Der andere Völkermord
Deportation und Ermordung von Sinti und Roma
von Harald Schmid
Am Anfang stand die ausgrenzende Hetze gegen die zur "artfremden
Rasse" Stigmatisierten. Dem folgten die scheinlegale Entrechtung
und Verfolgung. Dann wurden die Ersten in Konzentrationslager verschleppt.
Die Kennzeichnung der Parias mit gelben Armbinden machte die Absonderung
sichtbar. Bald rollten die ersten Züge in die Lager im eroberten
Osten, wo die Verfolgten hinter der Front bereits ermordet wurden. Schließlich
dann die europaweite Deportation und die "Vernichtung durch Arbeit",
Gas, Quälerei und barbarische Zustände.
Die Sinti und Roma, von deren Verfolgung im Nationalsozialismus
hier die Rede ist, waren eine Opfergruppe des Völkermordes an den
zu "Volks- und Reichsfeinden" Abgestempelten. Er richtete sich
gegen Juden und "Zigeuner", wenn auch mit unterschiedlichen
Motivationen und differierender Radikalität. Doch das dominierende
Geschichtsbewusstsein kennt außer den Juden kaum andere Opfergruppen
(auch der nationalsozialistische Krankenmord namens "Euthanasie"
hat keinen festen Platz im kollektiven Gedächtnis). Das Datum, das
sich nun zum sechzigsten Mal jährt, könnte Anlass dazu sein,
sich dieser Verengung der Erinnerungskultur wieder einmal bewusster zu
werden: Am 16. Dezember 1942 befahl SS-Chef Heinrich Himmler die Deportation
der Sinti und Roma nach Auschwitz-Birkenau.
In der NS-Ideologie kam den zur Gegenrasse erklärten
Juden als "imaginärem Hauptfeind" (Yehuda Bauer) eine zentrale
Stellung zu, anders als den zu "gemeinschaftsfremden Untermenschen"
deklarierten "Zigeunern". Gleichwohl verliefen die nationalsozialistische
"Endlösung der Judenfrage" und die "Bekämpfung
der Zigeunerplage" von Anfang an parallel. Nach der Machtübernahme
im Jahre 1933 begann die konkrete Diskriminierung beider Bevölkerungsgruppen,
der etwa 500 000 Juden und der ungefähr 30 000 Sinti und Roma. Die
"arische Gesetzgebung" mit ihrem Ausschluss aus dem Arbeitsleben,
der sozial-kulturellen Separierung und teilweisen Zwangssterilisierung
betraf auch die Sinti und Roma. "Zu den artfremden Rassen gehören
in Europa außer den Juden regelmäßig nur die Zigeuner",
schrieb Reichsinnenminister Frick im Ausführungserlass zu den Nürnberger
Rassegesetzen vom Januar 1936. Als "Fremdrassige" wurden beide
Gruppen zur Gefahr für den "Volkskörper" definiert.
Dabei konnte sich die NS-Führung jeweils auf alte, tief sitzende
Ressentiments stützen, die der systematischen Ausgrenzung zuarbeiteten.
Bei der genealogischen Erfassung und anthropologischen
Untersuchung der Sinti und Roma wie bei der Vorbereitung administrativer
Maßnahmen wie Sterilisierung und Deportation kam der 1936 in Berlin-Dahlem
eingerichteten "Rassenhygienischen Forschungsstelle" des Reichsgesundheitsamtes
zentrale Bedeutung zu. In über 24 000 "Gutachten" wurden
"Rassendiagnosen" angefertigt, klassifizierten rassekundliche
Experten die Betroffenen auf einer Skala von "reinrassigen Zigeunern"
bis zu "Achtel-Zigeunern".
Verhaftung und Verschleppung
Bald an vielen Orten in "Zigeunerlagern" isoliert,
mussten diese Zwangsarbeit leisten. Zu den bekanntesten zählt das
Lager in Berlin-Marzahn, das 1936 als "Säuberungsmaßnahme"
mit Blick auf die im gleichen Jahr in Berlin stattfindenden Olympischen
Spiele eingerichtet wurde. Einer ersten reichsweiten Verhaftungswelle
im Juni 1938 mit anschließender Verschleppung in die Konzentrationslager
Buchenwald, Dachau und Mauthausen folgte Himmlers Erlass vom 8. Dezember
1938 zur "grundsätzlichen Regelung der Zigeunerfrage aus dem
Wesen dieser Rasse heraus" - die Basis der späteren Deportation
und direkte Bedingung des Völkermordes. Seit Oktober 1939 durften
sie - unter Androhung von KZ-Haft - ihren Aufenthalts- bzw. Wohnort nicht
mehr verlassen.
