Die so genannte "Judensau"
von Oliver Gussmann

Das Wort "Judensau" bzw. "Saujude" ist vor allem als eine antisemitische Hetzparole aus der Zeit des Nationalsozialismus bekannt. Das Motiv taucht aber schon im Mittelalter als Spottdarstellung auf Steinreliefs und Karikaturen auf. Die Darstellungen sind vor allem an Kirchen, aber auch an öffentlichen Gebäuden, Stadttoren oder Stadtmauern angebracht. Das Motiv erscheint auch als Zeichnung in Karikaturen (z.T. mit Spruchbändern) und auf antisemitischen Flugblättern. Zu sehen sind auf einem solchen obszönen "Judensau"- Bild Juden, die wie Ferkel an den Zitzen eines Mutterschweines gierig Milch saugen oder sich am After des Schweines zu schaffen machen, aus dem ein Schwall von Urin spritzt. Auf manchen der Bilder sind Juden dargestellt, die verkehrt auf dem Tier sitzen, mit Blick zum Hinterteil der Sau. Dass es sich bei ihnen um Juden handelt, ist leicht an ihren Kennzeichen zu sehen: dem "Judenring" auf der Kleidung oder dem trichterförmigen "Judenhut".

Martin Luther und die "Judensau" von Wittenberg

Eine der bekanntesten Darstellungen ist das Sandsteinrelief am Südostpfeiler der Stadtkirche von Wittenberg. Die später hinzugekommene Inschrift "Rabini, Schem Ha Mphoras" über der "Judensau" verweist auf die jüdische Mystik, in der Aussagen über das Wesen Gottes aus Zahlen- und Wortkombinationen abgeleitet wurden. Die Buchstabenfolge von "Schem Ha Mphoras" (hebr. "der unverstellte Name") besaß nach dem Glauben der jüdischen Kabbalisten Wunder wirkende Kräfte. Sie wurde deshalb als besonders heilig angesehen und vor Unberufenen verborgen. Gemeint ist damit wahrscheinlich der unaussprechliche heilige Name Gottes. Die Überschrift über dem "Judensau"-Bild bedeutet also: "So sieht der unaussprechliche heilige Name des Gottes des Rabbiners aus."
Martin Luther nimmt auf diese Darstellung auf polemische Weise Bezug: "Es ist hier zu Wittenberg an unserer Pfarrkirche eine Sau in Stein gehauen. Da liegen junge Ferkel und Juden darunter, die saugen. Hinter der Sau steht ein Rabbiner, der hebt der Sau das rechte Bein empor und mit seiner linken Hand zieht er den Bürzel [d.i. Schwanz] über sich, bückt [sich] und guckt mit großem Fleiß der Sau unter den Bürzel in den Talmud hinein, als wolle er etwas Scharfes und Sonderliches lesen und ersehen. Daselbst haben sie gewißlich ihr Schem Hamphoras... Denn also redet man bei den Deutschen von einem, der große Klugheit ohne Grund vorgibt: Wo hat er‚s gelesen? Der Sau im [grob heraus] Hintern[...]" .
Diese gehässige Verbindung des für Juden unaussprechbar heiligen Gottesnamens bzw. des Talmud (= der jüdischen Auslegungstradition) mit der "Judensau" ist nur aus der christlichen Judenfeindschaft des Mittelalters verstehbar, zu der leider auch Luther beigetragen hat.

