Dietrich Bonhoeffers Weg in den aktiven Widerstand
Stationen eines mühevollen Umdenkens im Verhältnis Christen
und Juden
in der Zeit des Nationalsozialismus
von Werner Petri
Ausgangspunkt meiner Überlegungen sind die folgenden
Fragen: Welche Vorgeschichte hat dazu geführt, dass Christen und
Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus trotz aller Erfahrungen von
Diskriminierung ihrer jüdischen Nachbarn, von Entwürdigung,
Ausgrenzung und Verfolgung nicht zu einer solidarischen Haltung gefunden
haben? Woher kam diese große Distanz zu den jüdischen Mitbürgern,
sogar noch gegenüber den Mitchristen jüdischer Herkunft?
Ich möchte in diesem Vortrag versuchen in 5 Stationen den Weg D.
Bonhoeffers ansatzweise nachzuzeichnen in der Hoffnung, dass auf diesem
Weg im Blick auf meine Eingangsfragen eine Antwort etwas näher rückt.
Die 5 Stationen sind:
1. Bonhoeffers Herkunft und seine Erfahrungen mit Juden und Judentum
2. Bonhoeffers Vortrag vom April 1933 "Die Kirche vor der Judenfrage"
3. Das Ringen um das Betheler Bekenntnis vom Herbst 1933
4. Die Stellungnahme Bonhoeffers während der Zeit der BK-Predigerseminare
5. Sein Schritt in den aktiven Widerstand und seine damit verbundenen
theologischen Einsichten (1943-1945)
I. D. Bonhoeffers Herkunft, Studienweg und seine Erfahrungen mit Juden
und Judentum
D. Bonhoeffer wurde 1906 in Breslau als 6. Kind von 8 Kindern geboren.
Sein Vater war Professor für Psychiatrie und Klinikchef. Seine Mutter
eine geborene von Hase. Ihr Bruder war später zur Zeit von Bonhoeffers
Tegelergefängniszeit Stadtkommandant von Berlin. Ihr Vater Theologieprofessor
und zeitweise Hofprediger Wilhelm II. Also eine einflussreiche, großbürgerliche
Familie. 1912 wurde Bonhoeffers Vater nach Berlin auf einen Lehrstuhl
für Psychologie und Neurologie berufen und er wurde Chef des großen
Berliner Klinikzentrums Charite: Der älteste Bruder Bonhoeffers ist
im 1. Weltkrieg gefallen. Seine Schwester Sabine war mit Gerhard Leibholz
verheiratet, später Professor für Staatsrecht in Göttingen,
einem Juden. Deshalb mussten sie, nachdem er von seinem Lehrstuhl verdrängt
worden war, 1937 oder 1938 nach England emigrieren.
Mir ist aufgefallen, dass meines Wissens alle evangelische Theologen,
die sich innerhalb der Bekennenden Kirche engagiert für Juden einsetzten,
direkt von den Maßnahmen gegen Juden Betroffene waren, entweder
durch Familienmitglieder wie Bonhoeffer oder durch ihre jüdische
Frau, wie Helmut Gollwitzer und H. J. Iwand. Diese persönliche Betroffenheit
scheint sie zu einer anderen Haltung gebracht zu haben.
Bonhoeffer studierte Theologie von 1923 bis 1928 in Tübingen und
Berlin und schloss dieses Studium 1928 mit dem 1. Examen und der gleichzeitigen
Promotion ab. 1930 folgte das 2. Examen und seine Habilitation. Er muss
also ein eifriger Arbeiter gewesen sein. 1931 arbeitete er neben seiner
Tätigkeit als Privatdozent als Hilfsprediger am Prenzlauer Berg in
Berlin in einer Arbeitergemeinde und wurde Jugendsekretär des Weltbundes
für Freundschaftsarbeit der Kirchen. Hier entstanden seine oekumenischen
Kontakte, die später für ihn so wichtig wurden.
