Zwei Religionen und ein Buch

Die hebräische Bibel zwischen Christen und Juden

von Stefan Meißner

Christen teilen mit Juden den größten Teil ihrer Heiligen Schrift. Historisch erklärt sich das natürlich aus der Entstehung des Christentums aus dem Judentum als seiner Wurzel. Trotzdem ist dieser Sachverhalt bemerkenswert und alles andere als trivial. Der Islam entwickelte sich auf der Grundlage von Christen- und Judentum, dennoch übernahmen die Muslime nicht einfach die biblischen Texte eins zu eins. Sie trafen nicht nur eine Auswahl, sondern variierten teilweise erheblich den Wortlaut, sodass der Koran eben doch etwas anderes ist als eine Auswahlbibel.

Jüdische und christliche Wertschätzung der Hebräischen Bibel

"Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen noch tritt auf den Weg der Sünder noch sitzt wo die Spötter sitzen, sondern hat Lust an der Tora des Herrn und sinnt über seine Tora Tag und Nacht!" (Ps 1,1-2). Dankbar haben Jüdinnen und Juden das Schrift gewordene Wort Gottes empfangen als Wegweisung für ein gelingendes Leben. Mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (587 v.Chr.) rückte es immer mehr ins Zentrum auch des kultischen Handelns Israels. Als Kompendium der jüdischen Volks- und Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zur Vollendung der Welt wurde die Hebräische Bibel ein Dokument der Hoffnung, das zugleich Sinn und Identität stiftete. Und das nicht nur im Gelobten Land, sondern auch in der Diaspora - als eine Art "tragbares Vaterland", wie H. Heine so treffend formulierte. Die Nazis wussten nur zu gut um diese Symbolik, als sie in der Reichspogromnacht 1938 zuerst die Torarollen anzündeten. Sie verbrannten damit nicht nur ein Buch, sondern zugleich auch die jüdische Seele.

Sicher gab und gibt es auch im Christentum Gruppen, die das Alte Testament schätzten und für die es identitätsstiftend wirkte. Auffälligerweise waren es nicht selten Freikirchen und Sekten, deren Frömmigkeit alttestamentlich dominiert war. Dem Mainstream-Christentum hingegen galt und gilt das Alte Testament nicht selten als minderwertig und im Grunde als durch das Neue Testament überholt. Ein Indiz dafür sind immer wieder aufgelegte Bibelausgaben, in denen nur das NT abgedruckt ist. Es sind wohl nicht nur Kostengründe, sondern auch theologische Vorentscheidungen, die eine solche Auswahl nahe legen. Vor noch nicht all zu langer Zeit würdigte ein Dekan der Pfälzischen Landeskirche (mittlerweile i.R.) hinter vorgehaltener Hand die Psalmen als "Judenkram" ab, als diese im Eingangsteil des Gottesdienstes liturgisch verankert werden sollten. Das gemeinsame biblische Erbe von Christen und Juden als lästiger Ballast?

Dass die Psalmen trotz solcher Abwertung Eingang in den christlichen Gottesdienst fanden, hängt mit ihrer Spiritualisierung zusammen. Wenn Christen in der Adventszeit einen Einzugspsalm ("Macht hoch die Tür...") sprechen, denken sie dabei natürlich an ihre Kirche und nicht an den Jerusalemer Tempel. Wenn man Gott dankt, dass er "sein Volk" errettet hat aus der Hand seiner Feinde, denkt man natürlich an die Kirche und nicht an das Volk Israel, das Gott vor allen anderen Völkern erwählt hat. Das "Neue Israel" setzt sich an die Stelle des "alten" Gottesvolkes. Explizit wird diese stillschweigende Enteignung im "Gloria" ("Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Hl. Geist..."), das die gottesdienstliche Psalmenlesung abschließt. Durch diesen Lobpreis wird das alttestamentliche Gebet trinitarischen überhöht und gewissermaßen nachträglich "getauft". Eine der Aufgaben für die Zukunft wird sein: eine christliche An-Eignung des Alten Testaments ohne Ent-Eignung der Juden, die dessen erste Adressaten und Leser waren und sind.

