Das litauische Jerusalem - ein geschichtlicher Überblick
von Stefan Schreiner

Als Napoleon auf seinem Zug gegen Rußland 1812 in Wilna Station gemacht hat, soll er, wie die Geschichte zu erzählen weiß, beim Anblick der vielen Juden mit langen PEJES ("Schläfenlocken") und schwarzen Kaftanen ausgerufen haben: "Monsieurs, mir scheint, wir sind in Jerusalem". Was immer an dieser Geschichte wahr sein mag, für die jüdische Welt war und ist WILNE, das jüdische Wilna (Vilnius) bis zum heutigen Tage JERUSCHOLAJIM DE-LITE, das "litauische Jerusalem" geblieben. Ist doch nicht nur die Geschichte der Stadt im allgemeinen von allem Anfang an Teil auch der jüdischen Geschichte. Vielmehr ist die Stadt untrennbar verbunden mit den Biographien vieler großer Gestalten der jüdischen Geschichte, der Kultur- und Geistesgeschichte ebenso wie mit den Namen so mancher bedeutender politischer, wissenschaftlicher und / oder religiöser Institution. Bereits im 17. und 18. Jahrhundert war die dortige jüdische Gemeinde nicht nur zur zahlenmäßig stärksten in Litauen angewachsen, sondern war zu einem Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit geworden, dessen Glanz und Ruhm weit über die Grenzen der Stadt hinaus erstrahlte. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert sollte Wilna, wie es in einem jiddischen Gedicht heißt, als SCHTOT FUN GAJST UN TMIMES, als "Stadt des Geistes und der Vollkommenheit" in der jüdischen Welt ebenso bekannt wie berühmt werden; und seit dem 19. Jahrhundert waren Juden in kaum einer anderen Stadt so reich an eigenen religiösen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Institutionen jeder Art, waren sie so fortschrittlich und modern wie traditionell und wenig assimiliert zugleich wie gerade im "litauischen Jerusalem".

Die polnische Zeit
Die Anfänge der jüdischen Geschichte Wilnas verlieren sich im Nebel der Geschichte. Wann die ersten Juden nach Wilna gekommen sind, wissen wir nicht. Der Legende nach soll Großfürst Gediminas (1316-1341), der Gründer Wilnas, die ersten Juden in die Stadt geholt haben, als er zum Bau seiner neuen Stadt Menschen aus allen Völkern, darunter auch Juden, eingeladen hatte. Jedoch, im priuilegium de libertatibus iudaeorum Vytautas' (Witolds) des Großen (1352-1430; 1401-1430 Großfürst Litauens) von 1388, der magna charta, die - 1507 von König Sigismund I. (1506-1548) bestätigt - bis ins 18. Jahrhundert hinein die Grundlage des rechtlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens der Juden in Litauen bildete, werden nur "die unserer Majestät unterstehenden Juden von Brest, Troki (Trakai), Grodno, Luck, Vladimir und einigen anderen Städten unseres Großfürstentums Litauen" genannt, Juden in Wilna aber nicht erwähnt. Ist damit ihre Anwesenheit in Wilna auch nicht grundsätzlich ausgeschlossen, vielleicht haben seit Ende 13. / Anfang 14. Jahrhundert tatsächlich Juden dort gelebt, so fehlt doch bisher noch der sichere Beleg dafür. Das erste sichere Datum, das die dauerhafte Anwesenheit einer jüdischen Gemeinde in der Stadt bezeugt, könnte das Jahr 1487 sein, in dem nach Auskunft des alten PINKES der CHEWRE KADISCHE ("Beerdigungsbruderschaft") der erste jüdische Friedhof gegenüber des Schloßbergs angelegt worden ist.
Die Anfänge der jüdischen Gemeinde in Wilna scheinen indessen schwierig und von Auseinandersetzungen mit der städtischen (christlichen) Bevölkerung, insbesondere den Handwerkern und Kaufleuten, geprägt gewesen zu sein, die in den Juden nurmehr ungeliebte Konkurrenten sah und sich daher mehrfach mit Erfolg bei der Zentralregierung um die Juden einschränkende Regelungen bemühte: 1528 gewährte ihnen der den Juden sonst eher wohlgesonnene polnische König Sigismund I. das erstmals 1309 vom Großmeister des Deutschen Ordens Siegfried von Feuchtwangen der Stadt Bydgoszcz (Bromberg) verliehene sog. privilegium de non tolerandis Judaeis, demzufolge es Juden verboten war, in Wilna zu wohnen und Handel zu treiben. Indessen scheinen Geltung und Wirkung dieses Privilegs nur von begrenzter Dauer gewesen zu sein. Unter Sigismund II. August (1548-1572) setzt eine verstärkte Zuwanderung nach Wilna ein, in deren Folge immer öfter Juden als Zoll-, Steuer- und Münzpächter zu finden sind. Manche von ihnen erlangten am Ende wichtige Posten. Bereits 1525 wurde der jüdische Generalsteuereinnehmer in Litauen, Michael Esofowicz, ohne daß er sein Judentum aufgab, geadelt und erhielt als Lehen Leliwa. Sein Bruder Abraham, der sich zwar hatte taufen lassen, wurde ebenso geadelt und zum Starosta ("Stadtoberhaupt") von Minsk ernannt und zugleich zum stellvertretenden Schatzmeister Litauens. 1551 lassen sich in Wilna die Krakauer Kaufmannsfamilien Schimen Doktorowicz und Israel b. Josef nieder und eröffnen fünf Geschäfte. Ihnen folgen 1560 die ebenfalls aus Krakau stammenden Kaufmannsfamilien Feliks, Mendel Isakowicz und Isaak Brodawka, die in Wilna Konzessionen für Geldverleih erhalten.
