Licht in der Finsternis
Predigt über 1. Thessalonicher 5,1-11
anlässlich der Eröffnung der Wanderausstellung
Kirche, Christen, Juden in Nordelbien 1933-1945
am Sonntag, den 10.11.02 in der St. Paulus-Kirche zu Heimfeld
von Klaus-Peter Lehmann
In bezug auf die Zeiten und Fristen aber, ihr Brüder,
habt ihr nicht nötig, dass euch geschrieben wird. Denn ihr selbst
wisst genau, dass der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht. Wenn
sie sagen werden: Es ist Friede und Sicherheit, dann kommt plötzliches
Verderben über sie wie die Wehen über die schwangere Frau, und
sie werden nicht entfliehen können. Ihr aber, ihr Brüder, seid
nicht in der Finsternis, dass euch der Tag wie ein Dieb überraschen
sollte. Denn ihr alle seid Söhne des Lichts und Söhne des Tages;
wir gehören nicht der Nacht noch der Finsternis an. Also lasset uns
nun nicht schlafen wie die Übrigen, sondern wachen und nüchtern
sein! Denn die Schlafenden schlafen des Nachts, und die Trunkenen sind
des Nachts trunken; wir aber, die wir dem Tage angehören, wollen
nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe
und mit der Hoffnung des Heils als Helm. Denn Gott hat uns nicht für
das Zorngericht bestimmt, sondern zur Erwerbung des Heils durch unseren
Herrn Jesus Christus, der um unsertwillen gestorben ist, damit wir, ob
wir wachen oder schlafen, zugleich mit ihm leben. Darum ermahnet einander
und erbauet einer den anderen, wie ihr auch tut.
Liebe Gemeinden aus der Harburger Innenstadt! Verehrte
und liebe Gäste!
Das nächste Mal, wenn Sie wieder mit einem Endzeitberechner
aus den Randzonen der christlichen Frömmigkeitskultur ins Gespräch
kommen, erinnern Sie sich am besten sofort an diesen Paulus-Satz: Ihr
selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommt: wie ein Dieb in der
Nacht.
Da gibt es nichts voraus zu berechnen! Keinerlei religiöse Einbruchsversicherung
hilft uns da! Was am Tag des Herrn passiert und wann das passiert, geht
über unser Fassungsvermögen, weil es unsere Planungen wie ein
Kartenhaus zusammenfallen lässt!
Wobei die Warnung des Paulus uns - vielleicht sogar gegen unsere innere
Einstellung - deutlich macht: Bei der Frage nach der Endzeit geht es um
ein Herzstück des Glaubens. Wann endlich unsere ungerechte Zeit dem
Reiche Gottes weicht, um das wir sonntäglich bitten? Wann endlich
unsere ungerechte Zeit zum Tag des Herrn wird? Wer von uns rechnet damit
aber überhaupt noch wirklich? So recht von Herzen zuversichtlich?
Sie werden es vielleicht dennoch wissen. Mit der Paulus-Frage nach dem
Tag des Messias befinden wir uns mitten im jüdischen, im rabbinischen
Lehrhaus. In einer Talmud-Thora-Schule. Früher hätte man verächtlich
gesagt: Judenschule. Aus ihr ist ein Satz von Rabbi Schmuel überliefert:
"Vergehen möge der Geist derer, die die Endzeit berechnen wollen
und die dann sagen, wenn die berechnete Zeit ohne Messias da ist: So wird
er auch nicht mehr kommen. Vielmehr sollst du ihn stets erwarten, denn
es heißt: Wenn sie sich verzögert, so harre auf ihn."
Nicht berechnen, aber auch nicht so tun und leben, als ginge alles so
weiter, wie es jetzt läuft. Sondern Aufforderung zu einer steten,
schlaflosen Wachsamkeit - in der Zeit der aussichtslosen Nacht und der
hoffnungslosen Finsternis. Wenn sie sich verzögert, so harre auf
sie. Stets. Stets.
Erinnert das nicht an den kleinen jüdischen Jungen im Konzentrationslager
Auschwitz, der betete, dass der Messias morgen, so bald wie möglich
kommen solle, um ihn und seine Eltern zu befreien, zu erlösen? Wenn
er den 27. Januar 1945 noch erlebt hatte, war dann nicht die Rote Armee
sein Messias, der den Tag des Herrn brachte, vor dem seine Peiniger Friede
und Sicherheit zeterten, dem sie nun aber als ihrem Verderben nicht mehr
entfliehen konnten.
So unbiblisch wäre diese Sicht jedenfalls nicht. Hatte doch der Prophet
Jesaja den persischen Weltbeherrscher Kyros als Messias, als Gesalbten
Gottes ausgerufen, weil er der ins Elend des Exils vertriebenen Judenheit,
dem Volke Gottes, den Weg nach Jerusalem wieder öffnete. Zweifellos
ist für jeden gläubigen Juden der Messias der Befreier des jüdischen
Volkes von allen seine jahrhundertealten antisemitischen Feinden.
Auch für die gläubigen Juden und Jesusanhänger des Neuen
Testamentes wie Lukas war es so. Besingt nicht Zacharias die Geburt des
Messias Jesus als: "Errettung von unseren Feinden und aus der Hand
aller derer, die uns hassen"? Und nennt ihn Paulus nicht "den
Befreier Israels"?
Nehmen wir diese Worte einmal ganz ernst: Jesus Christus der Befreier
Israels von seinen Feinden!
