Wir sind alle Kinder Hitlers
Rafael Seligmann erinnert sich an seine Jugendzeit unter latentem Antisemitismus
Über die anhaltende Schockstarre der Angst unter Juden in Deutschland
Deutschlands Juden, meint Rafael Seligmann, flößten ihren Kindern
"Antisemitismuspanik" ein; viele verleugneten ihre Identität,
die Religionszugehörigkeit. Und sie seien unfähig, Gefühle
des Schmerzes und der Verletzung preis zu geben, sich widerborstig zu
zeigen gegen billige Versöhnungswilligkeit und Anbiederei. Seligmann
hat diese Befunde verknüpft mit seiner persönlichen Kindheit
und Jugend; von seiner eigenen Geschichte hat er vor wenigen Tagen im
Rahmen der jüdischen Kulturwoche in Berlin erzählt. "Wir
alle sind Kinder Hitlers. Das gibt uns auf, uns gemeinsam aus seinem Bann
zu befreien". Wir dokumentieren den Vortrag unwesentlich gekürzt.
Seligmann, 1947 in Tel Aviv geboren und 1957 mit seinen Eltern nach Deutschland
gekommen, ist Journalist und Schriftsteller.
Was kann man schon von einem Juden erwarten, bei dessen Beschneidung Adolf
Hitler Pate stand?
Wie kam der Führer zu meiner Brith Mila? Trug er dabei eine Kippa?
War Hitler ein verkappter Judenfreund, der seinen Selbsthass auf unser
ausgewähltes Volk projizierte? Es ist bekannt, dass der Obdachlose
Adolf Hitler zur gleichen Zeit in Wien seine Postkarten malte wie Sigmund
Freud seine Psychoanalyse entwickelte.
Adolf Hitler war nicht persönlich auf meiner Brith Mila zugegen.
Er sah nicht, wie mir am achten Tag ins Fleisch geschnitten und ich damit
in den ewigen Bund der - vorhautlosen - Juden mit Gott aufgenommen wurde.
Und doch war der Führer selbstverständlich an dem milden Herbsttag
des 21. Oktober 1947 in der Tel Aviver Bëit-Jehuda-Synagoge zugegen.
Er war präsenter als Rabbiner Jonathan Rubinstein und Mohel Nachmann
Lewi, der mit ruhiger Hand den Zugriff gegen meinen Schmock vornahm, mein
aufgeregt-stolzer Vater Ludwig und zwei Dutzend Gäste, die diesen
kleinen Sieg unseres Volkes über seine deutschen Häscher feierten.
Trotz objektiver Abwesenheit durch vorzeitigen Tod war Adolf Hitler damals
wie heute allgegenwärtig auf jeder jüdischen Zeremonie, weil
er sich in die Seelen seiner Opfer, ihrer Kinder und Kindeskinder gebrannt
hat wie zuvor seine Henkersknechte die Todesnummern in die Unterarme ihrer
Opfer tätowieren ließen. Die blauen Judennummern werden sie
nie wieder freigeben. Und nicht nur sie alleine.
Adolf Hitler aber war auf meiner Brith Mila nicht allein als virtueller
Sandak aktiv. Der Führer hatte meine Eltern bereits vierzehn Jahre
vor meiner Geburt durch seine Machtübernahme auf den Pfad ihrer späteren
Ehe geschickt.
Mein Vater Ludwig, ein vom Glück verwöhnter Tor, suchte damals
im schwäbischen Städtchen Ichenhausen, nahe Günzburg, wo
zwei Jahre nach ihm der Fabrikantensohn Josef Mengele das Licht der Welt
erblickte, Arbeit als Kaufmannsgehilfe. Da erhielt Ludwig Nachricht von
seinem Schulfreund Karl Seiff, der soeben seine Karriere als Polizist
begann, dass er im folgenden Morgengrauen wegen Rassenschande, begangen
zulasten seiner Geliebten Therese P., in SA-Gewahrsam verbracht werden
sollte. Karl Seiff erläuterte meinem Vater, dass diese Verbringung
sein vorzeitiges Ende bedeuten könnte. Also begab sich Ludwig gemeinsam
mit seinem Bruder Heinrich, dem ein ähnliches Schicksal angedroht
wurde, auf die Reise nach Jerusalem. Doch von diesem Ziel ahnten die Brüder
Seligmann damals noch nichts. Sie mochten und fuhren vielmehr nach Paris.
