Die Bibel - eine überfällige Neubesinnung

von Dr. Hans Maaß

Einführung

1. Erneuertes Verständnis des Volkes Israel

Bereits 1945 trat der unvergessene spätere badische Prälat Hermann Maas für ein neues Verhältnis zwischen Christen und Juden ein, nicht nur im Entsetzen über Auschwitz, sondern weil er jetzt die Zeit für gekommen hielt, dass sein schon vor der Nazizeit durch intensives Studium der Bibel und des Talmud gewonnenes Verständnis des Judentums für eine Selbstbesinnung der Christenheit fruchtbar gemacht werden müsse. Ganz allmählich, in kleinen Schritten und mit vielen Rückschlägen haben seine Gedanken Gehör gefunden.

Ein erneuertes Verständnis ist nötig, wo es gewohnte, nicht mehr zu rechtfertigende Missverständnisse gibt. Worin bestehen diese? Bestenfalls in einer Abwertung des jüdischen Glaubens, als sei er durch den christlichen überholt und überwunden, jedoch auch in Verunglimpfungen als krämerische Gesinnung, auch Gott gegenüber, als scheinheilig, uneinsichtig, rachsüchtig. Diese Vorwürfe reichen teilweise bis ins Neue Testament zurück. So unterlaufen den Evangelisten gelegentlich wertende Aussagen über die Pharisäer, dass sie sich einbildeten, besser zu sein als andere, dass sie sich nach außen den Schein der Frömmigkeit gäben, inwendig aber voller böser Gedanken seien. Gewiss, es gab auch solche Pharisäer. Dies weiß sogar der Talmud. Aber ist dies charakteristisch für das Pharisäertum? Waren sie nicht Leute, die sich in einer schon damals immer säkularer werdenden Welt bemühten, durch Regeln die ernsthaft Frommen vor Anpassung und Oberflächlichkeit zu bewahren und durch Gründung von Genossenschaften, in denen sie sich aufeinander verlassen konnte, vor Ausnützung durch Gewissenlose zu schützen? Was ist daran Schlimmes? Ist das nicht aller Ehre wert? In den Augen der Christen, die nicht dem Judentum, sondern der Völkerwelt entstammten, erschien diese Haltung engstirnig, kleinkariert und wurde verspottet, obwohl sie der Ehre Gottes diente! Bis in heutige Predigten und Unterrichtsbücher hinein ist diese erhaben überlegene christliche Bewertung des Judentums noch spürbar; und Jesus wird dabei oft als der ganz andere, darüber erhabene, fast als "Antijude" gezeichnet, der das Judentum überwunden habe. Was für ein entsetzlicher Gedanke, Menschen, die Gott mit Beschränkungen, die sie sich auferlegen, die Ehre geben wollen, für überwunden zu erklären.

Ebenso lässt sich schon einzelnen Stellen des Neuen Testamentes ein gewisser christlicher Triumph über die Zerstörung des Jerusalemer Tempels entnehmen, als sei diese Katastrophe Gottes Strafe für Verfehlungen Israels gewesen. Wenn Juden dies so sehen und sich anklagen, ist dies etwas anderes, als wenn Christen dies Juden höhnisch vorhalten.

Nicht weniger verheerend hat sich der Vorwurf ausgewirkt, die Juden hätten Jesus ermordet oder durch die Hand des römischen Präfekten ermorden lassen. Als Gottesmörder wurden sie während des ganzen Mittelalters beschuldigt, und an Karfreitag konnten sie ihre Häuser nicht verlassen, weil sie befürchten mussten, von den Kirchgängern verprügelt oder mit Steinen beworfen zu werden. Dabei ist klar zu erkennen, dass Pilatus Jesus hinrichten ließ, weil er ihn für einen gefährlichen, jüdischen Aufrührer hielt, der sich zum König der Juden machen wollte und damit die römische Herrschaft gefährdet hätte. Ob und inwieweit dabei auch bestimmte jüdische Kreise, denen Jesus nicht genehm war, die Hand im Spiel hatten, ist umstritten. Jedenfalls verfolgte Pilatus eigene Interessen; aber die Juden mussten die Verantwortung übernehmen.

So ließe sich die Liste uralter Verleumdungen und Verunglimpfungen endlos verlängern.

2. Der Wahrheit verpflichteter Umgang mit der Bibel

Das erneuerte Verhältnis zum Volk Israel erfordert zuerst eine neue Art des Umgangs mit der Bibel. "Der Wahrheit verpflichtet" heißt nicht nur fragen, was der jeweilige Verfasser gemeint hat, sondern auch die Richtigkeit seiner Aussagen überprüfen. Ein naturwissenschaftlich bestimmtes Denken, hat vor allem danach gefragt, ob erzählte Ereignisse mit den bekannten Naturgesetzen vereinbar sind. Eine der Wahrhaftigkeit gegenüber den Juden verpflichtete Auslegung muss fragen, ob politische, gesellschaftliche und religiöse Verhältnisse der Juden zu Zeit Jesu richtig dargestellt sind.