Der Platz der Kirche Jesu Christi wäre ein partnerschaftlicher und
beschützender an der Seite des Volkes Jesu. Die Kirche aus allen
Völkern wäre die Beschützerin der Synagoge gegen alle Judenfeindschaft
und allen Antisemitismus. Die Botschaft der Kirche wäre nicht die
Christianisierung der Welt und schon gar nicht die Missionierung der Juden,
sonder zuallererst wäre dies ihr Wort: Die Juden waren, sind und
bleiben das Volk der Gebote Gottes und wir, die Kirche Jesu Christi, setzen
diese Gebote auch ins Recht, indem wir, von ihrem Herzstück ausgehend,
die Nächstenliebe als Lebensgrundlage für alle Völker verkünden.
Das wäre die Mission Jesu, unsere Mission.
Wäre! Wäre! So war es leider nicht. Und so ist es leider auch
heute noch nicht. Hoffen wir, dass wir in einer Zeit beginnender Umkehr
leben.
Die Ausstellung, die wir heute in dieser Kirche eröffnen, ist ganz
sicher das Dokument einer Einsicht und eines Willens zum Neuanfang. Der
Einsicht, dass Auschwitz nicht nur die Ausgeburt des mörderischen
Wahns einiger Weniger gewesen ist, sondern dass fast die gesamte deutsche
und auch die kirchliche Kultur diesen antijüdischen Wahn mitgetragen
hatte. Selbst christliche Kritiker und Gegner der Nazis waren zu allermeist
ausgemachte Judenfeinde und bekannten sich im Streit mit den Nazis dazu,
dass sie schon immer den jüdischen Ungeist in Kirche und Kultur bekämpft
hätten. Bezüglich der Verurteilung und Schmähung des Judentums
war man sich über alle Fronten hinweg einig.
Und deshalb liegt hinter dieser zeitgeschichtlichen Einsicht eine noch
weiter zurückgehende. Sind es nicht die seit dem Mittelalter üblichen
Hasspredigten gegen die Juden; die Tausende von Legenden über angebliche
Ermordung von Christenkindern durch Juden; die ständigen Beschuldigungen
der Juden an Pest und Missernte schuld zu sein und mit dem Teufel im Bunde;
die Erfindung des Schimpfwortes vom Pharisäer; und die Erfindung
eines angeblichen alttestamentlichen gnadenlosen Rachegottes und einer
angeblich unbarmherzigen jüdischen Gesetzesfrömmigkeit? Ist
es nicht dieser jahrhundertealte christlich-abendländische Ungeist
gewesen, dessen mörderische Ernte Auschwitz war?
So schwer es uns mit dieser Einsicht gehen mag, der Wille zum Neuanfang
und sein Vollbringen sind noch ein Weiteres und sicher Schwereres. Ihn
bringt aber die Erklärung der Nordelbischen Synode zu "Christen
und Juden" zum Ausdruck: "Einsichtiger geworden, sagen wir:
die Zeit ist reif, unser Verhältnis zum Judentum zu erneuern. Wir
wollen unser Denken und Handeln daran orientieren, dass wir von den Anfängen
der christlichen Verkündigung her mit ihm verbunden sind. Wir wollen
über unseren Glauben sprechen, ohne Juden zu schmähen."
"Diese Einsicht ist im kirchlichen Leben umzusetzen," heißt
es später. Wie kann das aussehen?
Die "Initiative Gedenken in Harburg" hat als ihr Motto den Satz
des Baal Schem Tov: "Vergessen verlängert das Exil, Erinnern
ist das Geheimnis der Erlösung." Wieso eigentlich gerade und
ausgerechnet diese Erinnerung an jene mörderischen Jahre? Aber gilt
es nicht das Gedächtnis derjenigen zu bewahren, die ohne sich zu
kennen oder zu sehen hier und da eben doch im mörderischen Chaos
sich so zu verhalten wussten, als sei die Menschlichkeit nicht aus den
Fugen und das Heil mit jedem Gruß einem Mörder anvertraut?
Die alle gesellschaftlichen Pflichten und Paragraphen beiseite ließen
und ihre höchste Pflicht darin gesehen haben, in der Welt der Schmähungen,
Verfolgungen, des Krieges und der Lager sich nicht den Tugenden des Todes
zu ergeben, sondern sich, mit welchem Risiko auch immer, ihre Menschlichkeit
bewahrten, indem sie den fremden Nächsten schützten? Was wäre,
wenn es diese Zeugen einer bleibenden Barmherzigkeit nicht gegeben hätte?
Einer dieser Zeugen ist für mich Dietrich Bonhoeffer. Er hat in jener
Zeit, die sich im Mord an Gottes Volk versuchte, gegenüber seinen
Pfarramtskandidaten prophetisch gesagt: "Hier wird wahrscheinlich
die Entscheidung fallen, ob wir noch Kirche des gegenwärtigen Christus
sind. Judenfrage!" An unserem Verhältnis zum Judentum entscheidet
sich, ob wir Kirche des Juden Jesus sind oder ob wir unter seinem Namen
heimlich einer anderen Religion frönen.
Alle Propheten weisen über ihre Zeit hinaus. Aus der Not der Bedrängnis
weisen sie auf das ewig Wahre. So die Worte des Propheten Sacharja, die
Dietrich Bonhoeffer 1938 zitierte, als die Synagogen brannten: "Wer
euch antastet, tastet seinen Augapfel an." So ist es ja tatsächlich.
Ohne das Judentum, ohne das aus ihm kommende und der Welt geschenkte Gebot
der Nächstenliebe, ohne dieses Licht in der Finsternis wären
wir auf immer unverbesserlich blind für das, was Menschlichkeit ist.
Ein Besucher unserer Ausstellung schrieb in Altona, wo sie zuletzt war,
in das Besucherbuch: "Abraham, Mose, Jesaja, Daniel, Jesus, Petrus,
Paulus, Johannes usw. - sie alle waren Juden. Haben wir Christen unsere
Wurzeln vergessen? Wir kommen entweder mit den Juden in den Himmel oder
gar nicht." Amen.
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