Anders als Papa Hemingway feierten die Seligmann-Brüder an der Seine
kein Fest fürs Leben. Die Behörden in der französischen
Hauptstadt mochten den Judenbengeln aus Deutschland kein Asyl gewähren.
Ebenso wenig wie später die Flics in den elsässischen Dörfern,
wo Heinrich und Ludwig sich bei Bauern als Knechte verdingten. Also blieb
den Brüdern keine andere Wahl, als sich nach Palästina abzusetzen.
Die Nazis und die französischen Behörden machten sie zu praktizierenden
Zionisten.
In Palästina begegnete Ludwig Seligmann ein halbes Dutzend Jahre
nach seiner Anlandung in der arabischen Hafenstadt Japho Hannah Schechter.
Die Berlinerin lebte ebenfalls seit 1934 im zukünftigen Judenstaat.
Hannahs Lebensweg glich seit ihrer Kindheit einer Halskette, deren Naturperlen
Katastrophen waren.
Das Mädchen wurde 1905 im galizischen Flecken Njisco am Fluss San,
einem Seitenarm der Weichsel, geboren. Als Hannah vier Jahre alt war,
starb ihr Vater Meir. Seine Witwe Malka führte die gepachtete Gaststube
weiter; ihre älteren Kinder hatten sich längst in alle Himmelsrichtungen
und Länder zerstreut. Im Herbst 1914 griff die zaristische Armee
das k.u.k.-Land an. Eine russische Granate verirrte sich in den Keller
des Gasthauses, wo Malka Schechter mit ihrer Familie Schutz gesucht hatte.
Ihr Sohn Saul, seine Frau Isa sowie ihre Kinder Nathan, Rosa und Rachel
waren auf der Stelle tot. Malka hatte keine Zeit, sie zu beweinen. Stattdessen
erstickte sie die Flammen, die Hannahs Haare und Kleider zu verbrennen
begannen. Nachdem ihre galizische Existenz so vernichtet worden war, zog
Malka Schechter mit Hannah zu ihrer älteren Tochter Sima. Diese lebte
mit ihrem Mann Awraham und sechs Kindern im Scheunenviertel Berlins. Malka
und ihr jüngstes Kind wurden in eine Ecke der Zweizimmerwohnung gequetscht.
Hannah musste in der Schule Deutsch lernen, was ihr nicht schwer fiel,
da sie in Polen vor allem Jiddisch gesprochen hatte. Bereits nach wenigen
Monaten war Hannah wie zuvor in Njisco Klassenbeste. Ihr Lehrer verwarnte
sie nur halb im Scherz: "Ihr Juden seid einfach zu schlau für
uns Deutsche."
Doch alle Schläue blieb vergebens. Hannah musste nach der achten
Klasse die Schule verlassen. Während die Kinder von Awraham und Sima
Goldmann aufs Gymnasium geschickt wurden, hatte Hannah eine Schneiderlehre
zu absolvieren. Ihre Mutter tröstete sie: "Sei froh, dass du
in dieser furchtbaren Zeit, in der das Geld des Morgens abends nichts
mehr wert ist, Arbeit hast, ein Dach über dem Kopf und einigermaßen
satt wirst." Malka nahm ihr Töchterchen in den Arm: "Wenn
über kurz oder lang mit der Hilfe des Ewigen die Inflation vorbei
sein wird, will dein Bruder aus Polen nach Berlin ziehen. Aaron ist ein
guter Sohn und ein tüchtiger Kaufmann. Wenn er bei uns ist, wird
es uns bald besser gehen. Dann werden wir uns eine eigene Bleibe leisten
können."