Neben der Spiritualisierung des Alten Testaments gab es auch eine inhaltliche Reduzierung. Unter Berufung auf eine falsch verstandene Gesetzeslehre des Apostels Paulus glaubte man, die alttestamentlichen Gebote auf das Liebesgebot reduzieren zu dürfen. Frei nach dem Motto Augustins: "Liebe und tue [im Übrigen] was du willst". Allenfalls die 10 Gebote ließ man in der Kirche als Zusammenfassung eines universellen Pflichtenkodex noch gelten. Die Folge dieser Reduzierung war eine Verarmung des christlichen Ethos, die immer wieder anderweitig kompensiert werden musste ("Stimme des Gewissens", "Gesetz der Stunde" etc.).

Nun kennt auch das Judentum Versuche, die Fülle der alttestamentlichen Gesetze auf eine prägnante Formulierung zu verdichten. Am bekanntesten ist die talmudische Erzählung (bSchab 31) von dem Heiden, der vor Rabbi Schammai trat und sprach: "Ich will Jude werden, wenn du mich die ganze Tora lehren kannst, während ich auf einem Bein stehe." Schammai hielt gerade einen Stab in der Hand, eine Eile zum Messen beim Hausbau, und stieß ihn damit fort. Nun kam der Heide vor den Lehrer Hillel, und der nahm ihn auf in den Bund. Er sprach zu ihm: "Was dir zuwider ist, das tu auch deinem Nächsten nicht an - dieses ist die ganze Tora, und alles übrige ist nur Auslegung. So mach dich auf und forsche!" Die Pointe der Geschichte liegt im Ende: Die sog. "Goldene Regel" ist erst ein Anfang. Jetzt kommt es darauf an, das Gelernte zu vertiefen und auszubauen durch weiteres Lernen. Also keine inhaltliche Reduktion, wie der Heide (!) sie wohl erwartete, sondern mehr eine Art Elementarisierung als didaktischen Gründen.

In der Geschichte der Kirche fehlte es nicht an Versuchen, das Alte Testament ganz abzuschaffen. So stellte der Gnostiker Marcion (um150) den zornigen, rachsüchtigen Judengott dem neutestamentlichen Gott der Liebe gegenüber. Ein Antithese, die in abgeschwächter Fassung bis in unsere Tage zu hören ist. In der Weimarer Republik kritisierte der liberale Theologe Adolf v. Harnack das Festhalten des Christentums am Alten Testament, das er als Folge einer "kirchlichen und religiösen Lähmung" ansah. Im Dritten Reich schließlich forderten die "Deutschen Christen" eine "Befreiung vom Alten Testament mit seiner Lohnmoral, von diesen Viehhändler- und Zuhältergeschichten". Bis heute widersteht die Kirche solchen Versuchungen. Ist es nur ein Festhalten an lange Vertrautem, purer Traditionalismus also? Oder weiß sie, was mit dem Alten Testament auf dem Spiel steht?

Zu Recht befürchtete die Alte Kirche, dass Marcion das Evangelium in einen geschichtslosen Mythos auflösen würde. Sie reagierte folgerichtig mit der Festlegung des zweigeteilten christlichen Kanons aus Altem und Neuem Testament. Selbst im Dritten Reich blieb die Erkenntnis lebendig: Wer die Verkündigung Jesu von ihrem jüdischen Mutterboden los reißen will, sie gewaltsam zu "arisieren" versucht, der wird sie damit zerstören. Nur eingebettet in die Geschichte Gottes mit seinem ersterwählten Volk Israel macht auch diese zweite Geschichte, von der das Neue Testament Zeugnis ablegt, wirklich Sinn. Ohne die Kategorien der Hebräischen Bibel wären die Ereignisse um Tod und Auferstehung Jesu schlechterdings nicht aussagbar gewesen. Ohne sie wäre die Kirche regelrecht in Sprachlosigkeit erstarrt. Der große jüdische Theologe Josua Abraham Heschel gibt z Recht zu bedenken: "Es waren die Tora und die Propheten, die Jesus selbst auslegte und predigte. Es waren Tora und Propheten, die er als Heilige Schrift verehrte, und Christen beteten mit den Worten der Psalmen. (..) Wie kann ein Christ es wagen, seine eigenen Vorstellungen von Gott an die Stelle von Jesu Gottesverständnis zu setzen und sich immer noch Christ zu nennen?"(2)