In Deutschland gibt es etwa 25 solcher Spottskulpturen. Darstellungen der "Judensau" gibt es u.a. in Aerschot /Belgien (Notre Dame, 16. Jh), Bad Wimpfen (Stiftskirche St. Peter, 13. Jh), Bamberg (Dom), Basel (Münster, 1432), Bayreuth (Stadtkirche), Brandenburg (Dom, älteste Darstellung von 1230), Cadolzburg (Burgtor, Außenseite, 15. Jh), Colmar (Münster St. Martin, 14. Jh), Eberswalde (St. Maria Magdalena, 13. Jh), Erfurt (Dom, Chorgestühl, 15. Jh), Gnesen (Kathedrale, 14. Jh), Heiligenstadt (Annakapelle, 1300), Heilsbronn (Münster, 15. Jh), Köln (Chorgestühl im Dom, 14. Jh und St. Severin), Lemgo (St. Marien, 13. Jh), Magdeburg (Dom, 13. Jh), Metz (Kathedrale, 14. Jh), Nordhausen (1380), Nürnberg (St. Sebald, 1320), Regensburg (Dom, 14. Jh), Remagen (Torbogen), Spalt bei Nürnberg (Chorherrenstift, 15. Jh), Strassburg, Uppsala (Dom 14. Jh), Wien (heute Stadtmuseum), Wittenberg (Stadtkirche, 14. Jh), Xanten (Dom, 1265), Zerbst (Nikolaikirche, 15. Jh).

Entstehung und Geschichte des Motivs

Im Mittelalter verbinden sich theologische, ökonomische und auch psychologische Motive zu einem Judenhass, der das Bild des Juden immer stärker dämonisiert. "Judensau"-Darstellungen gibt es in Deutschland vom frühen 13. bis zum 18. Jahrhundert.
In Skulpturen wird die antitypische Gegenüberstellung der verworfenen Synagoga und der siegreichen Ekklesia entwickelt. Daneben halten auch derb karikaturistische Judenbilder in das Kirchengebäude Einzug. Das IV. Laterankonzil leitet 1215 die gesellschaftliche Isolierung der Juden ein. Es verlangte, Juden und "Sarazenen" (Araber und Muslime) sollten ein Erkennungszeichen tragen. Daraufhin wurden Juden dazu verpflichtet, einen gelben oder roten Judenhut und einen gelben Ring am Mantel, Jüdinnen ein Band an der Haube und einen gelben Ring am Mantel zu tragen. Dazu kam die Angst der Umwelt, die den Juden die Schuld an der Pest, an Hostienschändungen und Ritualmorden aufbürdet. Teilweise wurde das Motiv der "Judensau" auch mit Ritualmordlegenden (angebliche Ermordung christlicher Kinder durch Juden) verbunden. Im Mittelalter wurden die Juden von ihrer christlichen Umwelt oft nur widerwillig geduldet, häufig verfolgt und vertrieben. Ihnen wurde das Menschsein abgesprochen, und sie wurden im Bund mit dem Teufel gesehen.
Ein genaues Entstehungsdatum für das "Judensau"-Motiv ist nicht bekannt. Zwei Dinge könnten den Boden für das abscheuliche Spottbild bereitet haben:
Im Mittelalter kursierte eine Legende, wonach einige Juden die Allwissenheit Jesu erproben wollen. Dazu verstecken sie eine Jüdin und ihre Kinder hinter einer Mauer und fragen Jesus, was dort verborgen sei. Er antwortet wahrheitsgemäß: "Eine Frau mit Kindern!" Seine jüdischen Gegner verspotten ihn mit einer Lüge: "Nein, es sind eine Sau und ihre Ferkel." Jesus reagiert mit der Bemerkung: "Auch gut, dann sollen es eben Sau und Ferkel sein." Gleich darauf verwandeln sich die Frau und die Kinder in eine Sau und Ferkel.
Der zweite Anlass könnte die demütigende Zeremonie des sogenannten "Judeneids" gewesen sein. Wenn Juden in einem Rechtsstreit mit einem Christen einen Eid leisten sollten, mussten sie mancherorts während der Eidesleistung barfuß auf der blutigen Haut einer Muttersau stehen, die vierzehn Tage zuvor geferkelt hatte.

Worin besteht die Beleidigung bei diesem Motiv?

