Judenfeindschaft in der christlichen Kunst
am Beispiel der Kölner Judensau
von Marten Marquardt
1. Kunst und kirchliches Bekenntnis
Kunst im kirchlichen Raum entsteht u. a. im Kontext des
christlichen Bekenntnisses. Das Apostolikum, als eins der zentralen Bekenntnisse
der Kirchen, weist eine geradezu demonstrative Israelverdrängung
auf. Der erste Artikel spricht von Gott, dem Schöpfer des Himmels
und der Erde, bezieht sich also auf die ersten drei Kapitel der Bibel,
um dann mit einem unermesslichen Sprung über die Geschichte Israels
hinwegzusetzen und direkt mit dem zweiten Artikel von Jesus Christus zu
sprechen. Weder Abraham, noch Mose, weder Exodus, noch Sinai, weder Erwählung,
noch Bund, noch Gerechtigkeit, weder David, noch Zion, noch Prophetie
werden auch nur assoziiert in diesem Bekenntnis der Kirche. Es ist, als
ginge das alles die Christenheit nichts an. Und so muss es nicht wundern,
wenn diese klaffende Gedächtniswunde sich in mancher Ausformung kirchlicher
Kunst wiederfindet.
Wo sich diese Verdrängung nach der Schoah unverändert
fortsetzt, da muss man heute allerdings ausdrücklich auf den Zusammenhang
von Verdrängung und Vernichtung hinweisen. Ich nehme stellvertretend
für viele hier nur das Beispiel der Kölner Lutherkirche, die
Anfang der sechziger Jahre erbaut wurde. Das etwa 10 Meter hohe Glasfenster
hinter dem Altar, also das alles bestimmende Bild für die frontal
darauf ausgerichtete Gemeinde, spielt nur auf die Schöpfung und dann
auf ausschließlich neutestamentliche Themen an; es spiegelt damit
getreu dem traditionell verstandenen Apostolikum die Israelverdrängung
aus dem christlichen Weltbild wider.
Wo in solchen Fällen das Pendel der Verdrängung
in die Keule der Feindschaft umschlägt, das wird von dem Gottesdienst
abhängen, der unter solchem Fenster gefeiert wird. Der evangelische
Gottesdienst dürfte hier m. E. nur in kritischer Auseinandersetzung
mit solch verdrängungsfreundlicher Kunst und mit der ihr vorausgehenden
Credo-Geschichte evangeliumsgemäß sein.
2. Die allmähliche Verdunkelung der Bilder
Die traditionellen Bilder von Kirche und Synagoge in unseren
Kirchen haben einen bemerkenswerten Wandel durchgemacht. Anfangs waren
beide als Frauen aus königlichem Geschlecht dargestellt. Auch Synagoge
trug eine Krone. Das Bild wandelte sich im Laufe der Jahrhunderte. Synagoge
wurde immer ärmlicher gekleidet, manchmal bis zur Nacktheit entblößt;
sie verlor schließlich ihre Krone und blieb in der klassischen Darstellung
des Straßburger Münsters dann mit geknicktem Stab und verbundenen
Augen als Bild der Verliererin zurück. Die einschneidende Veränderung
im Bild der Synagoge hängt zeitlich offenbar mit Ideologie und Erfahrung
des ersten Kreuzzugs zusammen.
Parallel zu dieser ästhetischen Parallele zum "enseignement
du mépris" (Jules Isaac) entwickelt sich eine Darstellungstradition,
die Kirche und Synagoge als Kampfpartnerinnen auf einem Turnierplatz zeigt.
Da begegnen sich beide auf ungleichen Reittieren. Die Kirche reitet z.
B. am Südportal des Wormser Doms auf dem "Tetramorph",
dem aus Hesekiel 1, 5ff und Offenbarung 4, 6f komponierten Bild eines
höchsten himmlischen Wesens, das in sich die Tugend verkörpert.
Die Synagoge dagegen erscheint anderswo auf einem niederbrechenden bocksköpfigen
Esel. Und diese ungleichen Reittiere werden dann im Chorgestühl des
Erfurter Doms zu dem edlen Pferd für die Kirche, während die
Synagoge dort auf einem Schwein reitend zum Turnier erscheint.
Hier ist nun im 14. Jahrhundert eine ikonographische Assoziation
erreicht, die ihre verhängnisvolle Parallele im Bild der Judensau
gefunden hat.
