Volkszorn in der Jüdenstraße

Antisemitische Pöbeleien bei einer Straßenumbenennung in Berlin-Spandau führen zu einem Eklat. Die Geschichte einer Eskalation

von Tom Schimmeck

Auf den ersten Blick ist die Jüdenstraße in der Altstadt von Spandau eine Straße wie viele andere. Durchschnittliche Berliner Mietshäuser, nicht elend, nicht pompös, Kleinbetriebe, Kneipen, ein paar Geschäfte: Bioladen, Reinigung, zwei Friseursalons, ein Hundesalon, ein Sexshop.

In dieser friedlichen Umgebung, am Westrand der Hauptstadt, soll sich am Vormittag des 1. November Ungeheuerliches zugetragen haben. Alexander Brenner, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, war an jenem Morgen nach Spandau gekommen, um der Umbenennung einer Straße beizuwohnen, die von 1938 bis zu diesem Tage Kinkelstraße hieß und nun, wie Jahrhunderte zuvor, wieder Jüdenstraße heißen soll. »Aus der Zuhörermenge heraus«, berichtete anderentags die Berliner Zeitung, »wurde Brenner mit Parolen wie ›Juden raus‹ oder ›Ihr Juden seid an allem schuld‹ beschimpft.« Brenner erinnert sich noch heute ganz genau an »Juden, Juden«-Rufe: »Ganz deutlich hörte ich eine Frau schreien. Ich blickte in zustimmende, hassverzerrte Gesichter. Ein Teil der Menge stimmte ein. Bei der Lautstärke war es unmöglich, weiter zu sprechen. Ich musste meine Rede abbrechen.« Berlin ist entsetzt. Zeigt sich hier, keine 14 Kilometer Luftlinie vom ehemaligen Führerbunker entfernt, wieder der braune Mob? Wenige Tage vor jenem 9. November, an dem, im Jahre 1938, die Nazis mit klirrenden Scheiben, prügelnden Horden und brennenden Synagogen ihre »Reichskristallnacht« begingen, den Auftakt zur Ermordung von Millionen Juden. Man nehme den Vorfall »sehr ernst«, erklärt die Berliner Justizsenatorin Karin Schubert, wolle ihn »umfassend aufklären«. Der Staatsschutz ermittelt.

9. November 2002, Ecke Jüdenstraße, Moritzstraße, Versuch einer Rekonstruktion: Die Szenerie muss recht überschaubar gewesen sein an jenem Vormittag. Nur knapp 40 Menschen befanden sich an der verkehrsberuhigten Straßenecke vor dem Lokal Bürgerstuben - der Gastgeber Karl-Heinz Bannasch, FDP-Fraktionsvorsitzender von Spandau, sein Gast Alexander Brenner und dessen Geleitschutz vom Landeskriminalamt, Polizisten von der örtlichen Wache, etwa zehn Journalisten, neugierige Passanten, darunter einige Schüler, und eine Schar Anwohner, zumeist Mitglieder der Bürgeraktion Kinkelstraße. Sie alle standen dicht beieinander. Doch ihre Wahrnehmung war Welten voneinander entfernt.

Jetzt steht der FDP-Mann Bannasch wieder im nasskalten Wind an dieser Ecke. Unter dem neuen, letzte Woche montierten Straßenschild hängt, rot durchgestrichen, noch das alte. Der Mann ist erregt, seine Sätze sprudeln nur so. Das Bezirksamt wollte keine Feierlichkeiten, sagt er. Also habe er die Initiative ergriffen und den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde eingeladen. Die Kritiker von der Bürgeraktion hatte er nicht informiert, »weil wir die Sache nicht eskalieren lassen wollten«.

Bannasch hat einst ein Geschichtsstudium abgebrochen, war später Polizist. Jetzt macht er »nur noch Politik«, als »Chefredner«, wie er sagt. Die Rückbenennung der Jüdenstraße ist sein Herzensanliegen, füllt drei dicke Leitz-Ordner. »Jüdisches Leben war seit dem 13. Jahrhundert ein bedeutender Teil Spandaus«, sagt Bannasch. Der Streit um die Straßenumbenennung war ihm zäh, aber notwendig. 1987 wurde sie von der Bezirksverordnetenversammlung verworfen, 1994 beschlossen, 1996 wieder verworfen und jetzt erneut beschlossen. Auf Initiative seiner FDP. »Wir sind drangeblieben«, sagt er stolz.