Um die Mitte der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wird eine "Judengasse" in Wilna erwähnt, ein jüdisches Viertel. Nachdem 1573 durch Gesetz jedem Magnaten gestattet worden war, auf seinem Grund und Boden Kirchen oder Synagogen errichten zu lassen, begann Wilnas jüdische Gemeinde mit dem Bau ihrer ersten SCHUL, der Großen Synagoge, die alsbald Zentrum der Gemeinde wurde. Ein BESMEDRESCH ("Lehrhaus") soll es der Überlieferung nach bereits seit Ende des 14. Jahrhunderts gegeben haben. Knapp zwanzig Jahre nach ihrer Errichtung (1592) wurde die Synagoge ebenso wie eine Reihe jüdischer Häuser und Geschäfte während antijüdischer Ausschreitungen des christlichen Pöbels jedoch bereits wieder zerstört. Sigismund III. Wasa (1587-1632) erlaubte 1593 nicht nur ihren Wiederaufbau, sondern verlieh den Juden 1598 darüber hinaus das Recht, sowohl auf dem Grundbesitz von Magnaten zu wohnen als auch bei ihnen Häuser zu kaufen oder zu pachten.
Waren die Konflikte zwischen Juden und ihren nichtjüdischen, christlichen Nachbarn damit auch nicht beendet - im Gegenteil, in den folgenden Jahren häuften sich die Zusammenstöße zwischen ihnen noch - , so sollte doch das Privileg, das Wladyslaw IV. Wasa (1632-1648) am 19. Februar 1633 den Wilnaer Juden gab, ihnen nicht nur weitgehende Handels- und Gewerbefreiheit, sondern auch eine vollständige Gemeindeautonomie zugestehen, der zufolge sich die Gemeinde als civitas Judaeorum analog der nichtjüdischen Gemeinde organisierte. Aus dieser Zeit stammt übrigens auch der erste namentlich bekannte Gemeinderabbiner Wilnas, R. Monesch Chajes (gest. 1636), mit dem die lange Reihe von Wilnas berühmten Rabbinern beginnt. Zur Gemeindeautonomie gehörte das Recht, ein eigenes Rabbinatsgericht einzurichten, eigene Schulen zu bauen, eigene Friedhöfe anzulegen, ein eigenes Badehaus zu eröffnen etc. Zugleich wurde aber auch festgelegt, in welchen Straßen Juden und in welchen Christen zu wohnen hatten. Gegen Zahlung einer Jahressteuer von 300 Gulden (in Kriegszeiten 500 Gulden) waren Juden von städtischen Abgaben befreit. Der christlichen Bevölkerung gingen die den Juden gewährten Rechte indessen zu weit. Am 5. März 1635 fällt eine große Menschenmenge über die von Juden bewohnten Gassen her, zerstört und plündert sie. Um derartige Vorfälle in Zukunft zu verhindern, beschließt der Magistrat auf beiden Seiten der Straßen, in denen Juden wohnen, Tore zu errichten, um die Straßen absperren zu können.
Der wirtschaftliche und politische Niedergang der polnisch-litauischen Adelsrepublik im 17. Jahrhundert machte auch vor den Toren der Wilnaer Judengasse nicht halt. Vor allem in den südlichen und östlichen Landesteilen rumorte es. In den von Juden gepachteten Latifundien der Magnaten führte die wirtschaftliche Ausbeutung der leibeigenen (mehrheitlich orthodoxen) Bauern zu Unruhen. Zwischen 1637 und 1640 erhoben sie sich mehrfach gegen ihre katholischen polnischen oder litauischen Landlords und deren jüdische Pächter, bis sie sich schließlich in den Jahren 1648/49 in einem Aufstand von Kosaken, Tataren und ukrainischen Bauern entluden. Unterstützt von der ukrainischen Landbevölkerung waren in jenen Jahren Kosaken und Krimtataren unter Bohdan Khmel'nitzkyj (1595-1657) über Polen und Juden gleichermaßen hergefallen und haben nicht zuletzt mit ihren Massakern unter der jüdischen Bevölkerung zahlreicher Städte Podoliens und Wolhyniens Angst und Schrecken verbreitet. Viele Juden flohen Richtung Norden und Nordwesten, nach Wilna, Grodno oder Zentralpolen.
Höchst gelegen kamen die Siege Khmel'nitzkyjs dem moskowitischen Zaren Aleksej, der 1653 seine Armee in Litauen einfallen ließ. Im Bündnis mit den Kosaken rückte sie 1655 gegen Wilna vor, das Schreckliches erlebte. Wer nicht aus der Stadt fliehen konnte, wurde niedergemacht. Das jüdische Viertel der Stadt ging in Flammen auf. Ein Jahr später rückten die Schweden von Westen heran. Wilna und Umgebung wurde Schauplatz moskowitisch-schwedischen Kräftemessens. Bereits beim Einmarsch der Moskowiter hatten sich die christlichen Bürger, Handwerker und Kaufleute Wilnas an Zar Aleksej gewandt, er möge eine Ausweisung der Juden aus Wilna verfügen, da sie ihnen hinderlich seien. Der Zar entsprach ihrer Bitte und befahl 1658 die Vertreibung der Juden aus der Stadt. Nach der Rückeroberung Wilnas durch Polen 1661 wurden die Juden jedoch wieder zugelassen, in ihre alten Rechte eingesetzt - und die Auseinandersetzungen mit den christlichen Bürgern begannen von neuem.
Der von Zar Aleksej unterzeichnete Friedensschluß von Andruschow (1667) hatte zwar den furchtbaren Jahren ein Ende gesetzt. Von langer Dauer war der Friede indessen nicht. Eine neue Leidenszeit brachte Wilna der Nordische Krieg (1700-1721), während dessen die Stadt und ihre Bewohner ebenso unter erst schwedischer, dann russischer Besetzung (1705) wie durch Feuersbrünste (1706 und 1715) und Hungersnöte zu leiden hatten. Allein im Hungerjahr 1709/10 verloren über 30.000 Menschen, darunter mehr als 4.000 Juden, ihr Leben. Erst mit der Wiederherstellung der polnischen Oberhoheit über Wilna verbesserte sich die Lage der Juden wieder. August II. (1697-1733) gab ihnen 1720 ihre alten Rechte zurück. Allerdings verlangte einige Jahre später der Magistrat von Wilna von ihnen, daß sie dafür eine Jahressteuer von 600 Gulden zahlten und Handel und Gewerbe nur innerhalb des jüdischen Viertels der Stadt trieben. 1747 hob August III. (1733-1764) diese Einschränkungen wieder auf. Doch mehrere Großbrände in den Jahren 1748/49 brachten neuerliche Zerstörung; zwei jüdische Schulen, ein BESMEDRESCH ("Lehrhaus"), das jüdische Badehaus und die große Gemeindebibliothek fielen ihnen zum Opfer.