Jüdischer und christlicher Bibelkanon

Die hebräische Bibel der Juden unterscheidet sich allerdings von unserem Alten Testament nicht unerheblich - zwar nicht im Wortlaut,(3) aber im Umfang und in der Reihenfolge der enthaltenen Schriften. Erst recht in ihrer "doppelten Nachgeschichte" in Christentum und Judentum. Das soll an einigen Punkten verdeutlicht werden.

Die hebräische Bibel, deren endgültiger Umfang nicht vor dem 1 Jhd. n.Chr. fest stand, umfasst nur 24 Schriften. Diese niedrige Zahl ergibt sich, wenn man 1+2 Sam, 1+2 Kön, 1+2 Chr und die 12 kleinen Propheten zu je einem Buch zusammenfasst. Der jüdische Schriftenkanon ist wie der christliche Kanon dreigeteilt und besteht aus

Tora ("Gesetz", "Weisung"): der Pentateuch bzw. die fünf Bücher Mose (hebr.: Bereschit, Schemot, Wajikra, Bemidbar, Devarim)

Neviim ("Propheten"): Zu ihnen gehören nicht nur die Schriftpropheten (außer Dan!), sondern auch die Bücher Jos bis 2 Kön, die im Christentum zu den Geschichtswerken gezählt werden.

Ketuvim ("Schriften"): Umfasst den Rest, v.a. das weisheitliche u. poetische Schrifttum (Ps, Spr, Hi, Hld, Koh), aber auch die Geschichtswerke Esr, Neh u. Chr.


Aus den hebr. Anfangsbuchstaben der drei Teile des Kanons ergibt sich das Wort Tenach (manchmal auch: Tanach). Der Tora kommt an Bedeutung kein anderer Teil des Kanons gleich. Seine Kanonisierung war auch bereits relativ früh abgeschlossen (um 400 v.d.Z.). Im Laufe eines Jahres wird die Tora im Synagogengottesdienst einmal komplett gelesen - beginnend und endend am Fest der Torafreude (Simchat Tora). Die Toraabschnitte, die jeweils einem Sabbat zugeordnet sind, heißen Paraschot (Sg: Parascha). Die entsprechenden Prophetenabschnitte werden Haftarot (Sg.: Haftara) genannt. Zusätzlich finden die sog. Festrollen (Megillot, Sg.: Megilla) gottesdienstliche Verwendung an bestimmten hohen Feiertagen (Passa: Hld; Schawuot: Rut; Tischa be Av: Klgl; Sukkot: Koh, Purim: Est). Im Deutschen bevorzugt man jüdischerseits die Bezeichnung Hebräische Bibel vor der Bezeichnung "Altes Testament", die leicht einen despektierlichen Beigeschmack haben kann, im Sinne von "veraltet", "unzeitgemäß". Auch die von christlichen Exegeten ins Spiel gebrachte Neuschöpfung "Erstes Testament" (E. Zenger u.a.) wird akzeptiert.