Der Herr der Welten vernahm Malka Schechters Gebet, doch ehe er es erhörte,
ließ er sie sterben. Die 17-jährige Hannah war nun auf Gedeih
und Verderb ihrer Schwester Sima ausgeliefert. Diese ließ nun ungehemmt
ihren Groll an dem verwöhnten Nesthäkchen aus. Simas Missmut
schlug in Hass um, als sie erkennen musste, dass ihr Gemahl Awraham zunehmend
Gefallen an ihrer grazilen, fünfzehn Jahre jüngeren Schwester
fand. Das Geflecht aus Eifersucht, Begehren, Angst und Hass schaukelte
sich rasch hoch. Es überschlug sich in Hannahs Vergewaltigung durch
ihren Schwager. Die Tat blieb ungeahndet, da ihre Anzeige das Opfer mehr
noch als den Täter aus dem Getto der ostjüdischen Gemeinde Berlins
verbannt hätte. Das gab Awraham die Möglichkeit, der körperlichen
Vergewaltigung die psychische folgen zu lassen. Hannah wurde die heimliche
Geliebte ihres Schwagers. Das Verhältnis hatte erst ein Ende, als
Hannah schwanger wurde.
Eine Hebamme nahm eine rabiate Abtreibung vor. Danach wagte es Hannah,
sich ihrem nach Berlin zugezogenen Bruder anzuvertrauen. Aaron drohte,
den Schwager umzubringen. Hannah hatte Mühe, den rasenden Bruder
von einer Gewalttat abzuhalten. Dessen versöhnliches Naturell, vor
allem aber Aarons wirtschaftliche Abhängigkeit taten ein Übriges:
Awraham stellte den Schwager als Lagerverwalter seiner reüssierenden
Kartonagenfabrik ein.
Die Goldenen Zwanziger hoben an. Ein Abglanz ihres Leuchtens erhellte
auch Hannahs Dasein. Sie beendete ihre Lehre, fand als Schneidergehilfin
ein bescheidenes Auskommen. Bruder Aaron wurde Textilvertreter und verdiente
dank seines Verkaufstalentes bald gut. Die Geschwister mieteten sich eine
Dreizimmerwohnung im bayerisch-jüdischen Viertel Schönebergs.
Aaron verliebte sich in die Directrice Ottilie Klein. Das attraktive Paar
amüsierte sich bei Tanzturnieren und anderswo. Hannah dagegen suchte
Anschluss im Zionistischen Jugendverband. Doch bald verschlang die Depression
der Dreißiger das Licht der kurzen guten Vorjahre. SA-Stiefel stampften
mit unruhigem Tritt über die Alleen der Hauptstadt. Gauleiter Josef
Goebbels und sein Meister Hitler brüllten ihren Hass hinaus: "Die
Juden sind unser Unglück!" Immer mehr Deutsche glaubten ihnen.
Die anschwellenden braunen Kolonnen geiferten: "Wenn's Judenblut
vom Messer spritzt!"
Hannah verlor ihre Stelle. Ihr Bruder sein Einkommen. Die Geschwister
berieten über ihre Zukunft. Hannah wollte unbedingt nach Palästina.