Dennoch sollte das jüdische Wilna seit jenen Jahren, wenn auch keine wirtschaftliche, so doch eine geistig-kulturelle Blüte erleben. Mehr und mehr zeichnet sich zwischen 1670 und 1760 ein Wandel in seiner geistig-kulturellen Verfassung ab. Nicht mehr die traditionelle talmudische Gelehrsamkeit bestimmte das geistige Klima. Während einerseits eine neue Form von Wissenschaft entsteht, die das Studium der Bibel und der hebräischen Sprache mit weltlicher Bildung in Einklang zu bringen suchte, machen sich andererseits Einflüsse der Kabbala bemerkbar, und der aus Podolien stammende Chassidismus fällt auch hier auf fruchtbaren Boden. Darüber hinaus halten auch Ideen der italienischen Renaissance in Wilna Einzug, und manche, wie R. Jekutiel be-R. Lejb Gordon, gehen zum Studium nach Padua, der einzigen Universität, die zu jener Zeit Juden als Studenten duldete, vor allem um dort Medizin und Astronomie zu studieren. 1720 schließlich wird in Wilna Elijohu ben Schlomo Salmen Kremer geboren, der als der WILNER GOEN und größte Gelehrte seiner Zeit bekannt werden und bis heute berühmt bleiben sollte.
Nach Studium und anschließender fünfjähriger Wanderschaft war R. Elija 1745 nach Wilna zurückgekehrt und hat die Stadt bis zu seinem Tod am 9. Oktober 1797 nicht mehr verlassen. Obwohl er nie ein öffentliches Amt in der jüdischen Gemeinde der Stadt bekleidet hatte - und dies, obwohl sie zu seiner Zeit zu den größten, nicht nur in Litauen, sondern im europäischen Osten überhaupt gehörte -, war er doch bald eine ihrer geachtetsten Persönlichkeiten. Hatte Wilna seinen Namen JERUSCHOLAJIM DE-LITE ("das Jerusalem Litauens") zwar schon vorher, so sollte doch nicht zuletzt das Lehrhaus des WILNER GOEN, das alsbald Schüler von überall her anzog und Vorbild für die im 19. und frühen 20. Jahrhundert entstehenden litauischen JESCHIWOT ("Talmudakademien") wurde, Wilnas Ruhm verbreiten und die Stadt zum geistig-kulturellen Zentrum der Juden nicht nur in Osteuropa machen. Mit seinem das Studium der religiösen und weltlichen Wissenschaften verbindenden Bildungsprogramm bereitete der WILNER GOEN mit bzw. in seinem Lehrhaus zugleich den Boden, auf dem fernerhin sowohl die moderne rabbinische Bildung als auch die HASKALA, die (ost)jüdische Aufklärung wachsen und ihrerseits verschiedene säkulare kulturelle und politische Entwicklungen im neuzeitlichen Judentum ihren Ausgang nehmen konnten, auch wenn sich die politischen Verhältnisse, unter denen sich die Stadt befand, Ende des 18. Jahrhunderts wiederum grundlegend ändern sollten; denn mit dem 24. Juli 1794, nach der zweiten Teilung Polens, endete die polnische Herrschaft über Wilna und die Stadt kam für die nächsten hundertzwanzig Jahre unter die Herrschaft des russischen Zaren. Für Wilnas Juden bedeutete dies, daß sie unter die Herrschaft einer Regierung kamen, die bis zum Vorabend der ersten polnischen Teilung (1772) ihre Existenz auf Dauer im russischen Reich nicht geduldet hatte. Denn seit dem Mittelalter, seit den Tagen des Großfürsten Vladimir von Kiev (12. Jahrhundert) war den Juden eine permanente Ansiedlung in Rußland praktisch verboten gewesen. Selbst noch als Zarin Katharina II. mit ihrem Ukas ("Erlaß") vom 4. Dezember 1762 deutsche Siedler ins Land holte, versah sie, dem Beispiel Zar Peters I. aus dem Jahre 1710 und ihrer Vorgängerin Zarin Elisawetas aus dem Jahre 1742 folgend, ihren Ukas ausdrücklich mit dem Zusatz kromje evreev ("außer Juden").

Wilna unter der Herrschaft der Zaren
Seit 1795 war Wilna russische Gouvernementstadt, seine Bevölkerung damit der russischen Gesetzgebung unterworfen. Was die Juden betraf, hatte Fürst Repnin, der erste russische Gouverneur Wilnas, zwar verkündet, daß sie in ihren bisherigen Gesetzen belassen werden sollen - einschließlich ihres Wohnrechts, das sie aufs Wohnen in bestimmten Straßen beschränkte. Dennoch spürten sie alsbald die andere Politik, die seit Zar Aleksanders I. (1801-1825) položenie dlja evreev ("Statut für die Juden") vom 4. Dezember 1804 auf ihre Eingliederung als "nützliche Bürger" in die russische Gesellschaft zielte, indem sie durch allerlei Maßnahmen, vor allem aber durch ein staatlich gefördertes Schulsystem ihre "Modernisierung" anstrebte. In der Praxis bedeutete all das indessen nichts anderes, als daß Juden mit den Mitteln des Polizeistaates "russifiziert", d. h. zur Aufgabe ihrer Religion und ihrer Bräuche, ihrer Kultur und am Ende ihrer jüdischen Identität, sprich: zur Bekehrung zum orthodoxen Christentum genötigt, ja, gezwungen werden sollten. Die anfängliche Beteiligung von Juden an der staatlichen Verwaltung Wilnas sollte nur von kurzer Dauer sein. Nach Rußlands Sieg über Napoleon hatte der Gouverneur A. M. Rimskij-Korsakow Wilnas Juden als "Dank für ihre Loyalität" zwei Plätze im Stadtrat gewährt, eine Geste, die jedoch schon am 1. April 1820 zur Hälfte und am 27. Mai 1837 unter Zar Nikolaj I. (1825-1855) ganz zurückgenommen wurde. Während Aleksander I. sein Ziel durch eine Politik gegenüber den Juden zu erreichen suchte, die noch zwischen "Zuckerbrot und Peitsche" hin und her schwankte, griff sein Nachfolger Zar Nikolaj I. immer mehr zu ausgesprochenen Zwangsmaßnahmen, die vom sog. Kantonistengesetz (1827), das eine fünfundzwanzigjährige Militärdienstpflicht für Juden ab dem 12. Lebensjahr vorschrieb und erst nach Nikolajs Tod aufgehoben wurde, über die Zensur jüdischer Bücher (1827, 1837, 1841 und 1844) noch verschärft bis zur Abschaffung der letzten Reste der einstigen Gemeindeautonomie (1844) reichte. Die Folgen dieser auf eine vollständige Transformation der jüdischen Gesellschaft hinauslaufenden Politik sind nicht nur einmal beschrieben worden.
