Der 27. Januar beginnt am 9. November

Novemberpogrom und Befreiung von Auschwitz - die politische Bedeutung zweier Gedenktage im Vergleich

von Harald Schmid

"Was und wie wir erinnern, und was wir darin als Anspruch gelten lassen, das wird mit entscheiden über das, was aus uns wird."

Karl Jaspers, 1945

Politische Gedenktage sind sowohl politische Symbole als auch Gegenstand symbolischer Politik: ein Ausdruck der Bedeutung eines bestimmten Geschichtsbewusstseins ebenso wie ein Handlungsfeld für aktualisierende historische Rückgriffe. Welche Ereignisse zum gesellschaftlich relevanten Gedenktag werden, wie sie von welchen Akteuren inszeniert werden, welche Inhalte und Deutungen dabei im Vordergrund stehen - diese Fragen vermögen Aufschluss zu geben über eine wichtige Dimension politischer Kultur. Denn Gedenktage im öffentlichen Raum sind stets mehr als bloßes Erinnern, geht es dabei doch auch um die Bildung und Vermittlung der historischen Dimension kollektiver Selbstverständnisse im Prozess der Vergegenwärtigung von Vergangenheit.

Die Aufgabe der Wissenschaft ist es hier, diesen Akteuren genauer auf die Finger und auf den Mund zu sehen, um zu erkennen, wie im Gewand der Totentrauer Vergangenheitsdeutungen durchgesetzt, ein öffentliches Gedächtnis geprägt und anschließend Teil des Legitimitätsfundus werden - kurz gesagt, welche geschichtspolitischen Funktionen Gedenkritus und -diskurs zukommen.

"Als die Synagogen brannten", "Befreiung von Auschwitz" - diese Deutungsstereotype der beiden Ereignisse stehen für zwei in ihrer Genese höchst unterschiedliche Gedenktage. Der Vergleich der beiden Gedenktage 9./10. November 1938 und 27. Januar 1945 mit dem gemeinsamen Bezugsfeld der nationalsozialistischen Verbrechensgeschichte fragt nach der jeweiligen Etablierung und Praxis sowie den Diskursen.

Etablierung

Der Aufstieg der öffentlichen Erinnerung an das Novemberpogrom von der Peripherie ins Zentrum der Geschichtskultur war nicht das Ergebnis einer formellen Institutionalisierung: Weder ein Staatsvertrag (3. Oktober), weder ein Gesetz (17. Juni) noch eine Proklamation (27. Januar) stützen den Jahrestag. Statt dessen setzte sich der 9. November durch eine habituelle Institutionalisierung, durch das kontinuierliche Handeln interessierter Organisationen und Einzelner in der politischen Kultur fest. So wuchs dem Datum in der alten Bundesrepublik in einem längeren Prozess die Funktion eines informellen Shoah-Gedenktages zu, als "Synonym einer denkbar dunklen Geschichte" (Peter Steinbach), getragen sowohl von staatsnahen als auch staatsfernen Gruppen und Personen.

Waren es in den ersten Nachkriegsjahren überwiegend die kleinen jüdischen Gemeinden und Verfolgtenorganisationen wie die VVN, die an die Pogrome erinnerten, setzte mit der Formierung einer spezifisch westdeutschen Geschichtskultur auch eine Verbreiterung der politischen Basis des Gedenkens ein. Verschiedene Organisationen begriffen die öffentliche Auseinandersetzung mit der Last des "Dritten Reiches" als Aufgabe. So beispielsweise die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, die Ende der vierziger Jahre auf Anstoß der US-Besatzungsmacht entstanden waren. Die VVN und die vielerorts gegründeten lokalen Dependancen der "Gesellschaften" tauschten gewissermaßen die Rollen: Parallel zum politischen Abstieg der VVN im Zuge ihrer juristischen Ausgrenzung als kommunistisch dominierte Organisation verlief der Aufstieg der "Gesellschaften" zum zeitweilig einflussreichen geschichtspolitischen Akteur. Dies veränderte auch die 9.-November-Erinnerung. Der Geschichtsdiskurs der "Gesellschaften" war theologisch eingefärbt, einer Politisierung und aktivem Konfliktaustrag abgeneigt sowie unübersehbar staatsnah - im Gegensatz zur VVN, die areligiös, hochpolitisch und staatskritisch auftrat.