Aaron mochte Europa nicht verlassen. Die von ihm geschwängerte Ottilie
drängte ihn zur Heirat. Weigere Aaron sich, warnte sie ihn, ihn bei
der SA zu denunzieren. Sie beließ es nicht bei der Drohung. Aaron
wurde von einem braunen Trupp krankenhausreif geschlagen. Unmittelbar
nach seiner Entlassung aus der Klinik packte er seine Habseligkeiten und
floh zurück nach Polen. Hannah, die den polnischen Antisemiten noch
mehr misstraute als den Deutschen, sah keinen Ausweg, als ihren zionistischen
Traum zu verwirklichen, und reiste nach Palästina. Da die Engländer
ihr die legale Einwanderung ins Judenparadies verwehrten, verbrannte sie
ihre deutschen Papiere. Die Zionisten versorgten Hannah mit gefälschten
Dokumenten. Dabei erfüllten sie die Bitte der jungen Einwanderin,
sie acht Jahre jünger zu schreiben und damit ihre Aussichten als
Heiratskandidatin aufzubessern. Die List half.
Wenige Monate nach Beginn des Weltkrieges lernen sich Ludwig und Hannah
im Café Mougrabi in Tel Aviv kennen. Bald waren sie ein Paar und
priesen den Zufall ihrer Bekanntschaft. Sie wagten sich nicht einzugestehen,
dass der Zufall den südostdeutschen Namen Hitler trug. Ohne den Zusammen-Führer
wäre Hannah in Berlin geblieben und Ludwig höchstens bis nach
Ulm gelangt, wo er seine Kaufmannslehre absolviert hatte.
Als Hannah und Ludwig im Juni 1940 in Jerusalem heirateten, sprach die
Hochzeitsgesellschaft vorwiegend vom deutschen Blitzsieg über Frankreich.
(. . .)
Manche Deutsche hatten derweil Schlechteres zu tun. Beispielsweise Hans
Ruzweit. Ottilies Mann machte nach 1934 Karriere in der SS. Nach der Eroberung
Polens begab sich der Sturmbannführer nach Lodz, wo er Aaron Schechter
vor den Augen seiner Frau Esther erschoss. Neben Eifersucht und Judenhass
leitete ihn kalte Berechnung. Durch die Ermordung Aarons beseitigte er
den Vater seines Adoptivsohnes Erich und damit den Beweis seiner jüdischen
"Versippung". Doch von diesem Geschehen ahnte damals noch niemand
in Palästina - und so verdunkelte kein Entsetzen die Hochzeit Hannahs
und Ludwigs.
Sieben Jahre später wurde ich geboren. Mein Pate war da bereits mitsamt
seinem Tausendjährigen Reich in Rauch aufgegangen ebenso wie Millionen
seiner Opfer. Doch die Angst vor dem Mörder wirkte so stark nach,
dass meine Eltern nicht wagten, mich gemäß der Sitte nach meinem
dahingegangenen Großvater Isaak zu nennen. Isaak heißt hebräisch
Jitzchak, was bedeutet, er wird lachen. Doch Ludwig und Hannah Seligmann
war das Lachen vergangen. Sie befürchteten, dass man mich eines Tages,
wenn Deutschland und dessen Judenfeinde wieder erstarkten, als Jude Itzig
verspotten könnte. Man würde wieder wie einst den alten Vers
brüllen: "Jude Itzig, Nase spitzig, Beine heckig, Arschloch
dreckig!"
Also wurde ich Rafael geheißen. Der Name Jitzchak wurde schamvoll
auf den zweiten Rang verwiesen. Doch der britische Kolonialbeamte vergaß
nicht, in meiner Geburtsurkunde die Nationalität meiner Eltern hervorzuheben:
"Germans".
Ein halbes Jahr nach meiner Geburt wurde der Judenstaat proklamiert. Er
verdankt ebenso wie ich seine Existenz Hitler und seinen allzu willigen
Helfern in Deutschland, Europa und Arabien. Denn ohne das große
Judenschlachten der Nazis hätte sich, ebenso wie meine Eltern aus
Berlin und Ichenhausen, auch kaum ein vernünftiger Jude aus seinem
arabischen Heimatland ins unwirtliche Palästina aufgemacht.
Nach wenigen Aufbaujahren geriet Israel wieder einmal in eine Existenzkrise.