Das Judentum als "Leistungsreligion" zu bezeichnen, die mit Gott gewissermaßen um Gegenleistungen "feilscht" entspricht einem Missverständnis, das aus Luthers Auseinandersetzung mit der Kirche seiner Zeit und judenfeindlichen Vorurteilen des 19. und 20. Jh. ("jüdischer Händler") entspringt. Wie die Befolgung der Gebote verstanden wird, zeigt ein Segensspruch, der etwa beim Händewaschen gesprochen wird: "Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, der uns geheiligt hat durch seine Gebote und uns das Waschen der Hände befohlen hat." (bzw. Sabbatlichter anzuzünden usw.). Man befolgt die Gebote, um damit Gott zu ehren; gleichzeitig realisiert sich darin die Zugehörigkeit zum geheiligten Volk.

Heil muss man sich dadurch nicht erwerben; denn "Ganz Israel hat Anteil an der kommenden Welt" (Sanh. XI,1). Dies wird auch durch Verfehlungen - außer Götzendienst und Gotteslästerung - nicht widerrufen. Man lebt im Heil und kommt nicht zum Heil (wie Gläubige aus der Völkerwelt).

Der Sabbat ist ein Segen, den man erlebt, wenn man ihn konsequent und ohne Abstriche einhält. Er bedeutet die Unterbrechung des Alltagstrotts und Alltagsstresses. Er wird geehrt, indem man alles vorbereitet, was möglich ist (sogar das Einschalten von Zeitautomaten, die Licht und Kochplatten bedienen), und alles lässt, was nicht unbedingt lebensnotwendig ist. Ist aber Leben bedroht, darf man sogar telefonieren und Auto fahren; denn dies ist notwendig. Auch Rettung von Tieren ist Pflicht. Und im Zweifelsfall darf man eher etwas tun, was normalerweise unerlaubt ist, als ein Leben zu gefährden. Deshalb müssen die Auseinandersetzungen Jesu mit einigen Zeitgenossen über Heilungen am Sabbat neu bewertet werden. Sie gehören in den Bereich des ernsthaften Ringens um Gottes Willen und die Pflicht zum ständigen Fragen, damit man sich die Sache nicht zu leicht macht. Im 2. Jh. hat ein angesehener Rabbi gelehrt: "Der Sabbat ist euch übergeben, nicht ihr ihm"; dies erinnert an Jesu Wort vom Sabbat um des Menschen willen. Wenn die Evangelisten manchmal in Jesu Sabbatheilungen einen Grund für Tötungsabsichten der Schriftgelehrten sehen, so ist dies eine maßlose Übertreibung, die nicht der Wahrheit entspricht, zumal Jesus oft an den Kranken gar nicht "handelt", sondern nur zu ihnen spricht. Auch die Frage des Händewaschens vor dem Essen, war noch im 4. Jh. Gegenstand von Gelehrtendiskussionen, also keineswegs in einer bestimmten Weise festgelegt. Bei den sog. "Antithesen" der Bergpredigt ("Ihr habt gehört ..., ich aber sage euch) müssen wir uns klar machen, dass Jesus kein einziges der Zehn Gebote aufhebt, sondern die übliche Praxis und volkstümliche Einstellung verschärft. Außerdem haben Rabbinen immer wieder den Worten anderer Rabbinen oder der gängigen religiösen Praxis ihre eigene Auslegung entgegengesetzt. Auch wenn Jesus Menschen kritisierte, die ihr Vermögen für den Todesfall dem Tempel geweiht haben, und deshalb ihre Eltern nicht mehr unterstützten, handelten diese keineswegs nach der einhelligen Lehre der Rabbinen. Durchgesetzt hat sich die Auffassung, wer ein Gelübde zum Schaden eines anderen (z. B. der Eltern) geleistet hat, kann (ganz i. S. Jesu) davon entbunden werden, nicht jedoch von Gelübden zu seinem eigenen Schaden. So bieten die Evangelien eine Fülle von Beispielen, dass Jesus in die lebendige Diskussion seiner Zeit um die richtige Umsetzung des Willens Gottes eingebunden war, in einzelnen Fällen sogar die spätere Mehrheitsauffassung vorwegnahm. Genügend entsprechend weiterführende Literatur ist in den letzten Jahren erschienen. Sie darf um der Wahrheit willen nicht mehr übergangen werden.