Am 16. Mai 1940 begann die Verschleppung, als 2800 Sinti
und Roma aus dem Reichsgebiet ins Generalgouvernement "umgesiedelt"
und zur Sklavenarbeit in Gettos und Konzentrationslagern gezwungen wurden.
"Ihre Rückführung", hieß es in einem Bericht
des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), "ist nicht beabsichtigt."
Der Überfall auf die Sowjetunion markierte dann den Auftakt des systematischen
Völkermordes: Die mobilen Mordkommandos der "Einsatzgruppen"
und Polizeieinheiten brachten in Arbeitsteilung mit Wehrmachtstruppen
sowohl hunderttausende Juden als auch zehntausende osteuropäischer
Sinti und Roma um. Ende 1941 wurden 5000 Sinti und Roma aus dem Altreich,
Ungarn und Rumänien ins "Zigeunerlager" des Ghettos Lodz
deportiert; wer die erbärmlichen Zustände überlebte, wurde
in Chelmno im Gas erstickt.
Himmlers "Auschwitz-Erlass" vom 16. Dezember
1942 leitete die letzte Phase der Vernichtungspolitik gegen die "Zigeuner"
ein. Er befahl, sämtliche noch im Reichsgebiet und in den besetzten
europäischen Ländern lebenden "Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner
und nicht deutschblütige Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer
Herkunft nach bestimmten Richtlinien auszuwählen und in einer Aktion
von wenigen Wochen in ein Konzentrationslager einzuweisen". In den
Ausführungsbestimmungen des RSHA wurde dann bestimmt, die Betroffenen
"ohne Rücksicht auf den Mischlingsgrad familienweise in das
Konzentrationslager (Zigeunerlager) Auschwitz" zu verbringen. Schnell,
reibungslos und arbeitsteilig lief der bürokratische Apparat zur
örtlichen Erfassung, Konzentration und Deportation an. So wurden
ab März 1943 mehr als 22 000 "Zigeuner" aus elf Ländern
Europas (davon über 10 000 aus dem Reichsgebiet) unter unmenschlichsten
Bedingungen in tagelanger Zugfahrt nach Auschwitz-Birkenau verschleppt.
Eichmanns Erinnerung, anders als beim Abtransport der Juden habe es im
Falle der Zigeuner "von keiner Seite irgendwelche Interventionen"
gegeben, dürfte der historischen Realität nahe kommen.
"Zigeunerlager" in Auschwitz
"Alles, was hier geschah, war unfassbar", resümierte
später eine Sintezza die Deportation und die Lagerzustände.
Im Mai 1944 konnten die Sinti und Roma mit verzweifeltem Widerstand einen
ersten Versuch zur "Liquidierung" des Lagers noch abwehren.
Daraufhin wurden alle "Arbeitsfähigen" in andere Lager
gebracht, die 2897 verbleibenden Sinti und Roma in der Nacht vom 2. zum
3. August 1944 in den Gaskammern ermordet. Im 17 Monate bestehenden "Zigeunerlager"
von Auschwitz-Birkenau kamen von den 22 600 Sinti und Roma über 19
300 ums Leben: mehr als 5600 durch Gas ermordet, über 13 600 starben
an den Folgen der Sklavenarbeit, an Seuchen, Unterernährung, Misshandlungen
und Menschenversuchen. Insgesamt, so schätzen die Historiker, fielen
etwa 500 000 Sinti und Roma dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum
Opfer.
Warum hat es so lange gedauert, bis sich die deutsche
Öffentlichkeit für das Leiden der verfolgten Sinti und Roma
interessierte? Vor allem drei Faktoren führten dazu, dass sie keine
nennenswerte Repräsentation im Geschichtsbewusstsein fanden: die
anders gelagerten Schwerpunktsetzungen der Geschichtswissenschaft, ihre
gesellschaftliche Marginalität sowie die Kontinuität der vorurteilsbehafteten
Ausgrenzung dieser sozialen Gruppe über den Bruch von 1945 hinweg.