Interessant ist, dass Bonhoeffer trotz vielfältiger persönlicher
Kontakte mit Juden durch seinen Schwager, durch Assistenzärzte seines
Vaters oder Nachbarn, allerdings alles sog. assimilierte Juden, erfassbar
keinerlei Erfahrungen mit gelebtem jüdischen Glauben hatte. Auch
während seines Studiums gibt es keine Hinweise auf Begegnungen mit
jüdischer Religion, sei es dem Talmud, sei es die zur gleichen Zeit
starke jüdische Renaissance, verkörpert durch Personen wie Franz
Rosenzweig, Leo Baeck oder Martin Buber. Auch von der Auseinandersetzung
Leo Baecks mit Adolf v. Harnacks "Wesen des Christentums" scheint
Bonhoeffer, wie die meisten Theologen seiner Zeit, keine Kenntnis genommen
zu haben. Bei seinen theologischen Lehrern sind ihm aber mit Sicherheit
die alten christlichen antijüdischen Stereotype begegnet: vom neuen
Bund, der den alten abgelöst hat, vom Strafgericht Gottes über
die Juden wegen ihrer Schuld am Tod Jesu und die Substitutionslehre. Wie
fest diese antijüdischen Stereotype in der ev. Theologie verwurzelt
waren kann man am Darmstädter Wort von 1948 sehen, einem Wort mit
dem der Bruderrat der Bekennenden Kirche nach dem Bekanntwerden aller
Fakten über die furchtbaren Verbrechen an den europäischen Juden
einen Neuanfang versuchen wollte. Trotzdem heißt es in diesem Wort,
von dem sich später einige der Mitverfasser zu distanzieren suchten:
1. Indem Gottes Sohn als Jude geboren wurde, hat die Erwählung und
Bestimmung Israels ihre Erfüllung gefunden.
2. Indem Israel den Messias kreuzigte, hat es seine Erwählung und
Bestimmung verworfen.
3. Die Erwählung Israels ist durch und seit Christus auf die Kirche
aus allen Völkern ... übergegangen.
4. Gottes Treue lässt Israel, auch in seiner Untreue und in seiner
Verwerfung nicht los. Dass Gottes Gericht Israel in der Verwerfung bis
heute nachfolgt, ist Zeichen seiner Langmut.
Wie tief müssen diese Stereotype sitzen, dass man 1948 noch meint
so reden zu müssen!
Das war die Tradition in der D. Bonhoeffer groß geworden ist. Ich
will sie noch ergänzen durch zwei Zitate, die erklären könne,
warum sich später selbst die Bekennende Kirche so schwer tat sich
entschieden auf die Seite der Juden zu stellen. Sie schaffte ja diese
Solidarität noch nicht einmal mit ihren zum Christentum übergetretenen
Juden. Otto Dibelius schrieb 1928 als Generalsuperintendent in seinem
Osterrundbrief: "Meine lieben Brüder! Für die letzten Motive,
aus denen die völkische Bewegung hervorgegangen ist, werden wir alle
nicht nur Verständnis, sondern volle Sympathie haben. Ich habe mich
trotz des bösen Klanges, den das Wort vielfach angenommen hat, immer
als Antisemit gewusst. Man kann nicht verkennen, dass bei allen zersetzenden
Erscheinungen der modern Zivilisation das Judentum eine führende
Rolle spielt.." Und zwei Jahre später, in der Adventszeit 1930
ruft Dibelius, der später, in der Zeit der Bundesrepublik lange Jahre
Ratsvorsitzender der EKD war, im Berliner Sonntagsblatt zu einem deutschen
Einkaufsethos auf: (1930, also lange vor den Nazis!) "Hier muss der
Hebel angesetzt werden. Wir müssen es von einem Haus zum anderen
sagen: eine anständige Frau kauft deutsche Ware. Mag der geschminkte
und gepuderte Pöbel tun was er nicht lassen kann - die anständige
deutsche Frau kauft deutsche Ware." So viel zur Vorgeschichte.