Zu den wichtigsten Elementen des Novembergedenkens der fünfziger Jahre zählen die seit 1953 jährlich praktizierten Zeremonien der DGB-Jugend im ehemaligen Konzentrationslager in Dachau, die damit zu den ältesten, kontinuierlich begangenen Gedenkveranstaltungen gehört. Politisch am bedeutsamsten wurde rasch Westberlin, wo die jüdische Gemeinde gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft der Verfolgtenorganisationen an jedem 9. November einen Gedenkakt mit Politprominenz veranstaltete. Die eigentliche Etablierung des 9. November vollzog sich mit den Jahrestagen von 1958 und 1963. In diesen Jahren begann eine umfangreiche öffentliche Thematisierung der NS-Vergangenheit, die sich zu einer regelrechten Aufklärungskampagne auswuchs. Zu den Verschiebungen des öffentlichen Blickwinkels gehörte auch die gesteigerte Aufmerksamkeit für Juden und jüdische Gemeinden in der Bundesrepublik - eine Zeit, "in der der ,jüdische Mitbürger' entdeckt wurde" (Konrad Kwiet).

So war der 9. November im Jahre 1958 erstmals nicht nur ein herausragendes öffentliches Ereignis, auch die Staatsspitze der Bundesrepublik war nun Gedenktagsakteur: Bundeskanzler Konrad Adenauer und Bundespräsident Theodor Heuss meldeten sich mit jeweils eigenen Erklärungen zu Wort, ebenso der Zentralrat der Juden in Deutschland. Publizistisch war der Jahrestag von überregionalem Interesse, wurde gewissermaßen Seite-eins-fähig, die Berichte wurden umfangreicher, und die Zahl der Radiosendungen schnellte nach oben. Am 25. Jahrestag von 1963 konsolidierte sich diese Entwicklung. In vielen Kommunen gehörte der 9. November seither zum festen Bestandteil des politischen Kalenders. Die öffentliche Vergegenwärtigung der jüdischen Leidensgeschichte an deren symbolisch herausragendem Datum besaß nun einen legitimen Ort.

Ganz anders verlief die Etablierung des 27. Januar. Erst mit dem 50. Jahrestag von 1995 löste das Datum eine größere gesellschaftliche Resonanz aus - im politisch aufgeladenen Kontext des "Gedenkmarathons" (Allgemeine Jüdische Wochenzeitung) von 1995, als die 50. Jahrestage der letzten Monate von Krieg und Verfolgung nur so wie reife Früchte vom Baum der Geschichtskultur fielen.

Die Initiative für einen neuen Gedenktag ergriff der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, der seit dem November 1994 mehrfach vorschlug, einen nationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus einzuführen. Geeignet hierzu sei das "europäische Datum" des 27. Januar, nicht aber das "deutsche Datum" des 9. November, das er wegen seiner historischen Vielschichtigkeit kategorisch ablehnte.

Mit dem politischen Rückenwind der Gedenkveranstaltungen des Jahres 1995 fand sein Vorstoß überparteiliche Zustimmung. Im "diskreten Schnellkonsens" (Der Tagesspiegel) einigten sich die Bundestagsfraktionen im Juni 1995 auf den 27. Januar 1945, und zwar als nationalen Gedenktag ohne - so Bundeskanzler Helmut Kohls Bedingung - den Status eines arbeitsfreien Feiertags. Am 3. Januar 1996 proklamierte Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar zum "Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus", wie seine etwas umständliche, aber wohlüberlegte offizielle Bezeichnung lautet, woraus schnell die missverständliche, weil oft auf die Juden begrenzte Kurzform "Holocaust-Gedenktag" entstand. Nicht die Erinnerung an das mörderische Novemberpogrom, an den gescheiterten militärischen Aufstandsversuch vom 20. Juli 1944 oder an die bedingungslose Kapitulation des 8. Mai 1945, sondern die Erinnerung an die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen nimmt damit den in der Geschichte der Bundesrepublik höchsten formalen Status eines politischen, auf den Nationalsozialismus bezogenen Gedenktages ein.