Die Ökonomie war kaum in der Lage, die überlebenden Juden und
die vertriebenen Hebräer aus Arabien und Europa aufzunehmen und zu
integrieren. So gerieten zwangsläufig auch meine Eltern in Bedrängnis.
Wir hatten kaum zu essen. In ihrer Not besannen sich Ludwig und Hannah
ihrer einstigen Heimat. In Deutschland würde man, anders als in Israel,
über die Runden kommen. Aber durften sie ins Naziland zurückkehren,
dessen Krematorien kaum abgekühlt waren und dessen Erde von den Schreien
der jüdischen Opfer nachhallte? Meine Eltern wagten es nicht.
Doch ihre zionistischen Anverwandten, allen voraus Awraham Goldmann, der
einstige Galan meiner Mutter, und seine mittlerweile erwachsenen Kinder
rieten den Seligmanns, ihr "Glück" wieder in Deutschland
zu suchen. Als mein Vater Awrahams Erstgeborenen Max bat, ihn in dessen
Baufirma notfalls als Nachtwächter anzustellen - alles wäre
besser, als zu den Mördern zurückzukehren -, entgegnete der
Unternehmer, der viel auf seinen israelischen Patriotismus hielt, mit
weicher Stimme, aber hartem Blick: "Ludwig, du bist ein Jecke. Kehre
dahin zurück, woher du kommst. In Deutschland wirst du deine Familie
ernähren können. Das wird dich stolz machen." (...)
Ludwig Seligmann kehrte Israel für immer den Rücken. Selbst
im Urlaub mied er das allzu Heilige Land. So wanderte unsere Familie 1957
wieder in Deutschlands Arme. Mutter Germania drückte mich sehnsüchtig
an ihren kalten Busen. Die Begrüßung war kurz, knapp, sachlich
und humorlos. Doch aufrichtig. (. . .)
Mein erster Schultag unterstrich die Beteuerung meiner Eltern, Deutschland
sei jetzt ein freies Land. Juden würden nunmehr besonders geachtet.
Lehrer Walk verdrosch uns Schüler nach Herzenslust. Daraufhin nahm
sich der Pädagoge seines besonderen Lieblings Erwin Honigwein an.
Der pummelige Erwin sollte an der Tafel seine mangelnden mathematischen
Fähigkeiten demonstrieren. Als der Junge heulend sein Scheitern kundtun
musste, hatte Lehrer Walk ein Einsehen: "Du beherrschst nicht mal
die Rechenkünste deiner Väter, Honigwein. Wie willst du da in
unserem Land Geld verdienen? Mit deiner Hände Arbeit wohl kaum .
. . Das ist ja eure Sache nicht!"
Unter dem Hohngelächter der Klasse schlurfte Erwin an seinen Platz.
Nach Unterrichtsende gefiel es den Mitschülern, Honigweins Demütigung
fortzusetzen. Sie kreisten den Dicken ein und wollten ihn verdreschen.
Da wurde bei mir erstmals ein sozialer Dressurakt wirksam, der mir in
Zukunft noch viele Prügel eintragen sollte. Meine Eltern hatten mir
neben dem Vertrauen in das neue Deutschland auch hebräische Solidarität
eingeimpft: "Du bist Jude, Rafi. Deshalb musst du immer jedem Juden
beistehen." Ludwig und Hannah hatten im eigenen Leben die Unwirksamkeit
jüdischen Beistandes erfahren müssen. Dass sie mir dennoch diese
vermeintliche Tugend predigten und ich darauf hörte, spricht für
die Naivität unserer Familie. Ob sie sozialpsychologische Ursachen
hat oder einem genetischen Defekt entspringt, mögen andere erforschen.