Die urchristlichen Gemeinden benutzten die Bibel meist in Gestalt der Septuaginta (LXX), einer griechischen Übersetzung, die nach Auskunft des Aristeasbriefs im 1. Jhd.v.Chr. in Alexandrien entstanden sein soll. Diese in den jüdischen Gemeinden der Diaspora weit verbreitete Übersetzung enthielt teilweise Bücher, die in der hebräischen Bibel fehlen (3 Esra, Jesus Sirach, Weisheit, 1-4 Makk, Tobit, Judit, Baruch, Brief des Jeremia, Zusätze zu Daniel, Gebet des Menasse und Ps 151). Diese sog. "deuterokanonischen" Bücher sind in der katholischen Kirche bis heute in Gebrauch, während die protestantische Kirche sie als "Apokryphen" (= "verborgene Bücher") bezeichnete und aus ihren Kanon verbannte. So gleicht das protestantische AT im Umfang der hebräischen Bibel der Juden, allerdings mit markanten Unterschieden in der Anordnung der Bücher. So ordnete man das Buch Rut hinter das Buch der Richter ein, da Rut 1,1 die Handlung in die Zeit der Richter datiert. Auffälliger aber ist, dass Luther den Kanon mit den Propheten beschließt, zu denen er im Gegensatz zum Judentum auch das Danielbuch zählt. So dienen im protestantischen Bibelkanon die Propheten mit ihren messianischen Weissagungen als willkommene Brücke zum Neuen Testament. Ironie des Schicksals: Während das hellenistische Judentum die Septuaginta wegen ihrer christlichen "Vereinnahmung" preisgab und durch Targumim (Bibelübersetzungen mit z.T. deutenden Erweiterungen) ersetzte, tradierte die Kirche eine Reihe von jüdischen Schriften weiter, ohne die unser Wissen über das antike Judentum heute wesentlich größere Lücken aufweisen würde. [weiter]

Spätestens seit der Zeitenwende kann man vom Judentum als einer Buchreligion sprechen. Aber Bücher, vor allem solche, die das Leben einer Gemeinschaft normieren, bedürfen der Auslegung. Obwohl es in der Mischna von der Tora heißt: "Wende und wühle in ihr, denn in ihr ist alles" (mAv 5,25), gibt es Fragen, die die geschriebene Tora offen lässt. Was soll man beispielsweise tun, wenn der Feind im Krieg bevorzugt am Schabbat angreift? Soll man die Waffen ruhen lassen, wie die Tora es befiehlt? Oder darf man sich wehren und so vielleicht sein Leben retten? Vor genau diese Alternative waren die Juden in der Zeit der Makkabäerkriege (2. Jhd. v.Chr. ) gestellt - und sie entschieden sich für das Leben. Warum? Weil sie zu dem Schluss kamen, dass die Tora zum Leben gegeben ist, nicht zum Tode! Wenn aber das Befolgen der Tora unweigerlich zum Tode führt, so kann dies nicht im Sinne Gottes sein. Das war die Geburtsstunde einer Idee, die forthin für das Judentum prägend sein sollte: Die Idee einer mündlichen Tora, die der geschriebenen Tora gleichwertig gegenüber steht.

Dass die mündliche Tora als der geschriebenen Tora gleichwertig gilt, verdankt sie dem Ruf, dass sie mit jener gleichen Ursprungs sei. Beide wurden dem Volk Israel von Gott am Sinai gegeben, so sagt das klassische jüdische Schrifttum. Dass auch spätere Generationen noch Zugang zu dieser Offenbarungsquelle haben, gewährleistet eine ununterbrochene Traditionskette von Mose bis heute: "Mose empfing die Tora auf dem Sinai, überlieferte sie Josua, Josua den Ältesten, die Ältesten den Propheten, und die Propheten überlieferten sie den Männern der Großen Synagoge" (mAvot).

Die mündliche Tora kann sich so weit von der geschriebenen Tora entfernen, dass die Verbindungen zwischen beiden problematisch erscheinen. Das Judentum hat dieses Faktum stets im Auge behalten und zuweilen sogar selbstironisch kommentiert. Bekannt ist die Geschichte von Mose, der eine "Zeitreise" zu Rabbi Aqiva (2. Jhd.d.Z.) unternimmt und dem angesichts der spitzfindigen Auslegungen des angesehenen Lehrers nur noch der Kopf brummt. Eine andere Anekdote handelt von einem skeptischen Heiden, der zu Rabbi Hillel in die Lehre geht:

"Es geschah einmal, dass ein Nichtjude zu (dem Schriftgelehrten) Schammai kam und zu ihm sprach: 'Wie viele Torot (Mehrzahl von "Tora") habt ihr?' Jener erwiderte: 'Zwei, eine schriftliche und eine mündliche Tora.' Er (der Nichtjude) entgegnete: 'Die geschriebene glaube ich dir, aber die mündliche nehme ich dir nicht ab. Mache mich zum Proselyten (d.h. Lass mich zum Judentum konvertieren) unter der Bedingung, dass du mich nur die schriftliche Tora lehrst!' Da schrie ihn jener an und entfernte ihn mit einem Verweis. Er kam vor (den Schriftgelehrten) Hillel, und der machte ihn tatsächlich zum Proselyten. Am ersten Tag lehrte er ihn: 'Alef - Bet - Gimel - Dalet' (d.h. die ersten vier Buchstaben des hebräischen Alphabets). Am folgenden Tag aber lehrte er ihn in genau der umgekehrten Reihenfolge, worauf jener ihn fragte: 'Aber gestern hast du es mir doch nicht so gelehrt!' Er (Hillel) erwiderte: 'Hast du dich nicht da auf mich verlassen? Darum verlasse dich auch jetzt auf mich, was die mündliche (Tora) anbelangt!'" (bSchab 31a).

Diese Geschichte zeigt sehr schön die Skepsis des Nichtjuden gegenüber dem Konzept einer mündlichen Tora. Insbesondere fällt die Verwunderung des Nichtjuden über die Diskrepanz zwischen mündlicher und geschriebener Tora auf. Die mündliche Lehre kann sich im Extremfall in das Gegenteil der schriftlichen verwandeln. Die Geschichte zeigt aber auch, dass Torastudium Vertrauenssache ist, die ein tragfähiges Lehrer-Schüler-Verhältnis voraussetzt.

So weit sich die mündliche von der schriftlichen Tora entfernen kann, so könnte es im Judentum andererseits "keine 'mündliche' Tora geben, die nicht in das Studium der 'schriftlichen' eingebettet wäre". (4) Trotz mündlicher Tora bewahrte das Judentum stets seinen Charakter als Buchreligion, zumal auch die mündliche Tradition später verschriftet wurde in Gestalt von Mischna und Talmud. "Der Unwissende kann nicht fromm sein", sagt Hillel in den Vätersprüchen (mAvot 2,6) und verdeutlicht damit die Bedeutung des Lernens für den frommen Juden. Gegen diesen intellektualistischen Zug gab es zwar auch innerjüdischen Widerstand - etwa in Gestalt des Chassidismus, der einen unmittelbareren Zugang zu Gott als über die Schrift suchte. Auf´s Ganze gesehen blieb er jedoch immer tonangebend, was sich auch in der großen Zahl von Juden in literarischen und publizistischen Berufen nieder schlug.

Die rabbinische Exegese erscheint dem Außenstehenden vielleicht zuweilen als spitzfindig, sie ist aber alles andere als willkürlich. Sie folgt bestimmten Regeln, die man in Reihen ("Middot") zusammen gestellt und unter dem Namen berühmter Rabbinen veröffentlicht hat. Weite Verbreitung fanden die 7 Middot des Rabbi Hillel oder die 13 Middot des Rabbi Jischmael (2.Jhd.). Beliebt ist in der jüdischen Schriftauslegung beispielsweise der Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere (oder umgekehrt). So wird aus dem Toragebot "Du sollst das Zicklein nicht in der Milch der Mutter kochen" abgeleitet: "Du sollst nicht Fleisch mit Milch kochen und essen!" (TNeof zu Ex 23,19 ). Auch in vielen anderen Fällen wird durch Verallgemeinerung die Tora verschärft. Man baut, wie man sagt, einen "Zaun um die Tora", um ihren heiligen Kern vor Übertretung zu schützen. Ähnlich wirkte sich der Schluss vom Leichteren auf das Schwerere aus (Qol wachomer): Wenn ein Gebot in einem weniger bedeutenden Fall angewendet werden muss, um wie viel mehr gilt es dann natürlich auch in einem bedeutenderen Fall.