Vereinzelte kritische Stimmen meldeten sich erst im Zuge der präsidialen Proklamation: Das Datum des 27. Januar 1945 sei aus historisch-politischen Gründen falsch gewählt, die formale Gewichtung des Gedenktages unzureichend und die Entscheidung ohne gesellschaftliche Diskussion erfolgt. Erst jetzt fiel in manchen Redaktionen auf, es sei doch "seltsam, wie lautlos dieser Gedenktag eingeführt worden ist" (Hannoversche Allgemeine Zeitung). Vor allem die Spannung zwischen Proklamation und offener Bedeutung und Praxis prägte manchen Kommentar: Einstweilen sei dies ein Gedenktag "auf Bewährung" (Herder-Korrespondenz).

So ist die Etablierungsgeschichte des 27. Januar insgesamt ein Fallbeispiel für etatistische Geschichtspolitik, blieb doch die Bedingung, die Bubis mit seinem Vorschlag verbunden hatte, der Anstoß zur Einführung des Gedenktages müsse aus der Gesellschaft kommen, unerfüllt. Einer der wenigen, die dieses Manko kritisierten, war Ralph Giordano: Es sei zwar "gut, wenn auch spät", dass der Bundespräsident den 27. Januar zum nationalen Gedenktag erklärte. "Besser allerdings noch wäre es gewesen", so Giordano weiter, "wenn der Tag durch Druck von unten, durch ein erkennbar kollektives Bedürfnis nach ihm, zu Stande gekommen wäre, und zwar viel früher schon. Das ist nicht der Fall, und davon wird sein Charakter auch mitbestimmt werden."

Praxis

Die Umstände der erstmaligen feierlichen Inszenierung des nun formell institutionalisierten Datums gerieten zu einem peinlichen Vorgang, der die Skeptiker in ihren Vorbehalten zu bestätigen schien. Bundespräsident Herzog wollte in der zentralen Veranstaltung selbst die Gedenkrede halten, konnte aber eine schon länger geplante Visite in Afrika nicht verlegen. Auch der Umstand, dass der 27. Januar auf einen Sonnabend fiel und somit eine Sondersitzung des Bundestags in der folgenden, eigentlich sitzungsfreien Woche erfordert hätte, stand aus Sicht der politischen Akteure einem kalendergerechten Gedenken im Wege. Kurzerhand wurde der soeben erst proklamierte Gedenktag um acht Tage vorgezogen, so dass die Zeremonie der Volksvertreter nun schon am 19. Januar 1996 stattfand, einem Freitag, an dem der Bundestag ohnehin zusammenkam.

"Premiere (. . .) missglückt" (Kölner Stadt-Anzeiger), lautete in symbolpolitischer Hinsicht ein häufiges Urteil in den Kommentarspalten der Republik. So wenig sich die Öffentlichkeit zuvor an einer Diskussion um die Einführung des Gedenktages interessiert gezeigt hatte, so sehr waren nun viele verblüfft, wie gleich zu Beginn der neuen Gedenktagspraxis mit dem Datum umgesprungen wurde. Doch kaum jemand bemerkte die historischen Implikationen der vorgezogenen Zeremonie. Wären die Befreier, so Georgia Tornow in der Berliner Zeitung, tatsächlich schon am 19. Januar 1945 gekommen: "Wie viele mehr hätten dann überleben können!"