II. Bonhoeffers beginnender Widerstand. Der Vortrag vom April 1933 "Die
Kirche vor der Judenfrage"
Sofort nach der Machtübergabe begannen die Nazis mit ihren Maßnahmen
gegen die Juden. Am 1. April mit dem Boykott jüdischer Geschäfte,
am 7. April folgte das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums.
Noch im April hielt Bonhoeffer einen Vortrag in einem Pfarrerkreis, der
zunächst im "Vormarsch" veröffentlicht wurde, der
Zeitschrift der Jung-Reformatorischen Bewegung, später in der "Jungen
Kirche" und im Juli 33 in der Niederdeutschen Kirchenzeitung. Es
gab also noch die Möglichkeit, seine Stimme laut werden zu lassen.
In diesem Vortrag ist deutlich die Spannung zu spüren zwischen Bonhoeffers
Willen zum Eintreten für die Juden, nicht nur Christen jüdischer
Herkunft und seinem fehlenden theologischen Rüstzeug für diese
Stellungnahme. In einem ersten Teil geht er der Frage nach, was Aufgabe
des Staates in dieser Frage ist und beschreibt, wie er die Aufgabe der
Kirche gegenüber dem Staat in diesem Fall sieht. Dabei kommt er zu
einer klaren Abkehr von der damals üblichen lutherischen Zwei-Reiche-Lehre.
Neu ist seine Betonung der Verantwortung der Kirche gegenüber allen
Juden, nicht nur den getauften.
"Die in der Geschichte einzigartige Tatsache, dass der Jude unabhängig
von seiner Religionszugehörigkeit allein um seiner Rassenzugehörigkeit
willen vom Staat unter Sonderrecht gestellt wird, gibt dem Theologen zwei
neue, getrennt zu behandelnde Probleme auf. Wie beurteilt die Kirche dies
staatliche Handeln und welche Aufgabe erwächst ihr daraus? Was ergibt
sich für die Stellung der Kirche zu den getauften Juden in den Gemeinden?"
(GS II S. 44).
Ich wiederhole die beiden Fragen:
1. Wie beurteilt die Kirche dieses staatliche Handeln? Welche Aufgaben
folgen daraus für die Kirche?
2. Was ergibt sich daraus für die Stellung der Kirchen zu den getauften
Juden in ihren Gemeinden?
Für Bonhoeffer steht fest, dass die Kirche hier den Staat fragen
muss, ob sein Handeln an den Juden legitim ist. Der Staat hat die Aufgabe
Recht und Ordnung zu schaffen, nicht Rechtlosigkeit und Unordnung. Im
Blick auf die rechtliche Ausgrenzung der Juden ist für Bonhoeffer
die Aufgabe klar gestellt. Neu und bisher einsame Position ist die weitere
Behauptung Bonhoeffers: Neben dem Dienst an den Opfern staatlichen Handelns
sieht er auch die Aufgabe: "nicht nur die Opfer unter dem Rad zu
verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen" (S.
45). Das wäre dann, so stellt er fest, ein unmittelbares politisches
Handeln der Kirche und nur dann möglich und eingefordert, wenn die
Kirche den Staat in seiner Recht und Ordnung schaffenden Funktion versagen
sieht. Für diese Situation spricht B. hier schon vom dann gegebenen
statu confessionis. Er betont aber in diesem Vortrag, dass er bisher nur
die ersten beiden Handlungsmöglichkeiten sieht, nämlich den
Staat nach der Legimität seines Handelns zu fragen und den Dienst
an den Opfern. Die dritte Möglichkeit, dem Rad in die Speichen zu
fallen, das müsste ein "Evangelisches Konzil" entscheiden.
Diese Themen waren für einen Teil der Anwesenden so revolutionär,
dass sie den Raum verließen.