Ich mochte Erwin persönlich nicht leiden. Meine israelische Erziehung
hatte mich "Heulsusen" und "Fettsäcke" verachten
gelernt. Doch was zählt zionistische Schulpädagogik gegen die
Prägung durch jüdische Eltern? Mein Judeo-Solidaritätsreflex
funktionierte unverzüglich, und so sprang ich dem bedrohten Erwin
bei. Das half Erwin für den Augenblick, denn ich war damals in Israel
wie in Deutschland der Längste der Klasse und wurde hier wie dort
Rafi-Giraffi gerufen. Doch ehe es zum Schlagabtausch kommen konnte, erschien
wie Moses vor dem brennenden Dornbusch Honigweins Mutter. "Lasst
meinen Erwin in Frieden", herrschte sie die Möchtegernraufbolde
an, packte ihr bebendes Kind bei der Hand und zog dabei das Phantom der
jüdischen Solidarität mit sich fort. Der Verlust wurde umgehend
durch den Gewinn des deutschen Beistandes wettgemacht.
Die um ihren Spaß gebrachten Raufbolde stürzten sich nun auf
mich. Dass ich mich mit meinen bescheidenen Giraffenkräften zur Wehr
setzte, machte die Prügelei für mich umso langwieriger und schmerzhafter.
Doch des einen Leid ist des anderen Lust. Meine Kameraden hatten ihren
Spaß mit mir. Zunächst banden sie mich mit einem Schal an den
Schulzaun. Das lehrte mich den einzigen Nutzen dieses ansonsten vollkommen
überflüssigen Kleidungsstücks. Daraufhin ließen sie
fröhlich eine kleine Eisenkugel immer wieder auf meinen Kopf fahren
und verpassten mir dabei manchen Fausthieb. Um meine Schmerzensschreie,
die bald in ein Wutgeheul übergingen, zu dämpfen, wurde mir
ein benutztes Taschentuch in den Mund gestopft. Als ich zu würgen
begann, ließen die Kameraden von mir ab und banden mich los. Zu
Hause unterzog mich meine Mutter einem strengen Verhör. "Wer
hat dich so zugerichtet, Rafi?!", mochte sie wissen. Ich konnte so
wenig wie jeder andere meiner Mutter widerstehen. So schilderte ich zunächst
zögernd, dann zornig die Folgen meiner jüdischen Solidaritätsaktion.
Statt den Fehler ihrer moralisierenden Erziehung einzusehen und ihn umgehend
zu korrigieren, beharrte Mutter auf ihren falschen Werten und bestärkte
auch mich, daran festzuhalten. "Das war richtig, Rafi. Du hast dich
heldenhaft verhalten, mein Kind. Bleibe so!" (. . .)
Nach ihren ermutigenden Worten und dem Spülen meiner Platzwunde begab
sich Hannah (. . .) unverzüglich auf den Weg zum Schulleiter. Doch
Direktor Kupfernagl zeigte für ihre Klagen kein rechtes Verständnis:
"Wenn es Ihnen bei uns in Deutschland nicht passt, dann nehmen Sie
Ihren Zuckerknaben und gehen Sie wieder zurück nach Palästina!"
Damit kam er Hannah gerade recht. Schnurstracks marschierte Mamme ins
Stadtschulreferat. Sie bestand darauf, zum Leiter der Behörde vorgelassen
zu werden. Entsetzt lauschte Anton Fingerle dem Bericht meiner Mutter.
"Was dieser Mann Ihnen gesagt hat, ist Unsinn! Unsere jüdischen
Mitbürger sind uns selbstverständlich wieder willkommen, Frau
Seligmann. Auch Ihr Bub."
Der Stadtschulrat ließ es sich nicht nehmen, noch in Gegenwart Mutters
den Schulleiter anzurufen und ihm unverhohlen mit seinem fristlosen Rausschmiss
zu drohen, "wenn Sie nicht umgehend diese hässliche Angelegenheit
in Ordnung bringen". Anton Fingerle teilte mit Hannah Seligmann die
Überzeugung, "dass in unserem Lande im Guten wie im Schlechten
stets Ordnung zu herrschen" habe. Stolz auf den Triumph ihres Willens
und den Sieg ihrer Überzeugung, dass das Gute im Menschen stets die
Oberhand gewinne, verließ Mutter das Stadtschulreferat. Die Suppe
ihrer Überzeugung durfte ich gemeinsam mit meinen Klassenkameraden
auslöffeln. Damals schmeckte sie mir bitter. (. . .)