Natürlich blieb Wilna auch von anderen politischen Entwicklungen im Zarenreiche nicht unberührt. Der polnische Novemberaufstand von 1831 gegen die zarische Herrschaft erfaßte auch Wilna. Nach seiner Niederschlagung wurde das Gouvernement Wilna der besseren Kontrolle wegen verkleinert, sein westlicher Teil, die Provinz Kowno (Kaunas) im Dezember 1842 von ihm abgetrennt, die Zwangsmaßnahmen zur "Russifizierung" von Juden und Polen verstärkt. Der wirtschaftliche Verfall des Gouvernements und die Hungersnöte der Jahre 1843-1845 in seinem Gefolge vergrößerten die Not der Bevölkerung. Ein Ende, zumindest eine gewisse Erleichterung brachte der Thronwechsel 1855 und der Regierungsantritt des reformwilligen Zaren Aleksanders II. (1855-1881): 1855 wurde das Kantonistengesetz, 1861 die Leibeigenschaft der Bauern und die Wohnbeschränkungen für Juden aufgehoben, 1862 verkündet ein Ukas die Gleichberechtigung der Juden - doch mit dem polnischen Aufstand vom Januar 1863 sollte die Zeit der Reformen schon wieder zu Ende sein.
Es wiederholt sich, was sich nach dem Novemberaufstand abgespielt hatte: Der Aufstand wird niedergeschlagen, der Gouverneur von Wilna, M. Murav'ev, erwarb sich dabei den Ruf eines "Henkers". Mit noch größerer Härte wird nun die "Russifizierung" vorangetrieben. Der wirtschaftliche Ruin und eine neuerliche Hungersnot in den Jahren 1867 und 1868 verschlimmern noch die Lage. Die Ermordung des Zaren am 1. März 1881 - unter den sechs des Attentats Beschuldigten und Verurteilten war eine jüdische Frau, Hessie Helfman - löst eine Welle von Pogromen aus, in deren Folge sein Nachfolger Zar Aleksander III. (1881-1894) 1882 die berüchtigten "Mai-Gesetze" erläßt, die eine Periode offen antisemitischer Politik einleiten.
Die sich dramatisch verschlechternden wirtschaftlichen Verhältnisse, immer größer werdende Arbeitslosigkeit und Armut sowie die zunehmende politische Repression rufen immer nachdrücklicher nach Auswegen. Die einen suchen sie in der Auswanderung in die "neue Welt"; andere schließen sich anarchistischen und revolutionären Zirkeln an, die Wilna Ende der 1880er / Beginn der 1890er Jahre gleichsam zum Treffpunkt jüdischer Sozialisten machen. Wieder andere finden sie in der zionistischen Bewegung, die in der auf die Schüler und Erben des WILNER GOEN zurückgehenden Bewegung der "Zionsfreunde" ihren Vorläufer hat. 1902 verkündet R. Isaak Jakob Reines in Wilna die Gründung der zionistischen MISRACHI-Partei, aus der später die national-religiöse Partei wird. Auftrieb erhält die zionistische Bewegung durch Theodor Herzls Besuch in der Stadt im August 1903, der auch dazu führt, daß das Zentralbüro der Zionistischen Organisation in Rußland zwischen 1905 und 1911 seinen Sitz in Wilna hat. Opposition erwächst der zionistischen Bewegung indessen zum einen "von links" durch den 1897 bereits in Wilna - in der Illegalität freilich - gegründeten "Allgemeinen Bund jüdischer Arbeiter in Litauen, Polen und Rußland" (kurz "Bund" genannt), der ersten jüdischen politischen Partei, und zum anderen von orthodoxer Seite, die sich unter Führung des Wilnaer Rabbiners Chajim Ojser Grodzenski und anderen angesehenen Rabbinern organisiert und später mit der religiösen Partei AGUDAS JISROEL zusammenschließt. Die streng antizionistische Ausrichtung des "Bundes" führt schließlich dazu, daß sich die "zionistisch gestimmten" Linken von ihm trennen und 1906 ihre eigene Partei, die POALE-ZION ("Arbeiter Zions") gründen. Die Revolution von 1905 läßt die russischen Behörden diese politischen Aktivitäten mit noch größerem Argwohn beobachten und eine neue Ära der Reaktion einläuten. Unter dem Verdacht und der Beschuldigung des Hochverrats werden in den Jahren 1911 bis 1913 schließlich zahlreiche Juden aus Wilna und Umgebung vertrieben bzw. nach Sibirien deportiert.
Um so bemerkenswerter ist daher die kulturelle Entwicklung, die die jüdische Gesellschaft trotz allem in jenem Jahrhundert genommen hat. Während auf der einen Seite die traditionellen Formen des Lebens und Lernens durchaus erhalten geblieben sind, hat auf der anderen ein "Kulturkampf" begonnen, bei dem sich zunächst Vertreter der rabbinischen Tradition und Anhänger des Chassidismus gegenüber standen, in den aber später als gleichsam "dritte Kraft" die MASKILIM, die Verfechter der HASKALA, der (ost)jüdischen Aufklärung, hineingezogen wurden, wobei sich Wilna wiederum als Zentrum sowohl der rabbinischen Tradition als auch der HASKALA erweisen sollte.