Bei jener kleinen Feier am 1. November wollte er seiner Freude Ausdruck verleihen, sagt Bannasch, aber »dies kam bei den Anwohnern wie Hohn an«. Ihm sei »wüstes und unverschämtes Gebrüll« entgegengebrandet, sein Gast Brenner »angepöbelt« worden. Mindestens einmal habe er den Ruf »Juden raus!« gehört. Eine Frau, die direkt vor ihm stand, habe gebrüllt, die Juden seien »gottlos«, hätten »Jesus Christus ans Kreuz genagelt«. Da habe Alexander Brenner seine Ansprache abgebrochen. Sie seien aber gemeinsam noch durch die Jüdenstraße gelaufen, »um deutlich zu machen: Wir weichen dem Mob hier nicht.«

Am Abend des 9. November gedenkt Berlins Jüdische Gemeinde der Pogromnacht von 1938. Bitter bemerkt ihr Vorsitzender in den Gemeinderäumen, dass »der Ungeist des Antisemitismus schon wieder sein hässliches Haupt erhebt«. Er schlägt den Bogen von Möllemann bis Spandau. Dort hat er den »Ausbruch eines offenen, gehässigen, sich nicht mehr versteckenden Antisemitismus« erlebt. Und es war nicht »die kahl rasierte Dummheit«, setzt Alexander Brenner hinzu, »sondern es waren die ganz normalen Bürger«.

Die Jüdenstraße auf und ab. Die ganz normalen Bürger aus der ehemaligen Kinkelstraße zeigen Verblüffung, Zorn, Bestürzung. Sie alle stehen unter Verdacht. »Viele sind tief betroffen«, sagt Siegfried Schmidt, Wortführer der Bürgeraktion Kinkelstraße, »keiner will, dass ein Repräsentant der Jüdischen Gemeinde zu Berlin beschimpft wird.« Der Erdkundelehrer, Vorsitzender des Gemeindekirchenrates, empfängt im Gemeindehaus. Er habe am Morgen des 1. November keine bösen Worte vernommen. »Da war ein Maulen wie bei einer Klasse, die nicht mit auf den Wandertag will.«

Kein Mob, nirgends? Der geballte Unmut, versichern sie unisono, habe auf den FDP-Mann Bannasch gezielt, der sich doch nur profilieren wolle. Als der sprach, seien Kommentare gefallen wie »Is' ja doll« und »Was soll denn das jetzt?«, sagt Schmidt. Dann hob Alexander Brenner an zu reden. Noch immer habe Unruhe geherrscht. Seine Stimme sei sehr leise, kaum zu verstehen gewesen. Und plötzlich lauter, als er sagte, die Anwohner stellten sich »in eine Reihe mit Neonazis«. Da wurde Empörung laut.

Keiner will an diesem Morgen antisemitische Parolen gerufen oder gehört haben. Der Bistro-Inhaber Kühl sagt, er habe nichts vernommen; auch der Tierarzt Wöhrl nicht. »Allgemeines Gemurmel, aber keine derartigen Sprüche«, berichtet die Kirchensekretärin Schöning. »Da war nichts«, brummt der Buchbinder Horst Zeman. »Da war null«, beteuert der Coiffeur Zimmermann und legt die Schere zur Seite. Er habe ein Schild hochgehalten: »Kinkelstraße ja, Jüdenstraße nein«, wollte »dem Bannasch« klar machen, »dass er sich über alles hinwegsetzt«. Aber der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde habe die Rufe wohl »auf sich bezogen«. Als der dann die Umstehenden »als Rechtsradikale bezeichnete«, habe es Pfiffe gegeben. »Das war auch nicht fair von ihm«, findet der Friseur.

Eine Straße, ein Stadtteil sorgt sich um den Ruf, spürt den Drang, sich zu erklären. Die Buchhalterin Sigrid Meyer, Mitgründerin der Bürgeraktion, schüttelt fassungslos den Kopf. »All die Jahre« habe die Initiative Antisemitismus »herausgehalten«, sagt sie. »Und jetzt stehen wir in einer Reihe mit den Attentätern von Rostock-Lichtenhagen.«

Drei Mitglieder der Bürgeraktion haben Strafanzeige gestellt, damit »den Vorwürfen strafrechtlich nachgegangen wird«. Allein im Sexshop herrscht Desinteresse »Ick arbeete nur hier«, sagt der genervte Verkäufer, »mich jeht dat nüscht an.«

Geschichte ist überall. In der Woche nach dem Eklat kommt die Kripo in die Jüdenstraße. Die Akte ist noch dünn. Die anwesenden Beamten hatten nichts Auffälliges gehört, die Journalisten waren sich uneins. »Es war kein tobender Mob«, meint Rainer W. During, für den Berliner Tagesspiegel vor Ort, nur eine Frau, die direkt vor Herrn Brenner stand, und die habe er nicht genau verstehen können. Genau die, sagt sein Kollege von der Berliner Zeitung, habe die inkriminierten Sätze gesagt. Beschreibung:

beigefarbener Mantel, kastanienbraune Haare, osteuropäischer Akzent. Auch eine Radioreporterin vom SFB sah die zeternde Frau. Aber auf ihrem Band fand sich nicht Verwertbares. Eine Tatverdächtige, berichtet SPD-Innensenator Ehrhart Körting am Anfang dieser Woche, sei ermittelt worden. Man werde alles daransetzen, den beschämenden Vorfall aufzuklären.