3. Die Kopfgeburt der Judensau
Das Schwein hat in griechischen, römischen und keltischen
Kulten einen Ehrenplatz. Als "goldborstiger Eber" vertritt es
im indogermanischen Kontext die Sonne. In biblischer Tradition aber gilt
das Schwein als unrein, zerstörerisch und teuflisch (Lev 11, 7; Dt
14, 3;8; Mt 7,6; Mt 8,30). Die bösartigen (Mt 8, 28!) Dämonen
des besessenen Gadareners haben eine innere Nähe zu den Schweinen
und bitten Jesus, in die Schweineherde ausfahren zu dürfen (Mt 8,
31). Für Juden gilt nach 1. Makk. 1, 50 der Genuss von Schweinefleisch
als Götzendienst.
Dass christliche Kunst des Mittelalters ab dem 13. Jahrhundert
zunehmend Juden mit Schweinen assoziiert, ist darum eine besonders perfide
Art von antijüdischer Propaganda, weil so Juden in die Nähe
des Götzendienstes gestellt oder auch direkt als Vertreter einer
besonders unflätigen Art von Götzendienst dargestellt werden.
Diese Art von Antisemitismus in der christlichen Kunst ist offenbar auf
den deutschsprachigen Raum und einige wenige von Deutschland beeinflusste
Orte in den Nachbarländern beschränkt.
Wir finden die Judensau besonders häufig an Kirchen
oder in Kirchen aus Holz geschnitzt oder in Stein gehauen. Sie kommt aber
auch als Relief und Skulptur an Schlössern und bürgerlichen
Häusern vor. Daneben ist sie natürlich in gedruckten Darstellungen
auf Flugblättern, auf Spottbildern und in Büchern zu sehen.
Im 16. Jahrhundert werden die sog. Judenspottmedaillen verbreitet, auf
denen auch die Judensau zu finden ist.
Diese diffamierende Darstellung dient zunächst unterschiedlichen
Zielen. Das Schwein ist immer wieder auch Symbol des Luxus und der Üppigkeit.
So dient z. B. die Assoziation von Schwein und Mönch in manchen mittelalterlichen
Darstellungen für die christliche Gemeinde als Warnung vor den Lastern
der Üppigkeit und des Luxus. Und dabei können neben Mönchen
und Pfaffen dann eben auch Juden mit dem Schwein assoziiert werden, um
die Christen vor Lasterhaftigkeit zu warnen.
Aber nun ist doch festzustellen, dass allein in der Zusammenstellung
mit Juden ein verheerend fortwirkender Begriff entstanden ist. Von einer
Mönchssau oder einer Pfaffensau ist sprichwörtlich nirgendwo
die Rede. Aber die Judensau ist zum Inbegriff der wuchernden christlichen
Judenfeindschaft in Deutschland geworden. Und damit hat die seit den Kreuzzügen
so intensivierte und konzentrierte Feindschaft der Christen gegen die
Juden ihren bildlichen Nenner gefunden. Und nach einem Wort von Paul Klee
gilt: Bilder zeigen nicht das Sichtbare, sondern machen sichtbar. Die
Judensau macht die verheerende und alles verwüstende Krankheit sichtbar,
die inmitten des Christentums entstanden und bis heute nicht völlig
überwunden ist: den christlichen Antisemitismus.
4. Das Unerträgliche an der Judensau
I. Shachar weist auf eine Darstellung der Judensau vom
Ende des 16. Jahrhunderts hin. Sie zeigt eine jüdische Mutter, die
statt zweier Kinder zwei Ferkel gebiert. Zwar gibt es solche Bildpolemiken
auch gegenüber anderen Menschen, aber die Wirkungsgeschichte im Fall
der antijüdischen Bildsprache ist eine besondere. Hier ist der Schritt
von der Assoziation zu Identifikation bereits vollzogen. Die Jüdin
wird zum Tier, wenn sie selber Tiere gebiert. Und hier ist der Weg vorgezeichnet
von der Judensau des Mittelalters zum Jargon der Nazis, in deren Mund
der Begriff "Saujud" schließlich zum Todesurteil geworden
ist.