3. Lesen im Zusammenhang mit der "Wurzel" (Röm 11)

Vor vierzig Jahren war es gang und gäbe, das Christentum als hellenistische Religion zu sehen und daher das Neue Testament von entsprechenden religiösen und philosophischen Vorstellungen her zu verstehen. Die Neubesinnung auf die jüdischen Wurzeln seit etwa 25 Jahren hat zu neuen Einsichten geführt. Dies hat seinen guten Grund in den urchristlichen Schriften selbst. Sogar gegenüber den heidenchristlichen Gemeinden in Galatien, Korinth und Rom argumentiert Paulus mit biblischen Zitaten, setzt also die Kenntnis der jüdischen Bibeltradition voraus. Die Schriften der hebräischen Bibel dienten bei der Missionspredigt als Beleg dessen, was sich schon ereignet hatte oder demnächst ereignen werde.

Wenn Paulus den römischen Christen ins Bewusstsein ruft: "Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich", so enthält dies für heutige Bibelleser zunächst die Verpflichtung, die Botschaft des Neuen Testaments vom Alten her zu interpretieren und erst dann zu fragen, wie sich diese Botschaft unter dem Einfluss hellenistischen Denkens vielleicht verändert hat. Diese Fortentwicklung darf aber nicht einfach als gegebene Tatsache hingenommen, sondern muss kritisch auf ihre Berechtigung hin befragt werden, z. B. ob daraus ein unbiblisches Gottesverständnis entstehen könnte, das durch den Rückbezug auf das Alte Testament korrigiert werden muss.

Umgekehrt ergibt sich aber auch die Verpflichtung, das Alte Testament als ursprüngliches Gotteswort ernst zu nehmen und nicht sofort versteckte oder offene Hinweise oder Prophezeiungen auf Jesus herauslesen zu wollen. Die Jünger Jesu hatten im Zuge der Wiedergewinnung ihrer mit Jesu Kreuzigung zerbrochenen Hoffnungen Zuflucht zu den Psalmen und prophetischen Schriften genommen und dort Deutungshilfen für das Unfassbare an Jesu Geschick gefunden. Dies ist auch uns heute noch erlaubt und empfohlen. So bleibt das Alte Testament "Wurzel" und die christliche Botschaft reichlich sprießende Triebe. Im 2. Jahrhundert wurden diese Entdeckungen jedoch als "Orakel" missverstanden und alle, die das hebräische Alte Testament nicht so verstehen konnten, des Unglaubens und der Verstockung bezichtigt. Damit haben sich die Zweige gegen die Wurzel erhoben, um mit Paulus zu sprechen. Von dieser Verkehrung müssen wir nicht nur um der Juden, sondern um unserer selbst willen zur Umkehr finden.

4. Lernen vom jüdischen Umgang mit der Bibel: ernst, aber nicht tierisch ernst

Jüdische Schriftauslegungen überraschen uns gelegentlich durch zwei für uns widersprüchliche Umgangsweisen mit dem Bibelwort. Neben wörtlichem Ernstnehmen (bis hin zu auffälligen Schreibweisen) stehen humorvolle Auslegungen, die unseren christlichen Respekt vor der Bibel oft schocken. Pinchas Lapide hat dies einmal in den Satz gefasst: "Man soll die Bibel entweder wörtlich nehmen oder ernst. Wir nehmen sie ernst, d. h. wir schürfen hinter den Worten." Auch dieser Satz ist ein Schock für jeden soliden christlichen Biblizisten; denn für viele bedeutet ernst nehmen vor allem wörtlich nehmen. Was ist aber mit dem "hinter den Worten schürfen" gemeint?

Ein Beispiel muss hier für viele genügen. Bei der Erschaffung des Menschen ist im hebräischen Text das Wort "machte" (wörtl. "bildete"; 1.Mos 2,7) mit einem "j" zuviel geschrieben. Für christliche Ausleger handelt es sich um einen Schreibfehler, den manche sogar übergehen. Jüdische Ausleger haben sich jedoch Gedanken gemacht, warum ausgerechnet hier dieses Wort anders geschrieben ist als überall sonst in der Bibel. Sie haben die verschiedensten geistreichen Erklärungen gefunden: Der Mensch ist als Mann und Frau erschaffen, für diese und für die kommende Welt, mit Leib und Seele usw. Diese unterschiedlichen Deutungen stehen nebeneinander, weil das Judentum kein dogmatisches Verständnis der Bibel vertritt, sondern ein inspirierendes, anregendes. Denn das Judentum ist eine Religion der Praxis, nicht des dogmatischen Lehrsystems.