Zur zweiten Frage nach dem Umgang der Kirche mit ihren Gliedern jüdischer
Herkunft sagt Bonhoeffer eindeutig: "Die Kirche kann sich ihr Handeln
an ihren Gliedern nicht vom Staat vorschreiben lassen" (S.50). "Der
getaufte Jude ist Glied unsrer Kirche. Ein Ausschluss bleibt kirchliche
Unmöglichkeit" (S.52). Im Blick auf diese Frage diskutiert Bonhoeffer
später die Notwendigkeit der Kirchenspaltung, des Ausschlusses oder
der Trennung von den Gliedern, die eine andere Position vertreten. Wie
wenig diese eindeutige Haltung in der späteren Bekennenden Kirche
Allgemeingut wurde, möchte ich nur mit einem Zitat des Hauptinitiators
des Pfarrernotbundes und der späteren BK zeigen.
Martin Niemöller schrieb in den Auseinandersetzungen um die Einführung
des Arierparagraphen in der Kirche am 2. Nov. 1933 in seinen "Sätzen
zur Arierfrage in der Kirche":
"Diese Erkenntnis [dass man es mit der christlichen Gemeinschaft
auch gegenüber den Mitchristen jüdischer Herkunft ernst nehmen
muss] verlangt von uns, die wir als Volk unter dem Einfluss des jüdischen
Volkes schwer zu tragen gehabt haben, ein hohes Maß an Selbstverleugnung,
so dass der Wunsch, von dieser Forderung dispensiert zu werden, begreiflich
ist. Da das Bekenntnis auf gar keinen Fall und um gar keinen Preis auch
nur vorübergehend außer Kraft gesetzt werden darf, kann die
Frage nur so angefasst werden, dass wir auf Grund von 1.Kor 8 von den
Amtsträgern jüdischer Abstammung heute um der herrschenden Schwachheit'
willen erwarten dürfen, dass sie sich die gebotene Zurückhaltung
auferlegen, damit kein Ärgernis gegeben wird. Es wird nicht wohlgetan
sein, wenn heute ein Pfarrer nichtarischer Abstammung ein Amt im Kirchenregiment
oder eine besonders hervortretende Stellung in der Volksmission einnimmt"
(Gerlach S.87).
Dabei muss man wissen , dass die Reichsregierung gar nicht beabsichtigte
den Arierparagraphen in den Kirchen durchzusetzen, bestimmte Gruppen handelten
hier im vorauseilenden Gehorsam. Außerdem gab es unter den 18.000
evangelischen Pfarrern gerade mal 37 jüdischer Herkunft und von diesen
waren bereits 8 pensioniert. Aber selbst die Bekennende Kirche schaffte
es nicht einmal sich vor diese wenigen Mitbrüder zu stellen.
III. Das Ringen um das Betheler Bekenntnis
Nachdem die Gruppen der Deutschen Christen Mitte 1933 mit Hilfe der NSDAP
und dem Druck der Regierungen die große Mehrheit der Kirchenwahlen
gewonnen hatten, wollten der Pfarrernotbund und Teile der sich nun bildenden
Bruderschaften die DC zwingen offen zu legen, ob sie noch auf dem Boden
des christlichen Bekenntnisses stehen oder nicht. In einem Brief schreibt
Bonhoeffer: "Es wird mir immer klarer, dass wir eine große
völkische Nationalkirche bekommen werden, die das Christentum in
seinem Wesen nicht mehr erträgt, und dass wir uns auf völlig
neue Wege, die wir dann zu gehen haben gefasst machen müssen. Die
Frage ist wirklich Germanismus oder Christentum und je bälder der
Konflikt offen zu tage tritt, desto besser" ( GS II S.79). Bonhoeffer
bekommt zusammen mit Hermann Sasse den Auftrag einen Entwurf für
ein zeitgemäßes, diese Fragen klärendes Bekenntnis zu
schreiben. Die Endfassung, die Bonhoeffer aber nicht mehr mitunterschreibt,
ist im Nov. 1933 im Chr. Kaiser Verlag veröffentlicht worden und
hat bis 1934 mehrere Auflagen erlebt.