Nicht unerheblichen Einfluß auf diese Entwicklung hatte insbesondere die Gründung des später so bedeutenden Verlagshauses Romm, das bald viele andere in den Schatten stellte und Wilna zum Zentrum des jüdischen Buchdrucks nicht nur in Osteuropa machte. Während zu Beginn der russischen Zeit hebräische und jiddische Bücher (darunter Werke des WILNER GOEN) in Wilna mangels Druckprivileg nur in der katholischen Diözesandruckerei des Kanonikus Mirski mit dem Imprimatur des katholischen Bischofs von Riga gedruckt werden durften, hatte Boruch Romm (1750-1803) 1789 begonnen, in einem kleinen Städtchen bei Grodno hebräische Bücher zu verlegen, die er seit 1793 bei Jan Jasinski drucken ließ. 1799 siedelten Verleger und Drucker nach Wilna über; und hier begann der beispiellose Aufstieg des Verlagshauses, das nach dem Tod des Gründers (1803) von seiner Frau und ihren Söhnen weitergeführt wurde und als "Verlag Romm'sche Witwe und Söhne" Geschichte gemacht hat.
Die mit Ukas vom 27. November 1836 verfügte Verschärfung der 1827 eingeführten Zensur jüdischer Bücher (zweimal, 1837 und 1844, wurden nicht-zensierte Bücher verbrannt) und die Einrichtung von Zensurkomitees in Wilna und Kiev (1841) sowie die damit einhergehende Schließung aller jüdischen Verlage, ausgenommen des Romm'schen Verlags in Wilna und eines Verlages in Kiev, verschafften dem Romm'schen Verlagshaus eine Monopolstellung, die es bis zur Aufhebung der Zensurgesetze 1863 innehatte. Seine marktbeherrschende Stellung konnte auch die Aufhebung der Zensurgesetze vorerst nicht gefährden, wenngleich sie in kurzer Zeit eine Reihe neuer Verlagshäuser entstehen ließ: Bereits 1863 eröffnete der Verlag S. J. Fin (Fünn) & A. G. Rosenkrantz (später: Rosenkrantz & Schriftsetzer). Ihm folgten im gleichen Jahr der Verlag A. Dvorzhetz (Dworzec), 1872 der Verlag L. Matz, 1876 der Verlag A. Katzenellenbojgen und andere bis zu Boris Kletzkins Jüdischem Verlag, dem TOMOR-Verlag und anderen. Wenn auch alle Verlage ihre Autoren hatten und mit ihren Veröffentlichungen die jüdische Kultur wesentlich bereicherten, der unbestreitbar größte und bedeutendste blieb indessen, zumindest bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein, der Verlag der Witwe Romm und Söhne, der mit seinen zahlreichen Ausgaben insbesondere rabbinischer Literatur (des Babylonischen und des Jerusalemer Talmuds, Midraschim etc.) die bis heute unverzichtbaren Standardausgaben geliefert hat. Nicht minder wichtig sind freilich seine ebenso zahlreichen Ausgaben säkularer Literatur aller Genres, allen voran der HASKALA-Literatur, die ohne die Arbeit des Verlags längst nicht die Verbreitung gefunden hätte.
Initiator der HASKALA, der (ost)jüdischen Aufklärung, die eine (weitere) Form der Modernisierung und Reform unter den Juden darstellte, war Isaak Ber Lewinsohn (1788-1860) aus Kremenetz (Krzemieniec Podolski), Simon Dubnow hatte ihn einst den "Mendelssohn der russischen Juden" genannt. Ihren Ausgang hatte die HASKALA paradoxerweise im Kernland ihrer erbittertsten Gegner, in Podolien, im Kernland des Chassidismus, genommen; ihre Ideen aber haben sich sehr schnell nach Litauen hin ausgebreitet und vor allem in Wilna im Kreis der Schüler des WILNER GOEN Aufnahme, Nachahmung und Vertiefung gefunden. Sind doch auch Lewinsohns Werke, sofern die Zensur ihr Erscheinen zu seinen Lebzeiten zuließ, in Wilna gedruckt worden.
Ganz im Sinne der Reformideen der HASKALA begannen ihre begeisterten Anhänger neue Schulen zu gründen, in denen neben den traditionellen religiösen auch "weltliche Wissenschaften" gepflegt wurden. Zwar hatte bereits das Statut Zar Aleksanders I. vom Dezember 1804 die Juden aufgerufen, russische Gymnasien und Universitäten zu besuchen, doch dieser Aufruf war weitgehend echolos verhallt. Die 1808 in Wilna eröffnete erste säkulare Schule für Juden hatte wegen fehlender Akzeptanz ein Jahr später bereits wieder schließen müssen. Auch die Wiederholung und Erneuerung des "Aufrufs" im Statut von 1835 hatte zunächst nicht den gewünschten Erfolg, obwohl in dieses Statut zumindest indirekt einige Reformvorstellungen der MASKILIM und darüber hinaus erste mit den privaten jüdischen Reformschulen in Tarnopol (seit 1813), Uman (seit 1822) und Odessa (seit 1826) gemachte Erfahrungen eingeflossen sind. Allmählich aber bekamen auch die russischen Schulen, nachdem sie ihre Türen für jüdische Kinder geöffnet hatten, beachtlichen Zulauf. Im Rahmen der von Graf Sergej S. Uvarov, der von 1833 bis 1849 unter Nikolaj I. minister narodnogo prosvešcenia ("Minister für Volksaufklärung") war, eingeleiteten Bildungsreformen im Zarenreich entstand 1847 in Wilna eine russischsprachige Rabbinerschule unter staatlicher Aufsicht mit Gymnasium. Wenn sie auch 1873 bereits wieder geschlossen wurde, haben die 25 Jahre ihres Bestehens dennoch genügt, daß aus dem Kreis ihrer Absolventen eine neue russisch-jüdische intelligentsia hervorging.