Ein Beispiel zur Auslegung der Schöpfungsgeschichte macht sowohl die Problematik menschlichen Tuns als auch die gelassene Überlegenheit Gottes in einer fast witzigen Erzählung deutlich: "Nach R. Simon teilten sich in der Stunde, wo Gott den ersten Menschen erschaffen wollte, die Engel in viele Parteien. Einige sagten: er soll nicht, andere sagten: er soll erschaffen werden s. Ps 85,11. Die Liebe (Gnade) sprach nämlich, er werde erschaffen, denn er wird menschenfreundlich sein; die Wahrheit dagegen sprach, er werde nicht erschaffen, denn es wird Lug und Trug geben; die Gerechtigkeit sprach, er werde erschaffen, denn er wird Wohltätigkeit üben, der Friede sprach, er werde nicht erschaffen, denn es wird Streit und Zank geben. Was tat Gott? [...] Während die Dienstengel so miteinander stritten und beratschlagten, bemerkte R. Huna der Große von Sepphoris, erschuf Gott den Menschen. Er sprach zu ihnen: Was streitet ihr euch noch? Der Mensch ist schon erschaffen."

Auch hierzu gibt es leicht verständliche weiterführende Literatur, die Interessierten ohne große Vorkenntnisse das Hineinversetzen in diesen kreativen Umgang mit der Schrift erleichtert. Die Bibel ernst, aber nicht tierisch ernst zu nehmen, haben wir dringend nötig, wenn wir nicht in einem engstirnigen Biblizismus erstarren wollen. Die Neubesinnung auf die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens nötigt uns geradezu, diesen Weg zu gehen.

5. Biblizismus und Kritizismus

Mit diesen Stichworten sind die zwei christliche Entartungen benannt, in die jüdische Schriftauslegung nicht geraten kann. Der unkritische Biblizismus verdankt sich der falschen Auffassung, das Heil des Menschen hänge von der Zustimmung zu bestimmten Glaubensüberzeugungen i. S. von Lehraussagen ab. In diesem Fall würde Irrtum Heillosigkeit, d. h. Verdammnis nach sich ziehen. In diesem Sinn hat Luther seine Heilsgewissheit mit den Worten verteidigt: "Das Wort sie sollen lassen stahn". Ein Biblizismus, der nicht kreativ, sondern dogmatisch am Wortlaut klebt, ist ein Zeichen von Angst, die mit dem Beharren auf einem scheinbar ohne Interpretation verständlichen Bibelwortlaut überwunden werden soll. Jüdische Schriftauslegung kennt solche Probleme nicht, da das Heil von der Erwählung des Volkes, nicht von der Annahme bestimmter Vorstellungen abhängig ist. Frei steht dagegen nicht die Befolgung der Gebote. Hier gibt es eine Fülle von Differenzierungen, an die man sich hält, ohne zu reflektieren, was geschehen würde, wenn man sie nicht befolgt. Man tut es zur Ehre Gottes.

Kritizismus ist eine Gegenreaktion zum Biblizismus. Er ist einst entstanden, um sich gegen die geistige Bevormundung einer Macht ausübenden Kirche zu wehren. Aber auch er ist nicht kreativ, weil er nicht aus der Freude an der Schrift, sondern aus einer verneinenden Grundeinstellung geboren ist. Die Neubesinnung auf den jüdischen Umgang mit der heiligen Schrift, kann uns vor Verkrampfungen nach beiden Seiten bewahren.


Die Bibel - eine überfällige Neubesinnung

Didaktische Hinweise

von Hans Maaß

Nachfolgende Anregungen sind als Beispiele für Fragen gedacht, die auf Grund der vorhergehenden Ausführungen mit Gruppen bearbeitet werden können. Sie stellen keinen kompakten Kurs dar und besitzen unterschiedlichen Schwierigkeitsgrad. 1. Annäherungen an das Thema

In den letzten Jahren sind viele kirchlichen Verfassungen/Kirchenordnungen hinsichtlich unseres Verhältnisses zum Judentum geändert worden [z.B. § 2 (3) und 69 der badischen Grundordnung]. Man kann die Teilnehmenden um Vorschläge bitten, was nach ihrer Meinung diese Neufassungen für den Umgang mit der Bibel bedeuten:

Gibt es Judenfeindlichkeit in unserer traditionellen Bibelauslegung?

Kennen Sie judenfeindliche Bibelauslegungen?

Haben Sie schon einmal Gebete oder Predigtaussagen als judenfeindlich empfunden?

Ist Ihnen in den Schulbüchern Ihrer Kinder (Enkel) für den Religionsunterricht (evtl. auch für Geschichte und Deutsch) etwas als judenfeindlich erschienen?