In diesem sehr umfangreichen Bekenntnis, vielleicht einer Vorstufe des
Barmer Bekenntnisses von 1934, erarbeitet D. Bonhoeffer u.a. zusammen
mit Lukas Vischer einen längeren Abschnitt zum Thema: "Die Kirche
und die Juden".
Im ersten Entwurf heißt es in diesem Abschnitt: "Die Kirche
lehrt, dass Gott unter allen Völkern der Erde Israel erwählt
hat zu seinem Volke". Dann folgt zwar wieder das Stereotyp von der
Verwerfung des Messias und der Schuld an seinem Tod. Dabei wird aber auch
gesagt "er starb durch sie und für sie". Neue Töne
folgen dann in einem weiteren Absatz:
"Gott preist seine Treue dadurch überschwänglich, dass
er Israel nach dem Fleisch, aus welchem Christus nach dem Fleisch geboren
ist, trotz aller Untreue auch nach der Kreuzigung des Christus noch die
Treue hält. Er will die Erlösung der Welt, die er mit dem Herausruf
Israels angefangen hat, mit den Juden auch vollenden (Röm 9-11).
Darum bewahrt er von Israel nach dem Fleisch einen "heiligen Rest",
der weder durch Emanzipation und Assimilation in einer anderen Nation
aufgehen noch durch zionistische oder ähnliche Bestrebungen eine
Nation unter anderen werden, noch durch pharaonische Maßnahmen ausgerottet
werden kann. Dieser "heilige Rest" trägt den character
indelebilis des auserwählten Volkes." ( GS II S.115f) .
Hier spürt man, wie sehr diese Auseinandersetzungen Bonhoeffer gezwungen
haben sich mehr mit dem Judentum zu befassen. Es folgen dann noch Sätze,
die den Auftrag der Kirche betonen, die Juden zur Umkehr zu rufen und
Glaubende zu taufen. Hier kämpft Bonhoeffer zu seiner Zeit an einer
anderen Front. "Eine Judenmission, die aus kulturellen oder politischen
Erwägungen sich weigert, überhaupt noch Judentaufen zu vollziehen,
verweigert ihrem Herrn den Gehorsam" (S.116). Das war die damalige
Front. DC-Pfarrer weigerten sich Juden zu taufen. Gegen sie und die gesamte
NS-Ideologie wendet sich ein weiterer Satz: "Die Gemeinschaft der
zur Kirche Gehörigen wird nicht durch Blut und also auch nicht durch
die Rasse, sondern durch den Heiligen Geist und die Taufe bestimmt."
Wir verwerfen jeden Versuch, die geschichtliche Sendung irgendeines Volkes
mit dem heilsgeschichtlichen Auftrag Israels zu vergleichen oder zu verwechseln.
Es kann nie und nimmer Auftrag eines Volkes sein, an den Juden den Mord
von Golgatha zu rächen. "Mein ist die Rache, spricht der Herr"
(5.Mose 32,35 Hebr 10,30). "Wir wenden uns gegen das Unternehmen,
die deutsche evangelische Kirche durch den Versuch, sie umzuwandeln in
eine Reichskirche der Christen arischer Rasse ihrer Verheißung zu
berauben. Denn damit würde ein Rassegesetz vor dem Eingang zur Kirche
aufgerichtet und wäre eine solche Kirche selbst zur judenchristlichen
gesetzlichen Gemeinde geworden". (GS II S.116f).
Hier ist mit Händen zu greifen, wie Bonhoeffer mit der alten Theologie,
der alten Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium, versucht
seinen Kampf mit den Positionen der DC und der NS-Ideologie zu kämpfen.
Friedrich v. Bodelschwingh, der damals eine kurze Zeit als Reichsbischof
kandidierte aber bald seine Kandidatur auf Druck der Nazis zurückzog,
wagte es nicht, diesen Entwurf so wie er war zu veröffentlichen.
Es begann ein langer Bearbeitungsprozess mit einer Reihe Gutachten an
dessen Ende Bonhoeffers und Sasses Entwurf so verändert war, der
Abschnitt "Die Kirche und die Juden" war ganz gestrichen worden,
dass Bonhoeffer nicht mehr bereit war zu unterzeichnen. Das Bekenntnis
war ihm zu sehr verwässert und entschärft worden.