Die Ideen der HASKALA und die Anwesenheit zahlreicher Buchverlage haben Wilna seit dem 19. Jahrhundert die Stadt der modernen jüdischen sowohl hebräischen als auch jiddischen Literatur werden lassen. Wohl nicht zufällig gehören alle, die zu den Begründern eben dieser modernen jüdischen hebräischen und jiddischen Literatur zählen oder dazu beigetragen haben, zum Kreis der mit Wilna verbundenen MASKILIM, angefangen von den ersten "modernen" hebräischen Dichtern Abraham Ber Lebensohn (1794-1878) und seinem Sohn Micha Joseph (1828-1852), über Abraham Mapu (1808-1867), dem der erste moderne hebräische Roman zu verdanken ist, den Dichter Juda Lejb Gordon (1830-1892), den Erzähler Eisik Meir Dick (1807-1893) und den Schriftsteller und Übersetzer Mordechaj Aaron Günzburg (1796-1846), die Gelehrten und Schriftsteller Kalman Schulman (1817-1899) und Schmuel Josef Fin (Fünn) (1818-1890) bis zu dem Dichter und Gelehrten Schlomo Mandelkern (1846-1902), um nur einige Namen hier zu nennen. Ihren Fußstapfen folgten im 20. Jahrhundert die mit Wilna verbundenen Dichter und Schriftsteller von Mojsche Kulbak (1896-1937) bis Scholem Asch (1881-1957) und den Dichtern der JUNG WILNE.
Der Aufschwung der hebräischen und jiddischen Literatur machte Wilna bald auch zur Pressemetropole. 1841-1843 erschien hier die erste hebräische Zeitschrift, die PIRCHE TZAFON ("Die Blumen des Nordens"), der bis zum Ersten Weltkrieg allein in Litauen weitere fünfundachtzig jüdische Periodika (zwanzig davon auf Hebräisch) folgten, von denen ein Großteil in Wilna verlegt wurde. Waren es zunächst vor allem Ideen der HASKALA, die in den jiddischen und hebräischen Zeitungen und Zeitschriften verbreitet wurden und damit ihrerseits halfen, die "Modernisierung und Reformen" unter den Juden voranzubringen, so findet man in der jüdischen Presse bald alles, was auch sonst Presse ausmacht. Nach dem Ersten Weltkrieg ist die Zahl der allein in Wilna erschienenen Tageszeitungen, Wochenblätter, Monats- und Quartalschriften, Comics für Kinder und junge Leute etc. in Jiddisch, Hebräisch, Russisch, Polnisch, Litauisch und Deutsch weiter gestiegen, bis sie in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts ihren Zenit erreicht hat.
Ideen der HASKALA und der in kurzer Zeit beachtlich angewachsene "Bücherberg" waren es, die darüber hinaus zum Entstehen der ersten Bibliotheken beitrugen und alsbald dafür sorgten, daß Wilna auch die Stadt der jüdischen Bibliotheken wurde. Inbegriff des Mäzens und Büchersammlers im 19. Jahrhundert war zweifelsohne Mattitjahu Straschun (1817-1885), dessen weit über 6.000 Bände umfassende private Sammlung hebräischer Bücher den Grundstock der 1872 gegründeten und nach ihm benannten STRASCHUN-BIBLIOTEK bildete, die er testamentarisch Wilnas jüdischer Gemeinde vermacht hatte und die zu ihrer Zeit bedeutendste jüdische Bibliothek Mittel- und Osteuropas war. Zu ihr gesellte sich u. a. die im Juli 1910 gegründete Bibliothek der Wilnaer Filiale der Anfang der 1860er Jahre in St. Petersburg ins Leben gerufenen CHEWRAT MEFITZE HASKALA BE-ERETZ RUSJA ("Gesellschaft der Verbreiter der Aufklärung unter den Juden Rußlands"), jiddisch kurz BIBLIOTEK FUN MEFITZE HASKOLE genannt, in deren bis heute erhaltenem Gebäude sich von 1941 bis 1943 die von Hermann Kruk (1897-1944) geleitete Ghetto-Bibliothek befand. Ebenfalls noch zu zarischen Zeiten, 1909, eröffnete die GESELSCHAFT FAR KINDER-FERSORGUNG die Wilnaer KINDER-BIBLIOTEK, die nach fünf Jahren ihres Bestehens bereits an die 5.000 Bücher umfaßte und damit die zu ihrer Zeit größte jüdische Kinderbibliothek der Welt gewesen ist. Weitere Bibliotheken kamen hinzu, private wie die Bibliothek Chajkl Lunskis (1881?-1942 oder 1943), der lange Jahre Direktor der Straschun-Bibliothek gewesen ist, öffentliche wie die BIBLIOTEK FUN JIDISCHN REAL-GIMNSJE, die BIBLIOTEK FUN LERER-SEMINAR, ja selbst von Handwerkervereinen wie beispielsweise die BIBLIOTEK FUN FARAJN FAR HOLTZ-INDUSTRIE und andere. Als letzte große Bibliothek reihte sich die BIBLIOTEK FUN JIWO, die Bibliothek des 1925 in Berlin zwar gegründeten, jedoch in Wilna ansässigen JIDISCHN WISNSCHAFTLECHN INSTITUT, die bis zur Schließung des Instituts (1940/41) die größte Bibliothek werden sollte.

Das jüdische Wilna im 20. Jahrhundert
Während des Ersten Weltkrieges ist Litauen von Beginn an einer der Hauptschauplätze der Kämpfe zwischen der russischen und der deutschen Armee. Da die Russen in den jiddischsprechenden Juden potentielle Verbündete der Deutschen sehen, setzen sie mit Ausbruch des Krieges die Deportationen Hunderter, Tausender Juden ins Innere Rußlands fort. Im Sommer 1915 besetzt die deutschen Armee Wilna. Bis 1918 ist die Stadt - mit den vormaligen russischen Gouvernements Wilna, Kowno, Grodno, Suwalki und Kurland - Teil des Verwaltungsgebietes Oberost. Die deutschen Behörden tun einiges, um die Juden, ganz wie die Russen es befürchtet haben, auf ihre Seite zu ziehen: So werden die russischen Judengesetze aufgehoben und die Juden als eigene Nationalität behandelt, Autonomie aber wird ihnen nicht gewährt. Dafür werden einige prominente deutsche Juden als Vermittler zur örtlichen jüdischen Bevölkerung ernannt. Für die deutschen Juden war dies übrigens die erste Begegnung mit den Ostjuden, mit denen sie sich alles andere als verwandt fühlten. Sahen sie in ihnen doch eher ungebildete, zurückgebliebene Leute, denen Bildung und Kultur erst noch beizubringen waren.