Noch nicht ganz so weit, aber bereits erschreckend nahe
zu dieser Entwicklung steht nun Luthers Instrumentalisierung der Judensau,
die er am Dachfirst seiner Wittenberger Stadtkirche vorfand. Er interpretiert
diese steinerne Judensau in seiner antisemitischen Schrift "Vom Schem
Hamphoras und vom Geschlecht Christi" (1543). Dabei interpretiert
er das Bild, in dem ein Jude einer Sau in den After schaut, so: "Hinter
der Sau steht der Rabbiner, der hebt der Sau das rechte Bein empor, und
mit seiner linken Hand zieht er den Schwanz hoch, bückt sich und
guckt mit großer Ausdauer der Sau unter den Schwanz in den Talmud
hinein.... Von dort her haben sie bestimmt ihren Schem Hamphoras..."
Für Luther dient die Judensau der Diffamierung nicht nur der zentralen
religiösen Texte des rabbinischen Judentums, dem Talmud, als "Schweinkram",
sondern sogar der Lästerung des Gottesnamens und damit des Herzstücks
der auch für Christen zentralen sog. Zehn Gebote. Denn der Schem
hamephorasch ist der unaussprechbare Name Gottes. Und Luther zieht hier
Gottes Namen in den Kot.
So erweist sich nun die Krankhaftigkeit des Judensaukonstrukts endgültig
auch als selbstzerstörerisch. Denn Luthers Attacke gegen den biblischen
Gottesnamen greift in der Konsequenz zugleich mit den Juden das Zentrum
unseres eigenen Glaubens an .
Der Fortgang der Geschichte bringt an den Tag, wie mörderisch
die Judensau für die Juden in Europa gewirkt hat; der lutherische
Angriff auf den Schem hamephorasch deutet an, in welchem Maße sich
mit diesem Bild und seiner Geschichte nun auch die Selbstzerstörung
des christlichen Glaubens vorbereitet. Die Vernichtung eines großen
Teils des europäischen Judentums, die Schoah, ist eben in theologischer
Hinsicht die Katastrophe des Christentums, ein Ausdruck der Vernichtung
unseres Glaubens.
5. Wie umgehen mit dem Unerträglichen?
Heute gibt es noch Dutzende solcher Schandbilder in und
an christlichen Kirchen. Der ehemalige Superintendent von Wittenberg,
Albrecht Steinwachs, hat noch zu DDR- Zeiten unterhalb der Judensau in
Wittenberg eine Texttafel anbringen lassen, in der die Kirche sich deutlich
zu der Schande dieses Bildes bekennt und sich damit gegen die eigene Geschichte
der Judenfeindschaft wendet.
Aber: ist das wirklich eine Lösung für alle
Fälle im Umgang mit diesem problematischen Erbe christlicher Kunst?
Sollten wir nun überall Erklärungen und "Gebrauchsanweisungen"
zum Verständnis dieser Art von "Kunst" in unseren Kirche
anbringen? Was für ein Kunstverständnis tritt dabei zu Tage?!
Und ist nicht solcherweise Pädagogisierung der Kunst gleichermaßen
verächtlich für die Kunst wie für die Reife der mündigen
Kirchenbesucher?
An anderen Orten ist die Judensau indes nach wie vor unkommentiert
und ohne sichtbare Distanz ein Teil der kirchlichen Ausstattung. Angesichts
der tödlichen Konsequenzen, die unter anderem durch die Judensau
versinnbildlicht werden, ist dann allerdings umgekehrt die Frage, wie
unsere Kirchen künftig mit solcher Kunst umgehen wollen. Denn auch
umgekehrt ist ja zu fragen: Geht es an, diese Schande des Christentums
in Deutschland und die so tödlich wirkende Diffamierung der Juden
insgesamt ungehindert fortwirken zu lassen, indem man diese Bilder schützt,
bewahrt und ggf. für teures Geld restauriert? - Denn wenn man diesen
Reliefs und Skulpturen den Status der Kunst einräumt und sich deshalb
gegen ihre Demontage wehrt, dann muss man sie konsequenterweise auch schützen,
pflegen, erhalten und - wo immer nötig - mit großem Aufwand
auch restaurieren. Wo man das verweigern wollte, wäre die Fadenscheinigkeit
des Kunstarguments zu offensichtlich!
Mit der Judensau steht neben der Glaubwürdigkeit
der kirchlichen Umkehr von 2000jähriger Judenfeindschaft auch unser
Kunstbegriff insgesamt auf dem Prüfstand.