Letzteres machte sich für die Betroffenen besonders
schmerzhaft bemerkbar in den Entscheidungen zur Wiedergutmachung. Ein
Meilenstein der Ignoranz und ungebrochenen Stigmatisierung war das Urteil
des Bundesgerichtshofes vom Januar 1956, das eine spezifisch rassische
Zigeunerverfolgung erst ab 1943, also nach dem "Auschwitz-Erlass",
anerkannte. Die gesellschaftliche Isolierung der Betroffenen konnte erst
in jüngster Zeit, in den letzten zwei Jahrzehnten, verbessert werden,
auch infolge der Wende zu einer aktiven und selbstbewussten eigenen Interessenpolitik.
So war die in den Achtzigern erreichte späte Anerkennung
der seit 1933 rassistisch motivierten Verfolgung, aber auch der erneuten,
postnationalsozialistischen Diskriminierung ebenso wie einige Korrekturen
der Entschädigungspraxis auch das Ergebnis verstärkten öffentlichen
Engagements und symbolischer Politik (wie eines Hungerstreiks im ehemaligen
KZ Dachau im Jahre 1980). Unterstützt wurde dies durch die Lobbyarbeit
neuer politischer Verbündeter wie der Grünen.
Und schließlich: Das Gros der Historiker zeigte
mindestens vier Jahrezehnte kein erkennbares Interesse an der wissenschaftlichen
Aufarbeitung der "Zigeuner"-Verfolgung. Als die NS-Rassenpolitik
endlich in den Mittelpunkt gerückt war, beherrschte der Blick auf
die Entrechtung, Verfolgung und Ermordung der Juden die Perspektive -
mit großem historischem Recht und auch als Abbild der lange vorherrschenden
intentionalistischen Forschungsrichtung: der Orientierung an der Ideologie
Hitlers, der, konzentriert auf das Feindbild des Juden, nur geringes Interesse
an der "Zigeunerfrage" zeigte.
Hinzu kam, vor allem in den Neunzigern, eine unangenehme,
aber zu konstatierende geschichtspolitische Konkurrenz der Völkermorde
an den Juden einerseits und den Sinti und Roma andererseits. "Opfer
zweiter Klasse", urteilte der New Yorker Aufbau anlässlich der
Auseinandersetzungen um die Zwangsarbeiter-Entschädigung. Vor ein
paar Jahren diskutierten Romani Rose vom Zentralrat Deutscher Sinti und
Roma und der Jerusalemer Historiker Yehuda Bauer die Frage, welcher Kategorie
- Völkermord oder singulärer Holocaust - die Ermordung der beiden
Gruppen zuzuordnen sei. Oder man denke an die Debatte, welchen Opfergruppen
das Berliner Holocaust-Mahnmal gewidmet sein solle. Nun wird es kein gemeinsames
Mahnmal für beide Gruppen geben, sondern zwei separate. Das Mahnmal
für die Sinti und Roma ist seit Mitte 2001 informell zwar beschlossene
Sache, aber auf den Baubeginn in der Nähe des Südportals des
Reichstags wartet die Öffentlichkeit noch immer - und rätselt,
ob das Bekenntnis von SPD und Bündnisgrünen im Koalitionsvertrag
zum Bau auch dieses Mahnmals Bestand haben wird.
Unterschiedliche Erinnerungen
Vergleicht man den seit 1945 praktizierten gesellschaftlichen
Umgang mit der Erinnerung an die Verfolgung der Juden mit jener der Sinti
und Roma, zeigen sich ähnliche, aber phasenverschobene Entwicklungen.
So, wie bei den Nürnberger Prozessen von der Zigeunerverfolgung nur
am Rande, von der Judenverfolgung aber zentral die Rede war, so enthielt
die langsame Konstitution eines bundesdeutschen Geschichtsbildes in der
Rubrik NS-Opfer die zwar zunächst zurückgewiesene, aber dann
im Generationenwechsel breit angenommene Konzentration auf die jüdischen
Verfolgungsopfer - aber drei Dekaden lang keine Sinti und Roma. Der Umgang
mit beiden Opfergruppen entsprach dem Zusammenwirken von Unrechtsbewusstsein,
Verleugnung des Völkermordes, Fortdauer von Vorurteilen und aktueller
Geschichtspolitik.