Ist vor Ort Scham spürbar, weil man einem Repräsentanten der Jüdischen Gemeinde so feindselig gegenübertrat - gleichgültig, ob es nun Murren oder offene Pöbelei war? Es hat nicht den Anschein. Die Anwohner fühlen sich verkannt. Aber verkennen sie so nicht die Sensibilität des Themas? Sie hätten ihre Position stets zu vermitteln versucht, sagen sie. Noch im September schrieb die Bürgeraktion einen um Verständnis werbenden Brief an die Jüdische Gemeinde, in dem er »großen Respekt« vor all jenen bezeugte, die sich »für die Rückbenennung eingesetzt haben und einsetzen«.

Woher aber rührt ihre strikte Ablehnung des Namens Jüdenstraße? Da kommt allerlei Simples zutage: die liebe Gewohnheit, die Bürokratie, der Aufwand (»Neue Visitenkarten, wat dat kostet«). Manche outen sich als Fans des Freiheitskämpfers Kinkel. Der Plan, die Straße nach Gottfried Kinkel, einem Freiheitskämpfer von 1848 zu benennen, so Lokalhistoriker, sei schon in der Weimarer Republik gereift. Die Nazis setzten ihn um.

Alles Ausflüchte? Ein interessantes Argument ist darunter: dass in den 17 Jahren der Namensdebatte mehr für die Bewahrung jüdischer Geschichte in Spandau getan wurde, als ein bloßes Auswechseln der Schilder bewirkt hätte. 1996 nahmen CDU und SPD angesichts des schier unlösbar erscheinenden Streits ihren eigenen Umbenennungsbeschluss zurück; sie gründeten stattdessen ein Forum Jüdische Geschichte. Das Forum veränderte Spandau. Ausstellungen, Veranstaltungen und Zeichen des Gedenkens wurden entwickelt. In der Altstadt finden sich jetzt Schau- und Gedenktafeln. Im Turm der Sankt-Nikolai-Kirche entstand eine Gedenkstätte für Spandauer Juden. Am Lindenufer, wo die Spree in die Havel mündet, steht ein Mahnmal für die 1938 zerstörte Synagoge. Und manch ein Lehrer trägt die verdrängte Geschichte in den Unterricht.

Man glaubte, eine gute Lösung gefunden, vielleicht gar ein kleines demokratisches Meisterstück vollbracht zu haben. »Da hatte keiner gewonnen, nur das Anliegen«, findet Schmidt. Nach der Wahl im vergangenen Jahr aber fehlten Spandaus CDU-Bürgermeister zwei Stimmen zur Wiederwahl. Die FDP sprang ein, forderte im Gegenzug die Jüdenstraße. Die neue Mehrheit hob den just im Mai 2001 bekräftigten Kompromiss per »Dringlichkeitsantrag« auf. Die meisten Anwohner erfuhren erst davon, als die Hausbesitzer aufgefordert wurden, sogar ihre Hausnummern zu ändern.

Der Spandauer SPD-Chef Swen Schulz ärgert sich über diesen Galopp. »Wir hatten jahrelang diskutiert und eine Lösung gefunden«, findet er, nun müsse man wenigstens »versuchen, die Leute mitzunehmen«. Er griff auch FDP-Mann Bannasch wegen dessen »Parteiveranstaltung« in der Jüdenstraße an. Dafür attackiert die Junge Union nun Schulz als »Spandauer Möllemann«. Die CDU verlangt seinen Rücktritt. Alexander Brenner rügt, Schulz stelle ein »Freiticket für latenten Antisemitismus« aus.

Am Sonntagmorgen rührt Schulz, gerade in den Bundestag gewählt, nervös in seinem Tee. »Ey, was passiert da eigentlich? Plötzlich bin ich einer, der mit Antisemitismus Stimmung macht?« Er will dringend mit Brenner sprechen.

Erst gestern in Charlottenburg sprach ihn nämlich wieder jemand an: »Ich bewundere Sie für Ihre Haltung.« Schulz dankte höflich. Und fragte, was der Mann denn meine. »Na«, raunte der, »wegen der Spandauer Sache.«

aus: Die Zeit, 14.11.2002

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