Es gibt Leute, die sagen: " Judenvergessenheit ist ebenfalls Judenfeindlichkeit". Was halten Sie davon?

Man kann auch gezielte inhaltliche Fragen stellen:

Was besagt für Sie der Begriff "Pharisäer" oder "pharisäisch"? Wofür verwenden Sie ihn, oder fehlt er in Ihrem Sprachgebrauch? Wer hatte nach Ihrer Meinung ein Interesse, an Jesu Kreuzigung? Können Juden nur eiwges Leben erlangen, wenn sie zum Glauben an Jesus kommen?

Man kann auch über religiöse jüdische Praktiken nachdenken (z. B. Händewaschen, Sabbatlichter entzünden, zugehörige Segenssprüche):

Erkennen Sie darin einen religiösen Sinn?

Halten Sie die Beachtung bestimmter Abläufe (beim Händewaschen, Lichtanzünden [vgl. entsprechende jüdische Bücher] ) Sind für Sie ähnliche christliche Bräuche 1. verbindlich oder beliebig? 2. ein Grund, Gott dafür zu loben?

2. Überprüfung von Vorurteilen bei der Bibelauslegung

1. "Ganz Israel hat Anteil an der kommenden Welt".

Wie wirkt sich dieses Bekenntnis auf die Konequenzen des menschlichen Handelns aus? Heil als Verdienst oder Gabe? Müssen Juden Christen werden, um Anteil an der Ewigkeit zu haben?

Worauf können Christen vertrauen, wenn Taten auch für Juden nicht Grund für das Heil sind?

Gibt es zwischen Gottes Verhältnis zu seinem Volk Israel und zur Christenheit vergleichbare Parallelen?

2. Hat Jesus den Sabbat gebrochen, weil er glaubte, sich über ihn hinwegsetzen zu dürfen?

Vergleichen Sie den Satz Jesu, "Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen", mit dem Satz des Rabbi Jonathan b. Joseph [2. Jh.] über den Sabbat: "Er ist euch übergeben, nicht (ihr) ihm" (Talmud, Traktat Joma 85 b).

Befand sich Jesus mit seinem Sabbatverhalten im Widerspruch zur jüdischen Toraauslegung, oder innerhalb jüdischen Denkens? Lev 18,5 erklärt als Sinn aller Gebote und Vorschriften Gottes: "Der Mensch, der sie ausführt, wird durch sie leben".

1. Halten sie die jüdische Folgerung für richtig, eine Vorschrift, die sich lebensfeindlich auswirkt, ist nicht im Sinne des Gebots, das dadurch ausgelegt werden soll. (Dies wird im Talmud [Joma 85 b] als Lehre Rabbi Jehudas [3.Jh.] wiedergegeben und durch Raba [4.Jh.] ausdrücklich als unwiderlegliches Argument bezeichnet.)

2. Beurteilen Sie Jesu Sabbatheilungen auf diesem Hintergrund! Sehen Sie einen Unterschied, ob Jesus ein Heilungswort zu einem Kranken spricht oder am Sabbat eine Handlung an ihm vornimmt (Hand auflegt, Brei anrührt o. ä.)?

Der Talmud regelt in der Mischna (Joma VIII,6) als Lehre von R. Mathja b. Cheresch [um 130]: "Wenn jemand Halsschmerzen hat, so darf man ihm am Sabbat Medizin in den Mund einflößen, weil hier ein Zweifel der Lebensgefahr vorliegt, und jeder Zweifel der Lebensgefahr verdrängt den Sabbath."

Sehen Sie einen Zusammenhang mit Jesu Sabbatheilungen, ohne dass Lebensgefahr bestand (z. B. Lk 13,10-17)?

In Mk 2,23 ff. wird Jesus zur Rechenschaft gezogen, weil er zulässt, dass seine Jünger am Sabbat Ähren abreißen und essen.

1. Vergleichen Sie dazu die Regelung der Mischna (Joma VIII,6) für den Sabbat: "Wenn jemand von Heißhunger befallen wird, so gebe man ihm zu essen, selbst unreine Dinge, bis seine Augen erhellen", [wörtlich: aufstrahlen].

Grund: Alle Regeln gelten nur für den Normalfall, nicht für den Notfall; auch hier gilt, daß die Einhaltung des Sabbatgebots nicht das Leben gefährden oder beeinträchtigen darf. 2. Was könnte für Jesus der Grund gewesen sein, seinen Jüngern nicht zu wehren?

3. Verachtet Jesus die Mosetora?

Vergleichen Sie Mt 5,17-19 mit den "Antithesen" 5,31-48!