Die Beleidigung von Juden und ihrer Religion durch das "Judensau"-Motiv geschieht auf mehrfache Weise:
Das Schwein ist für Juden ein unreines (unkoscheres) Tier (3. Mose 11,7). Jeglicher Kontakt mit ihm wird vermieden. Der Genuss von Schweinefleisch und -fett oder gar von Schweinemilch ist Juden ein Abscheu. Die religiösen Gefühle von Juden werden dadurch in besonderer Weise verletzt. Schon in der Antike hat man bei Judenverfolgungen Juden zwingen wollen, Schweinefleisch zu essen (2. Makkabäer 7,1). Eine intime Beziehung zu einem Tier (Sodomie) ist für Juden wie Christen in gleicher Weise eine Verhöhnung. Das beinahe familiäre Miteinander von Schwein und Juden lässt den Betrachter an eine verwandtschaftliche Beziehung der Juden mit dem Schwein denken, die Juden seien von ganz anderer Art als die Christen. Es ist sicher nicht zu weit gedacht, wenn man im "Judensau"-Motiv schon einen Vorläufer des Rassenantisemitismus sieht.
Juden wird in solchen Bildern ein Bezug zu Ausschweifung und Sünde vorgeworfen. Es wird suggeriert, die Beschäftigung mit ihrer Religion sei "Schweinerei". Die Christen, die solche Darstellungen erfanden, waren kaum bereit, sich auf eine echte Begegnung mit Juden einzulassen und sich dafür zu interessieren wie sie lebten und was sie glaubten.
Bei manchen Darstellungen hat das Schwein die Hauer eines Ebers und gleichzeitig die Euter einer Sau. Dies ist wohl eine Anspielung auf die angebliche Absurdität der jüdischen Religion. Christliche Theologen des Mittelalters verunglimpfen die jüdische Religion häufig als unvernünftig und dumm. Die Darstellung der umgekehrt auf dem Schwein sitzenden Juden, soll die angebliche "Verkehrtheit" des Judentums darstellen .

Kirchliche Stellungnahmen zum Umgang mit judenfeindlicher Kunst

Zahlreiche Bilder und Skulpturen der christlichen Kunst tragen mehr oder weniger offensichtlich Deutungen, die das Judentum herabsetzen oder gegenüber dem Christentum abwerten. Das so genannte "Judensau"-Motiv ist zweifellos ein besonders würdeloses Bild. Die Kirche, die es nötig hatte, Nichtchristen auf solche Weise zu entehren, befand sich selbst in einem erbarmungswürdigen Zustand. Das Motiv befindet sich fast nur an oder in Kirchen, und auch die Kirche der Reformation ist davon betroffen. Sie muss heute in angemessener Weise mit einem solchen Bilderbe umgehen. Soll man sie aus Denkmalschutzgründen erhalten oder abnehmen?
Die Evangelische Kirche von Berlin-Brandenburg hat am 24. April 1990 eine Synodalerklärung zur Erneuerung des Verhältnisses der Kirche zum Judentum abgegeben. Darin heißt es:
"In kirchlichen Kunstwerken haben vielfach antijüdische Einstellungen Ausdruck gefunden. Darauf muss bei Führungen und Verwendung von Abbildungen geachtet werden. Es geht u.a. um die bildliche Darstellung antijüdischer Legenden ("Hostienschändung" - z.B. auf den sieben Tafelbildern in Heiligengrabe), um Verwendung diffamierender Symbolik ("Judensau" -z.B. im Kreuzgang des Domes in Brandenburg/Havel und an der Stadtkirche in Wittenberg) und um antithetische Bildwerke von Kirche und Synagoge (z.B. am Dom in Magdeburg). Besonders bei Darstellungen der Passionsgeschichte werden die Feinde Jesu in Gesichtszügen und Kleidung als Juden gekennzeichnet, nicht aber Jesus und seine Jünger (z.B. auf dem Havelberger und Naumburger Lettner). Sofern die Kunstwerke an ihrer Stelle verbleiben, sollte der Betrachter durch Hinweise (auch in Form von Tafeln) auf Schuld und Betroffenheit der Kirche aufmerksam gemacht und zu neuer Sicht angeleitet werden."