6. Die erneuerte Auseinandersetzung um die Kölner
Judensau
Bereits 1998 hatten die Initiatoren der sog. Kölner
Klagemauer mit einem Hinweis auf die Judensau im Dom reagiert und gefragt,
wieso das Domkapitel die Klagemauer als international beachtetes Friedensdenkmal
in einer Oktobernacht 1996 abreißen ließ, weil es sich nicht
mit der Würde des Doms vertrüge, während die Judensau im
Dominneren anscheinend der Würde des Ortes keinen Abbruch tue. Diese
m. W. erste öffentliche Anfrage hat m. W. bis heute keine öffentliche
Antwort erfahren.
Zur Eröffnung einer Tagung der Melanchthon-Akademie
zum Thema "Gewalt im Kopf" am 21. 6. 2002 hat der Münchner
Aktionskünstler Wolfram Kastner die Judensau im Kölner Dom zum
zweiten Mal öffentlich thematisiert als einen Modellfall für
die Produktion von Gewaltbildern in unseren Köpfen.
Kastner befasst sich seit langem mit dieser Frage und verlangt von den
Kirchen diesbezüglich eine klare Distanzierung zu ihrer eigenen Geschichte.
Wo kirchliche Behörden sich dagegen sperren, greift Kastner immer
wieder zum Mittel der Veröffentlichung durch Kunstaktion und Provokation.
In Zusammenarbeit mit der Kölner Melanchthon-Akademie hat er im vergangenen
Jahr das Domkapitel in Köln angeschrieben und auf die Judensau im
Chorgestühl des Doms hingewiesen. Er hat seinen Hinweis verknüpft
mit der bewusst provozierenden Forderung, "die Kölner Domsau
von ihrem öffentlichen Ort zu entfernen...und an ihrem ehemaligen
Standort gut sichtbar eine Beschreibung, Kommentare und Zeichen der heutigen
Reflektion zu installieren.... Solange dieses Diffamierungs- und Ausgrenzungssymbol
noch an seiner bisherigen Stelle bleibt, sollte dort aber zumindest ein
deutlicher Kommentar gut sichtbar angebracht werden." Darauf hat
das Domkapitel mit Empörung reagiert und erklärt, es handele
sich hier "um ein überaus wertvolles Kunstwerk, das insgesamt
zu schützen und auf keinen Fall zu beschädigen ist". Im
Übrigen sei die geschnitzte Judensau im Chorgestühl für
die Öffentlichkeit praktisch unsichtbar, was von vorne herein jeden
Hinweis und jede Zurückweisung für die Öffentlichkeit überflüssig
mache. Außerdem verweist das Domkapitel auf die Steintafel mit dem
sog. Judenprivileg, augenscheinlich, um damit die kirchliche Judenfeindschaft
zu relativieren. Der Leser soll wohl vermuten, das Judenprivileg des Erzbischofs
habe primär zum Ziel gehabt, Juden zu schützen; die für
den Erzbischof lukrativen finanziellen Zusammenhänge sollen in diesem
Zusammenhang wohl eher übergangen werden.
Die kategorische Ablehnung und Gesprächsverweigerung
des Kölner Domkapitels hat zu einer vorab angekündigten Kunstaktion
vor dem Dom geführt. Dabei hat der Künstler ein Sandwich-Plakat
getragen mit der Aufschrift "Judensau im Kölner Dom". Dazu
haben er und zwei Vertreter der Akademie Handzettel verteilt mit Informationen
zum Kölner Beispiel und dabei viele Gespräche mit Passantinnen
und Passanten geführt. Die drei "Protestanten" erfuhren:
§ Erstaunen von den meisten, die noch nie etwas von
diesem Schandbild gehört hatten
§ Zustimmung von etlichen, vor allem Jüngeren, die gegen dieses
Relief mit Abscheu reagierten und von der Domverwaltung eine Erklärung
einfordern wollten
§ Empörung von vielen, die sich als bekennende Kirchenchristinnen
und -christen verschiedener Konfessionen zu erkennen gaben und verschiedentlich
mit eigenen Worten erklärten, die Juden sollten "als Gottessmörder
lieber mal kleine Brötchen backen und sich nicht so laut beschweren".