1. Hat Jesus doch die Tora aufgelöst?

2. Was ließ er unangetastet, was griff er an?

Setzt sich Jesus mit dem "ich aber sage euch" über Mose hinweg? 1. In einer rabbinischen Auslegung zu 2. Mos 12-35 (Mechilta) ist folgende Diskussion überliefert, die zu klären versucht, wie sich 2.Mose 20,22 ("Ihr habt gesehen, daß ich mit euch vom Himmel geredet habe") zu 2.Mose 19,20 ("oben auf seinen Gipfel, berief er Mose hinauf auf den Gipfel des Berges, und Mose stieg hinauf") verhält. [Die Deutungen zeigen auch das unterschiedliche Vorstellungsvermögen der Gelehrten:]

"»Von den Himmeln ließ er dich hören seine Stimme, um dich zu züchtigen, und auf der Erde ließ er dich sehen sein großes Feuer« usw. Wor te des R. Isma'el [† um 135]. R. 'Akiba [† 135] sagt: Das lehrt: Dass der Heilige, gebenedeit sei er, die oberen Himmel heruntergesenkt hat auf den Gipfel des Berges und so mit ihnen von den Himmeln her geredet hat, wie es heißt [Ps 18,10]: »Und er neigte die Himmel und stieg herab, und Wolkendunkel unter seinen Füßen«. Rabbi [† 217] sagt: »Und es stieg der Ewige herab auf den Berg Sinai zum Gipfel des Berges und es rief der Ewige den Mose zum Gipfel des Berges, und Mose stieg hinauf«. Ich verstehe es nach seinem Wortsinne. Du sagst (nämlich): Wenn schon einer seiner Diener (die Sonne) an seinen Ort (Himmel) und an seinen Nichtort (Erde) kommt, um wieviel mehr die Herrlich- keit dessen, der sprach und die Welt ward!"

2. Dies wird oft als ein Beleg dafür genannt, dass auch Rabbinen bei der Toraauslegung in eigener Autorität sprachen. Andere verweisen darauf, dass hier nur ein Rabbi seine Meinung anderen entgegenstelle, nicht aber der Tora Moses. Wie verhält sich dies bei Jesus?

4. Setzen Schriftgelehrte Gottes Gebote zugunsten ihrer Auslegungstradition außer Kraft?

In Mk 7,8 wirft Jesus Schriftgelehrten vor: "Ihr verlasst Gottes Gebot und haltet der Menschen Satzungen" und erläutert dies: "Wenn einer zu Vater oder Mutter sagt: Korban - das heißt: Opfergabe soll sein, was dir von mir zusteht -, so lasst ihr ihn nichts mehr tun für seinen Vater oder seine Mutter".

Die Mischna des Traktats Nedarim IX,1 berichtet über eine Auseinandersetzung zwischen R. Zadoq [um 70] und R. Eliëzer [um 90] über die Erfüllung von Gelübden, die zu Ungunsten der Eltern geleistet wurden: "Die Weisen pflichten jedoch R. Eliëzer bei, daß man bei zwischen ihm und seinem Vater oder seiner Mutter vorgehenden Dingen ihm einen Ausweg öffne [durch den Hinweis] auf die Ehrung von Vater und Mutter."

1. Beurteilen Sie Mk 7,8 ff. im Licht dieser Gelehrtendiskussion!

2. Wie würden Sie die Auffassung Zadoqs bzw. Eliëzers charakterisieren?

3. Wo würden Sie Jesus einordnen?

Ausgelöst wird diese Diskussion in Mk 7, weil die Jünger vor dem Essen nicht die Hände waschen.

1. Im Talmud Traktat Chullin 105a wird das Händewaschen vor dem Essen deutlich dem nach dem Essen untergeordnet.

"R. Idi b. Abin [um 310] sagte im Namen des R. Jizchak b. Aschjan [um 300]: Das Waschen vorher ist Gebot, das Waschen nachher ist Pflicht. Man wandte ein: Das Waschen vorher und nachher ist Pflicht, das in der Mitte ist freigestellt. - Im Vergleich zum Freigestellten heißt das Gebot Pflicht." Was lässt sich aus dieser Diskussion im 4. Jh. für die Praxis zur Zeit Jesu folgern?

2. Könnten Sie sich denken, dass sich in der unterschiedlichen Praxis auch unterschiedliche soziale Verhältnisse spiegeln? 3. Aufnahme des Alten Testaments im Neuen

Viele alttestamentliche Zitate verstehen die Texte nicht in ihrem ursprünglichen Sinn. Dies widerspricht einem Ernstnehmen dieser Bibelstellen in ihrem historischen Sinn. Es entspricht allerdings dem Umgang mit biblischen Texten in der Apokalyptik.