IV. Die Zeit der BK-Predigerseminare
Nachdem die Deutschen Christen die Kirchenwahlen mehrheitlich gewonnen
und Ludwig Müller Reichsbischof geworden war, auch die Mehrheit der
Landeskirchenleitungen DC-geprägt und regierungstreu geworden waren,
begann die Bekennende Kirche, so gut es ging, Parallelstrukturen aufzubauen.
Sie bot eigene Examina an, eigene Vikarsausbildung und Ordination. Bei
der Anstellung durch die Bekennende Kirche bestand aber das Risiko kein
oder nur ein geringes Gehalt zu bekommen. D. Bonhoeffer wurde mit der
Leitung eines dieser Predigerseminare beauftragt. Die ersten fünf
fanden zwischen 1935 und 1937 in Finkenwalde statt. Später, nach
dem Verbot durch die Gestapo noch bis 1940 an wechselnden Orten in Pommern
illegal. In diesen Vikarskursen bemühte sich Bonhoeffer einerseits
mit ihnen in einer kommunitätsähnlichen Weise zu leben. Er war
überzeugt, dass nur ein solches frommes, christliches Leben mit festen
Regeln die Kraft geben würde, die für den Kampf gegen die NS-Ideologie
u. die DC-Kirche nötig war.
In dieser Zeit entstanden seine beiden Bücher: "Gemeinsames
Leben" und die "Nachfolge". Im Unterschied zur gleichzeitig
entstehenden liturgischen Bewegung der Berneuchner um das Kloster Alpirsbach
im Schwarzwald, wo der Wert der Gregorianik für die evangelische
Kirche wiederentdeckt wurde, bestand Bonhoeffer aber bei seinen Vikaren
darauf: "Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen".
Als Kontraststimme möchte ich wieder eine Stimme aus der Bekennenden
Kirche zitieren. Hans Asmussen, den E. Bethge nach Karl Barth den geachtetsten
Theologen der BK nennt, nach 1945 gehörte er zu den führenden
Männern beim Aufbau der EKD und hatte lange Leitungsämter inne.
Hans Asmussen schrieb in seinem Buch: "Das Kirchenjahr" 1935
im Zusammenhang mit dem 10. Sonntag nach Trinitatis, dem Juden- oder Israelsonntag
"Die Zeit des Judentums ist vergangen. Israel hat die große
Stunde Gottes nicht erkannt .... Dahin ist es gekommen, weil es seinen
Gottesdienst verkehrte. Die Juden haben aus dem Haus, welches mit Recht
Gottes Haus war, einen Tempel gemacht, in dem sie dem Gelde dienten. Darum
war ihnen auch das Kommen Christi im Fleisch etwas Fremdes. Sie hassten
ihn mit Notwendigkeit, weil er ihr Ende offenbar machte. Das neue Wesen
[also die neue durch Christus geschaffene Gemeinschaft] kennt keinen Frieden
mit Juden und Heiden. Beiden steht die christliche Kirche in unüberbrückbarem
Gegensatz gegenüber, solange sie überhaupt noch Kirche ist".
Das schreibt Asmussen im gleichen Jahr in dem die Nürnberger Rassegesetze
beschlossen und durchgeführt werden und die Ausgrenzung und Verfolgung
der Juden schon weit vorangeschritten ist. Bonhoeffer nennt in dieser
Zeit in einem Vortrag vor Gremien der BK die Aufgabe, sich endlich mit
dem Verhältnis von Kirche und Synagoge zu beschäftigen. Er hat
erkannt, dass es hier nicht nur um die ethische Frage des Verhaltens gegenüber
den Juden geht, sondern die theologische Frage nach der Ekklesiologie,
der Lehre von der Kirche. Da muss das Verhältnis zur Synagoge endlich
geklärt werden.