Schon lange vor der Entstehung der historisch-kritischen Bibelauslegung, an der Juden entscheidenden Anteil hatten (Baruch Spinoza, Moses Mendelsohn), gab es im mittelalterlichen Judentum eine am Literalsinn interessierte Schriftexegese, die philologisch, linguistisch, lexikographisch und grammatikalisch auf hohem Niveau arbeitete (Ibn Esra, Schlomo ben Jitzchaq u.a.). Vermittelt über Nikolaus von Lyra profitierte von diesen Kenntnissen auch der Wittenberger Reformator Martin Luther ("Wenn Lyra nicht geleiert hätte, hätte Luther nicht getanzt").

Neben der klassisch-rabbinischen Schriftauslegung gab es bereits seit der Antike die allegorische Methode, wie sie vor allem im hellenistischen Judentum (z.B. Philo v. Alexandrien) gepflegt wurde. Hier wird nach der Tiefendimension des Bibeltextes gefragt. Da dieser "übertragene Sinn" nicht unbedingt augenfällig ist, sondern sich nur dem Fachmann bzw. dem Eingeweihten erschließt, hat diese Methode eine gewisse Affinität zu Esoterik und Mystik (>> Kabbala). Auch hier gibt es Querverbindungen zum Christentum, z.B. bei dem schwäbischen Humanisten Johannes Reuchlin.

Die jüdische Bibelauslegung mit ihrer zweifachen Tora scheint auf den ersten Blick näher am katholischen Denken zu stehen, das neben der Schrift auch die Tradition in Ehren hält. Beide unterscheiden sich allerdings insofern voneinander, als es im Judentum keine Person oder irgend ein Lehramt gibt, das das Verständnis der Bibel normiert. Es gibt vielmehr einen offenen, vielfach kontrovers geführten Diskurs, der in seiner Gesamtheit als "Wort Gottes" gilt. Hier berührt sich das eher Judentum mit dem Protestantismus, der das eifersüchtig gehütete Auslegungsmonopol der mittelalterlichen Kirche in Frage stellte und die Bibelexegese wieder demokratisierte. Freilich erinnert sein Schriftprinzip ("sola scriptura") in manchem an die Karäer, einer teilweise bis heute existierenden jüdischen Sekte, die die talmudisch-rabbinische Lehre ablehnt und nur die Hebräische Bibel selbst gelten lassen will. Diese Berufung auf die Schrift allein entsprang ursprünglich sicher in beiden Fällen einem emanzipatorischen Interesse, andererseits besteht hier immer die Gefahr des Erstarrens. Bereits zur Zeit Jesu bestritten die Sadduzäer die Geltung der mündlichen Tora. Als das Judentum 70 n.Chr. durch die Zerstörung des Jerusalemer Tempels seinen kultischen Mittelpunkt verlor, waren es nicht sie, sondern die "flexibleren" Pharisäer, die durch ihre Neuinterpretation des alttestamentlichen Erbes einen Weg aus der Katastrophe ebneten.

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1) Reinhold Krause, nach H. Schmid, Apokalyptisches Wetterleuchten, München 1947, 45f.
2) Zit. bei: F. Rothschildt, Christentum aus jüdischer Sicht, 346.317
3) Eine kleine Einschränkung ist zu machen: Die Torarollen benutzten (und benutzen bis heute) den sog. "textus receptus", einen über Jahrhunderte hinweg entstandenen "Mischtext" aus verschiedenen Handschriften, während die in der Text der unter christlichen Theologen gebräuchlichen Biblia Hebraica einer einzelnen Handschrift (Codex Leningradensis) folgt. Insofern ist der Wortlaut also doch nicht ganz deckungsgleich. Jüdische und christliche Bibelauslegung
4) E. Fackenheim, Was ist Judentum?, 63

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