1. Zum Verständnis dieser neutestamentlichen Praxis kann man auf die Auslegungspraxis in Qumran eingehen.

Sie geht von der Voraussetzung aus (vgl. auch Paulus, 1.Kor 10,11), dass der eigentliche Sinn früherer Ereignisse bzw. Aussagen erst "am Ende der Tage" in ihrem wahren Sinn aufgedeckt (griech. apokalyptein) werden. Herauszuarbeiten wäre dabei der Trost- und Orientierungscharakter für "Endzeitgeneration" im Unterschied zu einer dogmatischen Glaubenslehre für alle Generationen. Dies geht auch aus der Deutungsvielfalt hervor.

2. Man kann einzelne christologisch gedeutete Texte besprechen, etwa:

Untersuchen Sie die alttestamentlichen Bezugnahmen in der Kreuzigungserzählung Mk 15!

1. Was lässt sich daraus schließen, dass es sich um Psalmen handelt?

2. Welche Elemente des Kreuzigungsgeschehens werden gedeutet? 3. Wodurch unterscheiden sich diese Erklärungen aus Psalmen von dem, was 1.Kor 15,3 "nach der Schrift" erkannt wird?

Wie geht Paulus argumentierend mit der Schrift um?

1.Kor 5,6-8 jüdische Passafeier als Modellfall für Gemeindedisziplin?

1.Kor 10,1-13 biblische Geschichte als warnendes Beispiel? Worauf beruht für Paulus die Überzeugungskraft dieses Beispiels? 3. Jesus bezieht sich auf die Schrift. Lassen sich Unterschiede feststellen?

a. Zeichen: Mt 12,38-42 im Vergleich mit Mt 16,4; Mk 8,12 f.; Lk 11,29-32

Unterschiedlicher Umgang mit der Zeichenforderung selbst und der Gestalt Jonas als Zeichen: Wirken alle Deutungen auf Sie gleich ursprünglich?

Bedeutung und Rolle anderer biblischer Ereignisse?

b. Elia: Vgl. Mal 3,23 und Mk 9,11-13 mit Mt 17,12 und Mt 11,11-14

Die Erwartung des vor dem Ende kommenden Elia ist bis heute jüdische Bezeugung. Wie bewerten Sie Jesu Auffassung?

Mt bezieht diese Vorstellung einmal ausdrücklich auf Johannes d. Täufer. Dieser Vers fehlt in der Parallele bei Lukas 7,28-30 und 16,16. Was schließen Sie daraus?

c. Auferstehung: Mk 12,18-27 schildert eine Diskussion zwischen Jesus und Sadduzäern, die unter Berufung auf eine Torabestimmung den Gedanken an eine Auferstehung ad absurdum führen wollen. Jesus bezieht sich für die Auferstehungshoffnung ebenfalls auf die Tora.

Erscheint Ihnen eine der beiden Argumentationen logischer bzw. schriftgemäßer als die andere?

Sanh 90b überliefert folgende Diskussion:

"R. Gamaliel [um 40] wurde von Sadduzäern gefragt: "Woher ist zu entnehmen, daß der Heilige, gepriesen sei er, die Toten beleben wird? Dieser erwiderte ihnen: Aus der Tora, aus den Propheten und aus den Hagiographen. Sie erkannten es aber nicht an. Aus der Tora, denn es heißt: da sprach der Herr zu Mosche: Du wirst dich bald nun zu deinen Vorfahren legen und aufstehen [Dtn 31,16]. Jene entgegneten ihm: Viel- leicht [lese man:] und aufstehen wird dieses Volk und sich abwenden [Das Wort "aufstehen" kann grammatikalisch sowohl zur ersten als auch zur zweiten Satzhälfte gezogen werden.] Aus den Propheten, denn es heißt: deine Toten werden wieder lebendig werden, meine Leichen werden auferstehen. Erwachet und jauchzet, die ihr im Staube liegt, denn ein Tau des Lichtes ist dein Tau, und die Erde wird die Schatten [ans Licht] bringen [Jes 26,19]. Vielleicht sind hier die Toten gemeint, die Jechezqel belebt hatte [vgl.Hes 37]. Aus den Hagiographen, denn es heißt: ... er läßt murmeln die Lippen der Schlafenden [HL 7,10]. - Vielleicht aber ist nur ein Bewegen der Lippen zu verstehen."

Daran schließt sich eine Diskussion aus dem frühen 3. Jh. an: "Dies nach R. Jochanan [† 217], denn R. Jochanan sagte im Namen des R. Schim'on Jehotzadaq [um 225]: Wenn man eine Halacha im Namen [eines Toten] in dieser Welt spricht, so murmeln seine Lippen im Grabe, denn es heißt: er läßt murmeln die Lippen der Schlafenden. Bis er ihnen folgenden Schriftvers anführte: Bezüglich dessen der Herr euren Vätern geschworen hat, es ihnen zu geben [Dtn 11,9]; es heißt nicht euch, sondern ihnen. Hier ist also die Auferstehung der Toten in der Tora zu finden".