Der Haupteingang zum Kölner Dom war am Donnerstag
Vormittag fest verschlossen. Die Dombaumeisterin gab der Presse zu Protokoll,
sie habe mit einer Gruppe von "Berufsdemonstranten" (sic! Schriftlich
informiert war sie tatsächlich von der Teilnahme des ev. Pfarrers
und Akademieleiters, eines "Berufsprotestanten", wenn man so
will) rechnen müssen und darum zum Schutz des Doms die Türen
verschließen lassen.
Die Dombaumeisterin verweigerte jeden Dialog vor, während
und nach der einstündigen Aktion. In Pressegesprächen bezeichnete
sie es als "geschmacklos", ausgerechnet in dieser Zeit (d. h.
auf der Höhe der Kampagne von Jürgen W. Möllemann, der
im Juni 2002 mit antisemitischen Anspielungen Punkte im Wahlkampf zu machen
versuchte) das Thema des Antisemitismus öffentlich zur Sprache zu
bringen. Auch noch nach vierzehn Tagen war sie zu einem internen Gespräch
zur Sache nicht bereit.
7. Geschichte und Vergänglichkeit
Das besondere Element der Kölner Judensau ist das
direkt anschließende und darum unmittelbar dazu gehörige Relief,
das einen Juden zeigt, der aus dem Fass eine Sau mit ihren Ferkeln ausschüttet;
neben ihm führt ein zweiter Jude einen Jungen an der Hand, dessen
Kopf ein Heiligenschein umgibt. Spätere haben zur zusätzlichen
Erläuterung in die Randleiste geritzt den Hinweis, dass es sich hier
um den Werner von Oberwesel handelt, der als Märtyrer Opfer eines
jüdischen Ritualmords geworden sein soll. Die Komposition der beiden
Darstellungen beweist nun endgültig den blutigen Ernst und die tödliche
Gefahr, die von der Judensau für die Juden ausgegangen sind. Denn
Ritualmordvorwürfe waren noch immer der Auftakt zu blutigen Pogromen.
Angesichts dieser Wirklichkeit genügt der formale Hinweis auf das
"überaus wertvolle Kunstwerk" nun wirklich nicht mehr,
um die Frage nach dem Umgang mit dieser Tradition abzuwehren.
Aber auch der Verweis darauf, dass der Normalsterbliche
den Chorraum gar nicht betreten dürfe, und darum keine Notwendigkeit
zu einer öffentlichen Auseinandersetzung zu erkennen sei, ist geradezu
erstaunlich. Denn dieses Argument unterstellt doch, dass die anderen,
die geführten Gruppen und das Dompersonal z.B., an dieser Sache keinen
Anstoß nehmen. Was wäre das aber für eine Aussage über
die innere Verfassung der Kirche?! Und wenn die Antwort lautet, das Dompersonal
wisse ja damit umzugehen und geführte Gruppen würden entsprechend
bei der Führung unterrichtet, so wäre man natürlich höchst
interessiert, zu erfahren, wie das Personal damit umgeht und wie geführte
Gruppen denn unterrichtet werden. Vielleicht wäre ja aus einer Antwort
Entscheidendes zu lernen für die Gesamtthematik.
Zugleich übersieht aber der Hinweis auf die Verborgenheit
der Kölner Judensau den wesentlich wichtigeren Aspekt der verborgenen
Wirkung von Bildern. Es ist ja nicht das Schnitzwerk, es sind ja nicht
die steinernen Skulpturen und es war noch nie das Papiermaterial eines
Buches, das gefährlich wurde, sondern es waren immer die daraus entstandenen
inneren Bilder und ideologischen Begriffe, die fortgewirkt haben. Und
solche inneren Bilder müssen bearbeitet werden, auch wenn sie nicht
nach außen treten. Die Auseinandersetzung aber mit den inneren Bildern,
die alle äußeren Bilder unbeachtet ließe, bliebe unglaubwürdig
und müsste am Ende kontraproduktiv wirken. Wer also wirklich den
christlichen Antisemitismus bekämpfen will, kann im Ernst das Argument
der angeblichen Verborgenheit des Schandbilds im Dom nicht benutzen, um
nichts zu tun.
Nun zeigen viele Judensaureliefs, die aus Sandstein gehauen
und an Außenwänden angebracht sind, bereits starke Korrosionsspuren.