Wenige Minuten nach Unterrichtsbeginn stürmte am folgenden Morgen
Direktor Kupfernagl ins Klassenzimmer. Unser Türöffner - ein
durchaus prestigeträchtiges Ehrenamt bei der Erziehung zum Untertan
-, Fritz Meinberger, bekam vom obersten Pädagogen des Hauses umgehend
eine kräftige Maulschelle verpasst.
Als Nächsten nahm sich der Schulleiter unseren Klassenlehrer vor.
"Walk, Sie Idiot! Immer ist in Ihrer Klasse der Teufel los. Wer hat
Ihnen erlaubt, die Judenbuben durchhauen zu lassen?!" Des Lehrers
Unschuldsbeteuerung brachte den Direktor ob dessen Uneinsichtigkeit noch
mehr in Harnisch: "Hören Sie auf zu lügen. Ich kenne Ihre
Ansichten und Methoden genau! Wenn das noch einmal vorkommt, lasse ich
Sie augenblicklich vom Schuldienst suspendieren. Und jetzt erwarte ich
eine gehörige Bestrafung Ihrer Prügelknaben!" (. . .)
Der Abgang seines Vorgesetzten brachte die binäre Sprengladung von
Walks Kränkung sowie dessen Angst um seine Beamtenstellung zur Explosion.
"Lumpenbande! Wer von euch hat die Judenknaben geschlagen?! Dem brech'
ich das Genick! Raus mit der Sprache", donnerte der Lehrer. Niemand
meldete sich. Keiner dachte daran, Walks Worte auf die Probe zu stellen.
Da die ungeschminkte germanische Drohung vergeblich blieb, setzte der
Pädagoge nunmehr auf den jüdischen Verrat. "Honigwein!
Seligmann! Wer hat euch geschlagen?"
Erwin war zwar ein schlechter Rechner, doch keineswegs dumm. Er begriff,
dass die Verratenen sich furchtbar an ihm rächen würden. Davon
abgesehen, hatte ihn seine Mutter vor ernsthaften Blessuren bewahrt. Erwins
Behauptung, er könne sich nicht erinnern, begegnete Walk mit den
Worten: "So jung und schon so vergesslich! Grad wie ein SS-Soldat
vor Gericht!" Ohne Hoffnung auf Offenbarung wandte sich der Lehrer
an mich: "Und du, Seligmann, du tapferer Hebräerkämpfer,
hast gewiss ebenfalls vergessen, wer dir die gehörige Abreibung verpasst
hat?"
"Nein, es waren der Girl, der Kreisig und der Aichner." "Du
hast Mut . . .", Walk schüttelte seinen Kopf, ". . . zum
Verrat." Der feinsinnige Pädagoge irrte. Mich trieben weder
Tapferkeit noch die Lust am Verrat an. Die Beweggründe waren simpler.
Meine Eltern hatten mich gelehrt, die Wahrheit zu sagen, und ich wollte,
dass meine Peiniger zumindest ebenso leiden sollten wie ich. Das Bedürfnis
nach Ehrlichkeit und die Lust an Rache überwog bei weitem die Angst,
dass meine Klassenkameraden sich ihrerseits an mir rächen würden.
Erst viele Jahre später begriff ich, dass in dieser Stunde die Voraussetzung
für meinen Beruf als Schriftsteller geschaffen wurde. Die Tollkühnheit
des Schreibers und sein spontanes Bedürfnis nach Wahrheit müssen
allemal größer sein als dessen Furcht vor den Konsequenzen
seiner Aussagen.