V. Der Weg in den aktiven Widerstand u. dabei gewonnene
theologische Einsichten
Auf Grund seiner frustrierenden Erfahrungen in der Bekennenden Kirche
und seiner eigenen neu gewonnenen Haltung tat Bonhoeffer den für
einen lutherischen Theologen seiner Zeit fast unmöglichen Schritt
und schloss sich dem aktiven Widerstand gegen das Naziregime an. Im Amt
Canaris wurde er beauftragt, über seine ökumenischen Kontakte
das Ausland über die Vorgänge innerhalb Deutschlands zu informieren
und über die Pläne und Aktionen der Oppositionsbewegung.
Auf Grund dieser Tätigkeit wurde er im April 1943 verhaftet und kam
ins Wehrmachtsgefängnis in Tegel. Im Februar 1945 wurde er ins KZ-Buchenwald
eingeliefert und am 9. April zusammen mit Canaris, Oster u.a. im KZ Flossenbürg
in der Oberpfalz hingerichtet.
Wegen seiner Teilnehme am aktiven Widerstand wurde D. Bonhoeffer nicht
in die Fürbittlisten der Bekennenden Kirche aufgenommen.
In den Fragmenten, die später als seine Ethik herausgegeben wurden,
schreibt Bonhoeffer 1940:
"Weil Jesus Christus der verheißene Messias des israelisch-jüdischen
Volkes war, darum geht die Reihe unserer Väter hinter die Erscheinung
Jesu Christi zurück in das Volk Israel. Die abendländische Geschichte
ist nach Gottes Willen mit dem Volk Israel unlöslich verbunden, nicht
nur genetisch, sondern in echter unaufhörlicher Begegnung. Der Jude
hält die Christusfrage offen. .... Eine Verstoßung der Juden
aus dem Abendland muss die Verstoßung Christi nach sich ziehen;
denn Jesus war Jude". (S.31)
Man kann heute die Brisanz solcher Sätze nur ahnen, wenn man um die
zur gleichen Zeit stattfindenden massiven Bemühungen weiß alles
"Jüdische" aus dem Gesangbuch, möglichst sogar aus
dem NT zu entfernen.
In diesen Fragmenten findet sich auch der Entwurf eines Schuldbekenntnisses,
das wohl ebenfalls um das Jahr 1940 geschrieben wurde. Dort findet sich
der folgende Absatz: "Die Kirche bekennt, die willkürliche Anwendung
brutaler Gewalt, das leibliche und seelische Leiden unzähliger Unschuldiger,
Unterdrückung, Hass und Mord gesehen zu haben, ohne ihre Stimme für
sie zu erheben, ohne Wege gefunden zu haben, ihnen zu Hilfe zu eilen.
Sie ist schuldig geworden am Leben der schwächsten und wehrlosesten
Brüder Jesu Christi" ( S. 50) . Bonhoeffer schreibt hier nicht:
"schuldig am Leben der Juden". Er schreibt " schuldig am
Leben der schwächsten und wehrlosesten Brüder Jesu Christi".
Für ihn ist das eine viel stärkere innere Solidarisierung. Man
muss diese Umschreibung zusammen sehen mit seinem Verständnis von
Christengemeinde, wie er sie schon in seiner Dissertation "Sanctorum
Commnunio" entwickelt hat. Darin kommt er zu dem Begriff: "Christus
als Gemeinde existierend". In der aus dem Geist Christi lebenden
Gemeinschaft ist Christus gegenwärtig und wird er vergegenwärtigt.
Eine solche Gemeinschaft, die dem Leiden und der Vernichtung seiner "schwächsten
und wehrlosesten Brüder" gleichgültig gegenüber steht,
ist für Bonhoeffer nicht mehr Christengemeinde. Ohne die Juden pervertiert
der christliche Messias zu einem germanischen Gott, einem deutschen Polizeigott
zur Überwachung der rassischen Reinheit. Für Bonhoeffer verbindet
Christus die Kirche mit den Juden auf Leben und Tod.