An vielen Beispielen ist das Motiv nur noch schemenhaft und darum auch
meist nur noch für das geübte Auge der Fachleute erkennbar.
Könnte man nicht wenigstens für diese überaus vergänglichen
Kunstwerke der Natur, bzw. dem Verkehr als dem Hauptproduzenten des sauren
Regens die Bewältigung der Vergangenheit überlassen? - Ich halte
auch diesen Verfahrensvorschlag für sehr bedenklich. Verwitterung
und Korrosion lösen ja nicht die Bilder auf, die ausgehend von dem
einstmals klar erkennbaren Kunstwerk längst in unsere Köpfe
und in unsere Erinnerung, in unsere Sprache und in unser kollektives Gedächtnis
eingewandert sind. Und nachdem diese Wanderung der Bilder einmal stattgefunden
hat, könnte selbst die totale Verhüllung der verwitterten Figuren
nichts mehr zurückrufen. Ja, eher ist das Gegenteil zu erwarten.
Moderne Künstler wie Jochen Gerz und Christo und Jeanne Claude machen
sich ja gerade die Aktivierung der menschlichen Phantasie durch Verhüllungen
zunutze, indem sie vorsätzlich unsichtbar gemachte Denkmäler
errichten oder bereits sichtbare vorsätzlich verhüllen.
So ist auch die Vergänglichkeit der Judensau kein Argument dafür,
sich die offensive Auseinandersetzung mit diesem Ausdruck perversen Christentums
zu ersparen.
8. Was tun?
Mittlerweile hat ein evangelischer Kirchenvorstand in
Nürnberg mit ähnlicher Blockadepolitik reagiert wie die katholischen
Autoritäten in Köln und Strafantrag gestellt wegen Sachbeschädigung,
weil dort neuerdings ein weißer Pfeil auf das Schandbild der Judensau
aufmerksam machen will. Der evangelische Kirchenvorstand will also mit
juristischen Mitteln die Forderung nach einer Auseinandersetzung abwehren.
Der ökumenische Gleichschritt in dieser Sache ist demnach gewährleistet.
Aber was wäre denn die richtige Lösung?
1. Die erste Antwort muss unzweideutig negativ formuliert
werden: Denk-, Aufklärungs- und Gesprächsblockaden sind jedenfalls
die falsche Antwort.
2. Da es sich um öffentliche Bilder überwiegend an öffentlichen
Gebäuden handelt, muss eine öffentliche Auseinandersetzung darüber
geführt und gefördert werden.
3. Die Formen der öffentlichen Auseinandersetzung können und
sollen sehr unterschiedlich sein und den örtlichen Umständen
entsprechen.
4. Von Texttafeln, wie in Wittenberg, über entsprechende Texte in
den touristischen Führern und Faltblättern, über korrespondierende
und zur Auseinandersetzung provozierende Kunstwerke, wie in der Kölner
Antoniterkirche vor dem Barlachengel, über regelmäßige
Bildungs- und Diskussionsforen in Kirchen und entsprechenden Einrichtungen
(Kölner Dom Forum!), über korrespondierende Konzertveranstaltungen
mit Musik verfehmter Künstler z. B. im Kölner Dom, bis zu Stadtführungen
und Kirchenführungen, die auf das Thema der Überwindung christlicher
Judenfeindschaft spezialisiert sind ("Köln grüßt
Jerusalem"), ist vieles denkbar.
5. Die entscheidende Antwort in allem heißt: Wir dürfen diese
Schandbilder in und an unseren Kirchen und Häusern und in unseren
Köpfen und Herzen nicht auf sich beruhen lassen.
6. Schließlich aber wäre eine intensivere öffentliche
Auseinandersetzung dann auch der erste Schritt dahin, dass endlich die
bisher m. W. einzige wissenschaftliche Arbeit zu diesem deutschen Thema,
das von Isaiah Shachar 1974 in englischer Sprache veröffentlichte
Werk "The Judensau. A Medieval Anti-Jewish Motif and its History",
übersetzt und dem deutschen Publikum zugänglich gemacht würde.
Dazu bedarf es des öffentlichen Interesses und der öffentlichen
Nachfrage, damit ein Verlag sich dieser Aufgabe endlich annimmt.
Der Autor ist Pfarrer und Leiter der Melanchthon-Akademie
in Köln
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