Dazu aber sind Deutschlands Nach-Auschwitz-Juden seelisch bislang weitgehend
unfähig. Ihnen ergeht es wie meinem späteren Klassenkameraden
Moische Weißbart, der mich bat, ihn in Gegenwart der Gojim "Manfred"
zu nennen. Sein Wunsch war absurd, denn jeder wusste, dass Moische Jude
war. Er fehlte im katholischen Religionsunterricht. Und im Klassenbuch
stand bei ihm wie bei mir in der Rubrik Bekenntnis: "isr.".
Angst hat nichts mit Logik zu tun. Deutschlands Juden flößen
ihren Kindern die Antisemitenpanik mit der Muttermilch ein. Deshalb sind
die hiesigen Juden unfähig, ihre Gefühle preiszugeben. Vor allem
jene, die Anstoß erregen könnten.
Wir gebieten in Deutschland wieder über eine ansehnliche Reihe von
Judenspezialisten. An ihrer Spitze steht der Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki.
Er möchte kein Jude sein. Doch die Kritiker des Kritikers erinnern
ihn beständig daran. Den christlichen wie jüdischen Literaturexperten
Deutschlands will nicht aufgefallen sein, dass die hiesigen Hebräer
vierzig Jahre lang keine Gegenwartsliteratur hervorbrachten. Ihre Autoren
klagten vielmehr in steifer Prosa die Judenfeinde an und priesen die Helfer
der Hebräer. Doch ihre Gefühle mochten und konnten sie nicht
entdecken - was Voraussetzung jeder Literatur ist. Denn die Seelen der
Juden dieses Landes verharrten in der Schockstarre der Angst.
Jene Juden, die schließlich als Erste die Kraft fanden, ihre Empfindungen
preiszugeben, wuchsen im Ausland, fern der Nazifurcht auf, wie Irene Dische,
Maxim Biller, ich. Oder die Angst der Schreiber trocknete über Jahrzehnte
fern von Deutschland so weit, dass es ihnen möglich wurde, endlich
ihre Gefühle niederzuschreiben, wie dies Cordelia Edvardson, Ruth
Klüger und Laura Waco taten. Doch anders, als die Judenfreunde von
eigenen Gnaden erwartet hatten, barsten die Federn dieser neuen Poeten
nicht unter der Last der Versöhnungswilligkeit und der Anbiederei.
Wessen Eltern, Geschwister, Angehörige abgeschlachtet wurden, hat
Dringenderes zu erledigen, als Versöhnung zu predigen und um Verständnis
zu buhlen.
Zunächst gilt es, den eigenen Schmerz, die eigene Verletzung hinauszuschreien,
auf dass sie nicht die Seele ersticke. Diese Partituren sind nicht erbaulich.
Doch sie sind Teil des Deutschlandliedes, dessen Töne einst Wagner,
Hitler und ihre Adepten vorgaben.
Der erste deutsche Arbeiter-, Bauern-, und Kommunistenstaat ist untergegangen.
Unter anderem, weil er bei seiner Auferstehung aus Ruinen die Leichen
vergaß, die auch in seinem Keller vergraben waren. Doch wahr bleibt:
Wir dürfen nicht im braunen Modersumpf des Schreckens verharren,
das wäre der Endsieg des Führers. Wir müssen uns in der
Tat der Zukunft zuwenden.
Adolf Hitler stand nicht allein bei meiner Beschneidung Pate. Der Geist,
der ihn schuf, der Millionen seinen Namen brüllen ließ, die
vermeintlich für ihn, tatsächlich aber für sich, marschierten
und mordeten, holte das Volk der Täter ebenso ein wie jenes der Opfer.
So wurde schließlich die deutsch-jüdische Symbiose gebrannt,
die Gerschom Scholem einst als jüdisches Wunschdenken abgetan hatte.
Wir alle sind Kinder Hitlers. Das gibt uns auf, uns gemeinsam aus seinem
Bann zu befreien.
Frankfurter Rundschau, 16.11.2002
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