In diesem Schuldbekenntnis geht es dann weiter: "Die Kirche bekennt,
Beraubung und Ausbeutung der Armen, Bereicherung und Korruption der Starken
stumm mitangesehen zu haben. Die Kirche bekennt, schuldig geworden zu
sein an den Unzähligen, deren Leben durch Verleumdung, Denunziation,
Ehrabschneidung vernichtet worden ist. Sie hat den Verleumder nicht seines
Unrechtes überführt und hat so den Verleumdeten seinem Geschick
überlassen" (S. 50f).
Bonhoeffer musste so reden, denn auf Grund seiner konspirativen Tätigkeit
wusste er von den Deportationen nach Polen und in die besetzten russischen
Gebiete und er wusste von der furchtbaren Tätigkeit der Einsatzgruppen
in diesem Gebieten.
Wenn man diese Sätze, geschrieben mitten in Deutschland 1940 oder
41 vergleicht mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945, also nach
der Befreiung, als schon ein großer Teil der furchtbaren Verbrechen
an den europäischen Juden bekannt war, einem Bekenntnis, das zudem
vor allem auf Druck der ökumenischen Delegation zustande kam, dann
versteht man, wie weit Bonhoeffer seiner Kirche und ihrer Theologie voraus
war.
In Stuttgart hieß es 1945:
"Wir sind für diesen Besuch (der ökumenischen Delegation)
um so dankbarer, als wir uns mit unserem Volk nicht nur in einer großen
Gemeinschaft der Leiden wissen, sondern auch in einer Solidarität
der Schuld. Mit großem Schmerz sagen wir: uns ist unendliches Leid
über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren
Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen
Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi
gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregime
seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass
wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher
geglaubt und nicht brennender geliebt haben".
Kein Wort zu den Verbrechen an den Juden. Kein Wort über den Anteil
des christlichen Antijudaismus an der Entstehung des Feindbildes der Juden.
Ich möchte diese Skizze des Weges von D. Bonhoeffer abschließen
mit einem Zitat aus den letzten Texten und Briefen, die von ihm erhalten
geblieben und als "Widerstand und Ergebung" veröffentlicht
wurden. Darin findet sich ein Brief vom Mai 1944 zur Taufe seines Patenkindes.
In diesem Brief schreibt D. Bonhoeffer "Unsere Kirche, die in diesen
Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat als wäre sie
ein Selbstzweck, ist unfähig, Träger des versöhnenden und
erlösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu
sein. Darum müssen die früheren Worte kraftlos werden und verstummen,
und unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: Im Beten und
im Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren
in den Dingen des Christentums muss neu geboren werden aus diesem Beten
und aus diesem Tun." In einem anderen Brief heißt es: "Nicht
der religiöse Akt macht den Christen, sondern das Teilnehmen am Leiden
Gottes im weltlichen Leben".
VI Schluss
Wer sich diesen mühevollen und z.T. sehr einsamen Kampf ins Gedächtnis
ruft und dazu die vielen ganz anderen Stimmen noch einmal hört, die
im Unterschied zu Dietrich Bonhoeffer den Neuanfang der evangelischen
Kirchen nach 1945 mitprägen konnten, der versteht, warum es in den
protestantischen Landeskirchen bis in die 70 er und 80 er Jahre gedauert
hat, bis es wenigstens in Synodenerklärungen und Kirchenleitungserklärungen
endlich zu einem wirklichen Neuanfang kam und einem neuen Bewusstsein
über die unlösliche Bindung der christlichen Kirchen an ihre
jüdischen Wurzeln. Aber es ist noch ein langer Weg bis dieses neue
Verständnis zum Allgemeingut in Kirchengemeinden und evangelischen
Theologie wird.
Verwendete Literatur:
D. Bonhoeffer: Gesammelte Werke Bd 2, 1959
D. Bonhoeffer: Ethik, 1961
D. Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, 1958
Wolfgang Gerlach: Als die Zeugen schwiegen, 2. Aufl. 1993
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