In der bisher zu beobachtenden Praxis des 27. Januar dominieren die etablierten Institutionen und Organisationen: Parlamente, Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Schulen bilden das Rückgrat des Gedenkens, verstärkt vom einigermaßen kontinuierlichen Begleitprogramm der Massenmedien. Schon im zweiten Jahr, 1997, wunderte sich Der Tagesspiegel: "Nach dem verlegenen Begängnis im Vorjahr schießen diesmal Konferenzen, Besinnungs- und Benefizstunden nur so aus dem Boden." Diese Tendenz hat sich stabilisiert, so dass inzwischen eine breite Palette von Aktivitäten rund um den 27. Januar organisiert wird. Die bundesstaatliche Praxis des 27. Januar hat sehr schnell eine ritualisierte Form gefunden. Seit 1996 wird alljährlich ein Gedenkakt im Bundestag zelebriert, bei dem mindestens zwei Reden gehalten, eine vom Parlamentspräsidenten, eine weitere von einem prominenten Gast. Zum festen Bestandteil zählt auch ein mehrtägiges internationales Diskussionsforum mit Jugendlichen. Auf der Ebene der Bundesländer und in vielen Städten ist gleichfalls ein kontinuierliches, oft lokalspezifisch geformtes Gedenken zu erkennen.

Insgesamt ist es jedoch zweifelhaft, ob damit schon das "Take off" eines selbsttragenden Gedenkens erreicht ist. Der Historiker Wolfgang Benz hat deshalb die routinierte Arbeitsteilung des Gedenkens in Frage gestellt und aus Anlass des 27. Januar gefragt: "Müsste nicht, damit der Gedenktag als aller Anliegen glaubwürdig wird, vom ADAC bis zur Kassenärztlichen Vereinigung, von der Industrie- und Handelskammer bis zur Bäckerinnung und zum Bundesverband der Ingenieure und Techniker, jede gesellschaftliche Gruppe sich das Erinnern wenigstens einmal im Jahr zur eigenen Aufgabe machen?" Die berechtigte Frage verweist auf den sekundären Status von Datum und Gedenken im Bewusstsein der Bevölkerungsmehrheit. Einen Einblick in die mitunter traurige Wirklichkeit und Gedankenlosigkeit mancher Bereiche öffentlichen Erinnerns bot der 27. Januar 2002: An diesem Sonntag gab es im ersten Programm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens den ganzen Tag über keine spezielle Sendung zum Gedenktag. Und abends, zur besten Sendezeit, strahlte die ARD - man glaubt es kaum - die dreistündige Karnevalssitzung "Wider den tierischen Ernst" aus. In der Praxis des 9. November dominierte lange Zeit ein im Grunde apolitisches, auf Verinnerlichung bedachtes, bestenfalls verbalkritisches Gedenken: "Kranzniederlegung am Gedenkstein" - eine Formulierung, wie sie häufig in den Quellen auftaucht und das zeremonielle Arrangement vieler Veranstaltungen erfasst. An einer Gedenktafel, oft am früheren Platz der 1938 zerstörten Synagoge, kamen meist regionale Honoratioren zusammen. Beispielsweise in Düsseldorf im November 1952. An der "schlichten Feierstunde", gemeinsam veranstaltet von der jüdischen Gemeinde und der Stadt Düsseldorf, nahmen überwiegend politisch-staatliche Repräsentanten teil, Bevölkerung war kaum gekommen: der Chef der Staatskanzlei, Oberbürgermeister und Oberstadtdirektor, ein Vertreter des Regierungspräsidenten sowie zahlreiche hohe Beamte der Landesregierung waren erschienen, "um durch ihre Anwesenheit zu bekennen, dass auch ihre aufrichtige Anteilnahme jenen beklagenswerten Opfern des dunkelsten Kapitels unserer Geschichte gehört, das sich niemals wiederholen darf", wie es in einem Veranstaltungsbericht hieß.