1. Wie bewerten Sie die Tatsache, dass die erste Diskussion mit einem Argument der Sadduzäer endet und nicht mit der Widerlegung durch die Tradenten des Talmud?

2. Vergleichen Sie Jesu Antwort mit der zweiten rabbinischen Aussage! - Beachten Sie den zeitlichen Abstand! Besagt er etwas? d. Spitzengebot: Mk 12,28-34 überliefert einen Dialog zwischen einem Schriftgelehrten und Jesus über das "erste" aller Gebote. Dabei liegt in der Doppeldeutigkeit des Wortes "erste" (= erstes Gebot/wichtigstes Gebot) eine geistreiche Anspielung.

Prüfen Sie anhand der Bibel, woher Jesus seine Antwort nimmt! Was sagt dies über Jesu Verhältnis zu Bibel und jüdischer Tradition aus?

Vergleichen Sie Mt 22,34-40: Welche Unterschiede fallen auf? Was hat Matthäus gegenüber seiner Vorlage damit entscheidend verändert im Verhältnis Jesu zu Bibel und Judentum? 4. Humor in und mit der Bibel

Unser christliches Verhältnis zur Bibel ist oft zutiefst humorlos, weil wie nach Luthers Auslegung zu den Geboten "von Gott mit Ernst und Ehrfurcht reden sollen". Dabei übersehen wir oft, dass Humor eine fröhliche Ernsthaftigkeit, keine Unernsthaftigkeit ist. Es gibt freilich auch frivole und zotenhafte Witze über biblische Erzählungen, aber auch ernst gemeinte Verkitschungen. Beides sollte in dieser Einheit zu unterscheiden gelernt werden.

Tragen Sie Erzählungen und Anekdoten zusammen, die humorvoll biblische Erzählungen akzentuieren, z. B. Hertzsch, Der ganze Fisch war voll Gesang Waggerl, Gespräch der Tiere an der Krippe Johann Peter Hebel, Gutes Wort, böse Tat Küstermeier, Karikaturen zur Sintflut und anderen Erzählungen Prüfen Sie, inwieweit gerade durch die humorvolle Wiedergabe die eigentliche biblische Aussage verstärkt, akzentuiert oder verschleiert wird!

Vergleichen Sie in verschiedenen Kinderbibeln etwa die Wiedergabe einer Wundererzählung Jesu oder markanter Erzählungen aus dem Alten Testament (Durchzug durchs Schilfmeer, Manna in der Wüste, David und Goliat o. ä.) und prüfen Sie, inwieweit Abweichungen vom Text dessen Aussagen verstärken, verkitschen (frömmelnde Übertreibungen) oder verflachen (Ablenkung durch Ausschmückung neben- sächlicher Einzelheiten).

Untersuchen Sie verschiedene bildliche Darstellungen einer biblischen Erzählung durch bedeutende Maler und Grafiker (z. B. Dürer, Rembrandt, Rubens, Chagall, Habdank, Nolde, Litzenburger, aber auch Schnorr von Carolsfeld u. a.) auf ihr Verständnis des Textes.
Literatur
  • Chajim Halevy Donin, Jüdisches Leben, Morascha Zürich
  • Israel M. Lau, Wie juden leben; Gütersloh
  • Hans Maaß, Auf den Dörfern unter kleinen Leuten, Beiträge Pädagogischer Arbeit, I/1993 (zu beziehen über Gemeinschaft Evangelischer Erzieher in Baden)
  • Hans Maaß, Bist du, der da kommen soll? Die Anfrage Johannes des Täufers im Licht jüdischer Endzeiterwartungen, Sonderband "Beiträge Pädagogischer Arbeit", Karlsruhe 1995 (über Gemeinschaft Evangelischer Erzieher in Baden)
  • Hans Maaß, 18.Hinter den Worten schürfen. Was ich von jüdischer Schriftauslegung gelernt habe. Beiträge Pädagogischer Arbeit 3/1997 (über Gemeinschaft Evangelischer Erzieher in Baden)
  • Hans Maaß, Rabbi, du hast recht geredet, entwurf 3/1992 (über RPI Karlsruhe)
  • Hans Maaß, Wendezeiten und Zeitwenden im biblischen Denken und seiner Umwelt, Beiträge Pädagogischer Arbeit 1/2001 (über Gemeinschaft Evangelischer Erzieher in Baden)

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Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau
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