Zu den von den deutschen Behörden ernannten Juden gehörten der Maler Hermann Struck (1876-1944) und Rabbiner Dr. Wilhelm Lewy (1877-1942), ferner der Lehrer und Schriftsteller Leo Deutschländer (1888-1935) und Rabbiner Dr. Joseph Carlebach (1882-1942), der spätere Oberrabbiner von Hamburg. Struck und Rabbiner Lewy drängten die deutschen Behörden in den Jahren 1916 bis 1918 mehrfach, den Juden im besetzten Wilna wie überhaupt in Litauen Gleichberechtigung nach deutschem Recht zu gewähren und ihre Bemühungen um Wiedererlangung nationaler und kultureller Autonomie zu unterstützen. Sie waren es auch, die dafür sorgten, daß seit 1915 in Wilna wieder eine jiddische Zeitung erscheinen konnte (DI LETZTE NAJES), der weitere folgten. Im Dezember 1915 gründeten Leo Deutschländer und Rabbiner Carlebach mit Unterstützung der Militärverwaltung das JAWNE-Gymnasium in Kowno (Kaunas), eine neo-orthodoxe Schule mit Deutsch als Unterrichtssprache. In die Zeit des Ersten Weltkrieges, ins Jahr 1916, fällt auch die Gründung der WILNER TRUPE, des berühmten Wilnaer jüdischen Theaters. Doch trotz dieser und weiterer Bemühungen - für Wilnas Juden blieb die Zeit der deutschen Besetzung der Stadt die DAJTSCHE OKUPATZJE, während der sie nicht nur unter größter materieller Not, sondern ebenso durch Zwangsarbeit und Verschleppung zu leiden hatten.
Nicht weniger dramatisch waren die ersten Jahre nach dem Krieg. Am 16. Februar 1918 wurde die unabhängige Republik Litauen mit Wilna als Hauptstadt ausgerufen. Im Zuge des polnisch-sowjetischen Krieges ist Wilna jedoch bald wieder eine besetzte Stadt, und zwar der Reihe nach zuerst von der polnischen Armee (Dezember 1918 bis Januar 1919), dann von der Roten Armee (Januar bis April 1919), die aus Litauen die kommunistischen Räterepublik Litauen macht, dann ein zweites Mal von der polnischen Armee (April 1919 bis Juli 1920), dann wieder von der Roten Armee, die Wilna am 14. Juli 1920 Litauen übergibt, bis es wiederum unter polnische Herrschaft gerät (9. Oktober 1920) und im März 1922 schließlich endgültig der gleichfalls nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Republik Polen einverleibt wird und bis September 1939 polnische Provinzstadt bleibt.
Gleichwohl erlebt das jüdische Wilna nach anfänglich dramatischen Jahren in der Zwischenkriegszeit eine fruchtbare Zeit, auch wenn es mehr und mehr in die Schatten Warschaus tritt. Dabei ist es nicht allein der hohe prozentuale Anteil von Juden in Wilna, der ins Gewicht fällt; vielmehr sind es ihre kulturellen und geistigen Leistungen, ihre Aktivitäten in allen Bereichen von Politik und Gesellschaft, die Beachtung verdienen. Doch ist dies bereits andernorts beschrieben. Jedoch, es war eine Blüte von nur wenigen Jahren Dauer, die aus der Rückschau zudem wie ein Aufblühen vor dem Ende erscheint.
Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, den Vereinbarungen des Hitler-Stalin-Paktes entsprechend, marschiert die Rote Armee in der zweiten Septemberhälfte 1939 in Ostpolen ein. Wilna wird besetzt, laut sowjetisch-litauischem Abkommen vom 10. Oktober 1939 aber für den Preis sowjetischer Militärstützpunkte auf litauischem Territorium dem noch unabhängigen Litauen als Hauptstadt zurückgegeben. Für Wilnas Juden gab es ein Aufatmen, allerdings nur für wenige Monate; denn bereits im Juni 1940 besetzten die Sowjets Litauen von neuem. Am 21. Juni 1940 wird Litauen wird Sowjetrepublik. In den folgenden Monaten erstirbt das jüdische Leben in Wilna. Wenn auch nicht sofort, so doch nach und nach werden alle jüdischen Institutionen geschlossen, alle Organisationen, Parteien usw. aufgelöst, die vielfältige jüdische Presse auf zwei jiddische Zeitungen, den (WILNER) EMES, die jiddische Ausgabe der Prawda ("Die Wahrheit"), des Zentralorgans der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, und die Jugendzeitschrift SCHTRALN reduziert. Viele Juden, Intellektuelle, "bürgerliche Elemente", aktive Zionisten, Bundisten u. a. werden ins Innere der Sowjetunion deportiert; viele kommen ums Leben.
Die begonnene Zerstörung des jüdischen Wilna setzen der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Litauen und die Besetzung Wilnas am 24. Juni 1941 fort. Bereits in den ersten Tagen der deutschen Besetzung verlieren viele ihr Leben. Bald wird das Ghetto Wilna eingerichtet, und Tausende dort zusammengepfercht, bevor sie in den darauffolgenden Monate und Jahren im nahegelegenen Wald von Ponar (Ponary / Paneriai) ermordet werden. Der Aufstand im Wilnaer Ghetto im Januar 1942 verschafft nur für eine kurze Zeit Aufschub. Mit der Liquidierung des Ghettos am 23. September 1943 ist das endgültige Ende von JERUSCHOLAJIM DE-LITE besiegelt. Die Chronik dieses Grauens, aber auch des Ringens ums Überleben oder zumindest in Würde zu sterben, haben Herman Kruk, Mark Dvorzhetzki (Dworzecki), Abraham Suzkewer Shmerke Kaczerginski, Grigori Schur und viele andere in ihren Tagebüchern und Erinnerungen festgehalten.
