Ehrerbietung. Die nicht alltäglichen Alltagscharismen, von denen er spricht, haben mit dem biblischen Menschenbild zu tun. Da ist der Mensch nicht so schwarzweiß gesehen, wie ihn etwa die Medien oft sehen: Superstar oder Versager, Held oder Schurke (oder Schurkenstaat). Sondern da ist der Mensch gesehen als Geschöpf Gottes: vergänglich, anfällig für das Böse, oft scheiternd in seinen guten Absichten, zerbrechlich und ängstlich, aber zum Glauben fähig und zur Hoffnung. Geschöpf Gottes, von Gott geliebt und mit Gaben ausgestattet, sich selber nach Liebe sehnend und so zur Liebe fähig. Solchen Menschen gelten Sätze wie dieser: "Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet." Lasst mich diesen Satz mit etwas anderen Worten auch an Euch weitergeben - Euch aus der Dahlemer Gemeinde, Euch aus den landeskirchlichen Arbeitskreisen Christen und Juden: Haltet die Hoffnung und Zuversicht fest, dass sich lohnt, was Ihr tut; und bleibt bei allen Schwierigkeiten fröhlich; bewahrt den langen Atem, wo es Widerstände und Schwierigkeiten gibt; und betet für Eure Arbeit in dem Wissen, dass Ihr das Gelingen nicht in der Hand habt.

zur Titelseite

zum Seitenanfang


Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau
Pfr. U.Schwemer, Theodor-Storm Str.10, 64646 Heppenheim;
Tel: 06252-71270 / Fax: 06252-72606