In einer Zeit des wieder aufkeimenden Antisemitismus ist es notwendig, dass sich Kirchengemeinden mit dem Problem antijüdischer Darstellungen in der sakralen Kunst beschäftigen. Der angemessene Umgang mit solchen diffamierenden Bildwerken ist allerdings häufig von heftigen Kontroversen begleitet, so in Bayreuth, Nürnberg und Köln. Im Widerstreit steht das Interesse, "Kulturerbe" zu erhalten gegen das Interesse, die schmähende Botschaft eines solchen Bildes zu kritisieren oder es ganz zu entfernen. Die Kirchengemeinderäte in betroffenen Gemeinden sollten Tafeln mit Worten der Information und der Distanzierung von den Bildinhalten in unmittelbarer Nähe eines "Judensau"-Motivs anbringen. In Wittenberg hat die Gemeinde ein Bronzerelief unterhalb des Bildes in den Boden eingelassen. Die Umschrift stellt eine nachdenkliche Verbindung zu den Judenmorden zur Zeit des Nationalsozialismus her: "Gottes eigentlicher Name der geschmähte Schem Hamphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in 6 Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen." In Nürnberg verzichtete die evangelische Gemeinde auf ein kommentierendes Schild, stattdessen ist in der Kirche nur ein informierendes Faltblatt erhältlich. Der politische Aktionskünstler Wolfram P. Kastner sprühte im letzten Jahr das Wort "Judensau" mit weißer Farbe auf das Kopfsteinpflaster vor die Nürnberger Sebalduskirche, um zu einer offenen Auseinandersetzung anzuregen.
Hilfreich ist es, die Vertreter der örtlichen jüdischen Gemeinde beratend mit hinzuzuziehen, wie in Wittenberg und Leipzig geschehen. Bei einer Entfernung solcher Reliefs ist es sinnvoll, darauf hinzuweisen, wo das Motiv jetzt steht. Wenn es möglich ist, sollte immer auch die lokale Entstehungsgeschichte des Motivs aufgearbeitet werden.
Leitend für einen Begleittext kann die Erklärung der Berlin-Brandenburgischen Synode sein:
"Sofern die Kunstwerke an ihrer Stelle verbleiben, sollte der Betrachter durch Hinweise (auch in Form von Tafeln) auf Schuld und Betroffenheit der Kirche aufmerksam gemacht und zu neuer Sicht angeleitet werden."

Literatur
Bienert, Walther : Martin Luther und die Juden. Frankfurt a. M. 1982.
Bruinier, Thomas: Die "Judensau". Zu einem Symbol des Judenhasses und seiner Geschichte. Forum Religion 4/1995, 4-15.
Shachar, Isaiah: The "Judensau". A Medieval Anti-Jewish Motiv and its History. London 1974. (grundlegende Untersuchung)
Schouwink, Wilfried: Der wilde Eber in Gottes Weinberg. Zur Darstellung des Schweins in Literatur und Kunst des Mittelalters. Sigmaringen 1985.
Schreckenberg, Heinz: Das "Judensau"-Motiv, in: ders.: Die Juden in der Kunst Europas. Ein historischer Bildatlas. Göttingen 1996, 21 und 343-349.

Der Autor ist Touristenpfarrer an St. Jakob, Rothenburg ob der Tauber, und Mitglied der Theologischen Arbeitsgemeinschaft von "Begegnung von Christen und Juden. Bayern". Sein Aufsatz ist erschienen in: Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum 84 (2001) 26-28. Für die Veröffentlichung im Materialdienst des Evangelischen Arbeitskreises Kirche und Israel in Hessen und Nassau überarbeitet am 25.02.2003.

 


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