Während in der Etablierungsphase eine überschaubare Konstellation der Trägerschaft am jeweiligen 9. November aktiv wurde, begannen sich die politische Basis und die Formen des Gedenkens seit dem Ende der siebziger Jahre nachhaltig zu pluralisieren. Der entscheidende Schub erfolgte am 40. Jahrestag von 1978, dem ge-schichtskulturellen Durchbruch des Gedenktages zu einem der wichtigsten, ja populärsten Jahrestage der Bundesrepublik - eine weitgehend übersehene, aber maßgebliche Voraussetzung für die folgenreiche Ausstrahlung des TV-Films "Holocaust" im Januar 1979. Im Vergleich zum 30. Jahrestag von 1968 verfünffachte sich die Zahl der Gedenkakte. Nun machte sich ein politischer Generationenwechsel bemerkbar, erstmals prägten die Jüngeren das öffentliche Erscheinungsbild des Gedenkens. Vier Haupttendenzen, die den Gedenktag bis heute prägen, gaben dem 9. November 1978 eine zuvor kaum denkbare Öffentlichkeitswirkung: die Politisierung, Pädagogisierung, Ästhetisierung und Zentralisierung des Erinnerns. Der zweite große Schub, der 50. Jahrestag von 1988, der im öffentlichen Bewusstsein nur unter der Chiffre "Jenninger-Skandal" abgelegt ist, hat dies mit noch gesteigerter Intensität bestätigt.

Mit der Öffnung der Berliner Mauer just am 9. November 1989 setzte umgehend eine Debatte darüber ein, ob dieses Datum zum neuen Nationalfeiertag erhoben werden solle. Die Entscheidungen gegen den 9. November, für den 3. Oktober und später für den 27. Januar mündeten in die periodisch wieder aufbrechende Kontroverse über deren Sinn, Zweck und Veränderbarkeit - der Runninggag der Geschichtskultur der "Berliner Republik".

Anwendungsdiskurse

Wenn Vergangenheit vergegenwärtigt wird, kommt es zu vielfältigen Brechungen und Instrumentalisierungen. Der Filter heißt Gegenwart. Die Akteure erinnern selektiv und gemäß individueller oder gruppenbezogener Wahrnehmungsmuster und funktionalisieren den historischen Stoff für gegenwärtige Zwecke. Die Spannung zwischen dem historischen Geschehen und der Vergegenwärtigung desselben ist hier konstitutiv. In der Analyse charakteristischer Gedenktagsdiskurse lässt sich so aufzeigen, wie dabei historische Deutung und politische Instrumentalisierung Hand in Hand gehen - hier am Beispiel der "Anwendungsdiskurse".

Das öffentliche Erinnern an das Novemberpogrom ist politisch-soziologisch doppelgesichtig: Einerseits, gewissermaßen die legitimatorische Oberfläche, beteiligen sich immer auch Akteure aus der Mitte des politischen Systems daran. Andererseits, gleichsam das untergründige und aktualisierbare Potenzial des Datums, zeigt die Erinnerungspraxis zumindest in Teilen subversive Aneignungsformen. Begründet sind sie in dem Assoziationsraum, den der 9. November eröffnet: zuvorderst der Umgang mit den Juden, der freilich nur ein Beispiel der grundsätzlichen Haltung zu gesellschaftlichen Minderheiten darstellt.

Der Anwendungsdiskurs, die Übersetzung der Bewältigungs-Parole "Nie wieder!" aus der Perspektive des 9. November in den politischen Alltag, hat es deshalb in gewisser Hinsicht leichter als der des 27. Januar, kann er doch ohne größere abstrakte Vermittlungen solche Ereignisse aufgreifen, die unter die Rubrik "Wehret den Anfängen!" fallen. Also vor allem die unterschiedlichen Fälle sozial, politisch, religiös oder ethnisch ausgegrenzter Gruppen. Seit der spezifischen Politisierung der siebziger Jahre ist dieser instrumentelle Umgang mit dem 9. November zum Begleiter des Gedenktages geworden.