Doch im Falle der Juden gab es Unterschiede: Der von den
westlichen Besatzungsmächten zum Gradmesser der Demokratisierung
erklärte Umgang mit den Juden, die frühe Entscheidung für
die Wiedergutmachungspolitik, ferner die großen symbolischen Ereignisse
der ersten geschichtskulturellen Achsenzeit der Bundesrepublik an der
Wende zu den sechziger Jahren, wie die Kölner "Schmierwelle"
von 1959/60, der Jerusalemer Eichmann-Prozess und der Frankfurter Auschwitz-Prozess
- stets ging es primär um die Verbrechen an den Juden, für die
Auschwitz zum Sinnbild wurde.
Welches Aufarbeitungsfeld man auch betrachtet, Wissenschaft,
Justiz, Wiedergutmachungspolitik, pädagogische Aufklärung oder
Gedenkkultur - überall war die gesellschaftliche Sensibilität
bereits auf die jüdische Verfolgungsgeschichte "geeicht",
als die Sinti und Roma überhaupt erst begannen, ihre Stimme auch
geschichtspolitisch vernehmbar zu erheben. Jede Rede über diese reale
Problematik steht in Gefahr, sich den Vorwurf einer unangemessenen Konfrontation
zweier Opfergruppen zuzuziehen. Und doch ist es wichtig, immer wieder
ein breites kollektives Gedächtnis einzufordern. Beispiel Gedenktage:
In der alten Bundesrepublik entwickelte sich der 9. November, die Erinnerung
an das antisemitische Pogrom der "Reichsscherbenwoche" vom November
1938, seit Ende der fünfziger Jahre und besonders seit 1978 zum wichtigsten
symbolischen Datum eines selbstkritischen Umgangs mit der NS-Verbrechensgeschichte
und zum informellen Holocaust-Gedenktag. Seit 1996 wird nun alljährlich
am 27. Januar - dem "Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus"
- aller Opfer der rassistischen Verfolgung zwischen 1933 und 1945 gedacht;
in der Praxis des offiziellen Holocaust-Gedenktages mit starker Konzentration
auf die jüdischen Opfer. Wieder befinden sich die Sinti und Roma
bestenfalls in der zweiten Reihe öffentlicher Aufmerksamkeit.
Im Gegensatz zur Erinnerung an die Judenverfolgung ist
die öffentliche Vergegenwärtigung des Schicksals der Sinti und
Roma jüngeren Datums. Im Oktober 1979 fand die erste größere
Gedenkzeremonie statt, als im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen
etwa 2000 Personen in einer Kundgebung an das Schicksal der Zigeunerverfolgung
erinnerten und die Präsidentin des Europäischen Parlaments,
die jüdische Auschwitz- und Bergen-Belsen-Überlebende Simone
Veil, die Gedenkrede hielt. Dies war der Beginn einer langsam sich verbreiternden
"anderen Erinnerungskultur", die inzwischen zwar eigene politische
Gedenktage zelebriert (neben dem 16. Dezember etwa den 2. August 1944
als Datum der Vernichtung des Zigeunerlagers in Auschwitz-Birkenau), aber
bis heute nur wenig Resonanz in der breiteren Öffentlichkeit erlangt.
Dies ist ein schmerzlicher Mangel des historischen Bewusstseins ebenso
wie des kollektiven Gedächtnisses, das auch unsere Gegenwartswahrnehmung
bestimmt. Wer weiß schon, dass der Bundesrat seit 1994 alljährlich
mit einer Ansprache des jeweiligen Präsidenten der Länderkammer
an den 16. Dezember 1942 erinnert?
Der Autor ist Politologe in Hamburg. Seine Dissertation
"Erinnern an den ,Tag der Schuld'. Das Novemberpogrom von 1938 in
der deutschen Geschichtspolitik" ist 2001 im Hamburger Ergebnisse-Verlag
erschienen. 2000 / 2001 war er Mitglied der Wissenschaftlergruppe zur
Neuerarbeitung der Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für
Sozialforschung.
Frankfurter Rundschau, 16.12.2002
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