Nach der Befreiung Litauens durch die Rote Armee im Juli 1944 beginnt, zaghaft wohl und von enormen Schwierigkeiten begleitet, aber dennoch spürbar, ein neues jüdisches Leben in Wilna zu erwachen. Die wenigen, die überlebt hatten, darunter die Dichter Abraham Sutzkewer und Shmerke Kaczerginski, zu denen Überlebende aus Konzentrations- und Arbeitslagern, Partisanen aus den Wäldern, Menschen, die sich irgendwo verstecken konnten, hinzu kamen, begannen mit dem Neuaufbau jüdischer Kultur. Ein neues jüdisches Museum konnte unter großen Mühen entstehen, ein jüdisches Theater, eine jüdische Grundschule etc. Doch im nunmehr sowjetischen Litauen sollte jüdischem Leben auf Dauer keine Zukunft beschieden sein: Am 10. Juni 1949 wurden auf Beschluß des Ministerrates der Litauischen Sowjetrepublik alle jüdischen Institutionen geschlossen. Was immer an die jüdische Vergangenheit Wilnas erinnerte, wurde eliminiert: die Ruinen der Großen Synagoge wurden gesprengt, Straßennamen wie der der Straschun- und Gaon-Gasse geändert, das jüdische Museum liquidiert, die Kunst- und Dokumentensammlungen aufgeteilt; und die Bücher, die Reste der einstigen großen Bibliotheken, die die Nazizeit überlebt hatten, wären zu Makulatur geworden, wenn sie nicht ein zweites Mal von beherzten Menschen davor bewahrt worden wären. 1989/90 wiedergefunden, gehören sie heute zum Bestand der Litauischen Nationalbibliothek.
Die Liquidierung des eben erst neu begonnenen jüdischen Lebens machte nicht einmal vor dem jüdischen Friedhof halt. An dem Ort, an dem einst jüdische Gräber waren, ließen die sowjetischen Behörden in den 1950er Jahren das Sportforum erreichten, und selbst das 1945 in Ponar (Paneriai) eingeweihte Denkmal zum Gedenken an die Opfer des Wilnaer Ghettos hat man 1952 abgerissen und Anfang der sechziger Jahre durch ein "Denkmal für die ermordeten sowjetischen Bürger" ersetzt. Erst im wieder unabhängigen Litauen wird auf einem neuen Denkmal der dort ermordeten Juden gedacht. Wer konnte, versuchte zu emigrieren. Wohl wohnten auch nach 1949 noch viele tausend Juden in Wilna, gleichwohl blieb ihnen fast alles jüdische Leben untersagt, wenn man von dem 1956 einsetzenden "Tauwetter" absieht, das für wenige Jahre zumindest wieder ein jiddisches Gymnasium (1956-1959), ein jüdisches Orchester (sein erstes Konzert gab es am 27. Dezember 1956), ein jüdisches Theater (das unter L. Lurie im Juli 1957 sogar als "Kunstkollektiv" anerkannt wurde), eine Tanzgruppe möglich machte. 1970 jedoch war das "Tauwetter" zuende. Der Druck zu emigrieren nahm zu, in den 1970er Jahren beginnt eine Emigrationswelle nach Israel.
Erst Glasnost' und Perestroika brachten eine grundlegende Veränderung. Von der anfänglichen Aufbruchstimmung, die die Gründung der KULTURGESELSCHAFT IN LITE (der Vorläuferin der heutigen jüdischen Gemeinde) 1987/88 begleitete, ist unterdessen allerdings einiges wieder verflogen und der eindrucksvolle Bericht, den das 1989 von der KULTURGESELSCHAFT herausgegebene JORBUCH OKTOBER 1987 - FEWRAL 1989 von jener Zeit des Aufbruchs gibt, längst zu einem historischen Dokument geworden. Von dem ganzen einstigen jüdischen, jiddisch-hebräisch-polnisch-russischen "Blätterwald" ist als einzige jiddische Zeitung JERUSCHOLAJIM DE-LITE (1989-1994 und ab 1996) geblieben, die heute einmal im Monat, manchmal auch nur noch alle zwei oder gar drei Monate in einer jiddischen, einer litauischen, einer russischen und einer englischen Ausgabe erscheint. Wenn auch mit der Wiedererlangung der Eigenstaatlichkeit Litauens 1991 eine kleine jüdische Renaissance begonnen hat - neben der jüdischen Gemeinde, die sich um die einzige verbliebene Synagoge sammelt, gibt es wieder ein jüdisches Gymnasium, ein neues jüdisches Museum und Dokumentationszentrum, einen Kulturverein, eine Theatergruppe u. v. a. - , so hat doch auch die Auswanderung bis heute nicht ganz aufgehört.
Dennoch, seit sich in der litauischen Gesellschaft ein zwar noch vorsichtiger und trotz mancher Rückschläge doch spürbarer Wandel im Umgang mit Litauens jüdischer Vergangenheit und den litauisch-jüdischen Beziehungen begonnen hat - politische Initiativen und Maßnahmen zur Bewahrung jüdischen Erbes zeugen ebenso davon wie wissenschaftliche Konferenzen, Kulturveranstaltungen und Theaterfestivals der letzten Jahre - , bleibt zu hoffen, daß damit auch eine Hinwendung der Gesellschaft zu den in ihrer Mitte lebenden Juden einhergeht, die über den Bemühungen zur Pflege des materiellen kulturellen Erbes der Juden auch ihren Beitrag zur litauischen Kultur wahrnimmt und als solchen würdigt, damit WILNE - Wilna - Vilnius seinen Platz als JERUSCHOLAJIM DE-LITE, als litauisches Jerusalem nicht nur in der jüdischen Geschichte behält, sondern auch in der litauischen Geschichte bekommt.

Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Zuerst erschienen im Begleitbuch zu der Ausstellung „Schtarker fun ajsn. Konzert- und Theaterplakate aus dem Wilnaer Getto 1941-1943“ im Jüdischen Museum der Stadt Frankfurt am Main, hrsg. von Georg Heuberger, Frankfurt 2002.

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