Am deutlichsten, aber nicht zum ersten Mal, konnte dies in der Abwehr der Serie gewalttätiger Übergriffe eines rechtsradikalen Mobs auf Flüchtlinge und Arbeitsmigranten zu Beginn der neunziger Jahre beobachtet werden, als Dutzende Getöteter, eine teilweise aggressiv brodelnde Bevölkerungsstimmung im Verein mit staatlichem Lavieren Geschichtsbilder der Pogrome des Jahres 1938 evozierten und die Novemberjahrestage von 1992 und 1993 mobilisierend und fokussierend wirkten. Eine quasistaatliche Großdemonstration mit 200 000 Teilnehmern, wie sie am 9. November 2000 in Berlin organisiert wurde, nachdem Bundeskanzler Gerhard Schröder den "Aufstand der Anständigen" ausgerufen hatte, lässt dieses systemkritische Potenzial des Gedenktages leicht vergessen.

Abstrakter zeigt sich hingegen der Anwendungsdiskurs des 27. Januar, denn angesichts der zivilisationsgeschichtlichen Dimensionen von Auschwitz ist die Forderung des "Nie wieder!" auf einer viel höheren Schwelle angelegt. Bundespräsident Herzog hat dies freilich 1996 zum Hauptziel des Gedenktages erklärt: Die "entscheidende Aufgabe ist es heute, eine Wiederholung zu verhindern - wo und in welcher Form auch immer."

Hier liegt freilich dann, wenn es wirklich aktuelle Parallelen gibt, ein sowohl paradoxes als auch kritisches Potenzial des Gedenktages: Paradox deshalb, weil die reale Aussicht eines zweiten Auschwitz dem ideologischen Paradigma der Singularität des Großverbrechens entgegensteht, und kritisch, weil aktuelle Fälle, die ins Suchraster der Völkermordprävention geraten, schnell den jeweiligen nationalen Interessen zuwiderlaufen können.

Denn die einfache und im Ernstfall doch so schwierige Frage lautet: Was heißt "Nie wieder!" aus der Perspektive des 27. Januar? Am Umgang mit der Ausbuchstabierung dieser Herausforderung zeigt sich die Ernsthaftigkeit nicht bloß des Gedenkens. Die bisherige Erfahrung stimmt jedoch eher deprimierend - das die Weltgesellschaft beschämende Beispiel Ruanda markiert in dieser Hinsicht ein Menetekel.

Der 27. 1. beginnt am 9. 11.

Der funktional doppelgesichtige 9. November ist infolge einer jahrzehntelangen, breiten zivilgesellschaftlichen Praxis ein zur Tradition geronnener untrennbarer Bestandteil der hiesigen politischen Kultur. Doch auch der von der politischen Klasse verordnete 27. Januar hat schnell die Züge eines attraktiven kalendarischen Erinnerungsortes angenommen. Die geschichtspolitische Spannung, ja Konkurrenz zwischen beiden Gedenktagen wirft die Frage des Umgangs mit dieser Situation auf.

Politische Anstrengungen, den so vielschichtigen wie bedeutsamen 9. November zum nationalen Gedenktag formal aufzuwerten, halte ich angesichts der verbreiteten Kritik an der neu justierten deutschen Gedenktagslandschaft zwar nicht für völlig aussichtslos. Doch solange die hierzu erforderliche politische Mehrheit noch aussteht, scheint mir ein anderer Ansatz sinnvoller. Beispielsweise das aus der Kritik am verordneten Gedenktag 27. Januar entstandene Konzept, das die Geschichtswerkstatt Göttingen 1996 initiierte und seither alljährlich mit einer Reihe weiterer Organisationen umsetzt. Um den Opfergedenktag in den historischen Kontext der Tätergesellschaft zu stellen, wird ein Veranstaltungsreigen organisiert, der zwar unter dem Label "Gedenktag 27. Januar" firmiert, tatsächlich aber von tätergeschichtlichen Daten eingerahmt wird: beginnend jeweils am 9. November und fortgesetzt bis zum Jahrestag von Hitlers "Machtergreifung" am 30. Januar.

Ein Mitarbeiter der Geschichtswerkstatt hat dies auf die prägnante Formel gebracht: "Der 27. Januar beginnt am 9. November."

aus: Frankfurter Rundschau, 27. 01. 2003

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