Vier Stufen der Erkenntnis
Was wir aus dem Traum von der Himmelsleiter lernen können
von Rabbiner Michael Goldberger
Träume sind nicht bloß Schäume. Sie
stellen vielmehr ein faszinierendes psychologisches Phänomen dar,
für das die Wissenschaft langsam Erklärungen liefert und mit
denen sich die Mystiker schon seit Jahrtausenden befassen.
Den ersten Traum, von dem die Tora berichtet, träumt
Jakob. Im Gegensatz zu seinem Zwillingsbruder Esau, war Jakob kein Abenteurer
sondern ein Studierender, der seine Zeit lieber zu Hause im Zelt als
draußen bei der Jagd verbrachte. Mit einem Mal aber mußte
er alles, was ihm lieb und heilig war und das Gefühl von Geborgenheit
und Schutz vermittelt hatte, verlassen.
Erinnern wir uns: Durch eine List erhält Jakob
von seinem Vater Isaak den Segen des Erstgeborenen. Sein übertölpelter
Bruder Esau schwört ihm allerdings tödliche Rache. Statt sich
an reicher Ernte des Heiligen Landes zu erfreuen und Herr über
andere Völker zu werden, wie es Isaak weissagt, bleibt Jakob nichts
anderes, als die hastige Flucht ins Ausland. Bei seinem Onkel Laban
will er Unterschlupf finden und so lange verweilen, bis Esaus Zorn vergangen
sein würde. Zu allem Unglück wird er von der hereinbrechenden
Dunkelheit überrascht und gezwungen, die Flucht zu unterbrechen.
Vermutlich ist dies das erste Mal in seinem Leben, daß
er unter freiem Himmel übernachten muß. Er fühlt sich
einsam, angsterfüllt und hoffnungslos. Die Ereignisse haben sich
derart überstürzt, daß sich ihm noch keine Gelegenheit
bot, in sich gehen und über seine Lage nachsinnen zu können.
Völlig erschöpft legt er seinen Kopf auf Steine - und träumt
von einer Leiter. Sie steht auf der Erde, reicht bis zum Himmel und
göttliche Engel steigen auf ihr herauf und herunter. Im Traum erscheint
Gott und sichert Jakob und dessen Nachkommen seinen Segen zu. Diese
Vision richtet Jakob auf. Er gewinnt an Selbstvertrauen und Mut, die
Grenzen des Vertrauten zu überschreiten, um in der unbekannten
Fremde die verlorene Sicherheit zu suchen. Was verbirgt sich hinter
Jakobs Traum, der ihm neues Selbstbewußtsein einflößte?
Die Erklärer erkannten in der Himmelsleiter ein
Symbol für die ständige Verbindung zwischen Mensch und Gott,
die zu jeder Zeit und an jedem Ort möglich ist - sie dient gewissermaßen
als kosmisches Band zwischen Himmel und Erde. Samson Raphael Hirsch
sieht in der Leiter ein Instrument, spirituell zu wachsen. Der wiederum
lehrt, daß sie vier Sprossen hatte. Jakob mußte also vier
Stufen erarbeiten, um sich aus seiner Niedergeschlagenheit zu erheben
und wieder mit dem Himmel zu verbinden. Als erstes muß sich Jakob
seiner Lage bewußt werden. Er macht eine Bestandsaufnahme aller
Gegebenheiten. Er vergleicht mögliche Fluchtwege, stellt fest,
daß es ihm nicht nur an Erfahrung, sondern auch an jeglicher Ausrüstung
mangelt. So bittet er Gott verzweifelt um Nahrung und Kleidung. Plötzlich
erkennt er auf der zweiten Ebene die Symbolik. Hat er nicht gerade mit
Hilfe von Nahrung und Kleidung seinen Bruder betrogen und seinen Vater
hinters Licht geführt? Als Esau völlig entkräftet um
etwas Essen bettelte, verlangte er dafür die Rechte des Erstgeborenen.
Seinem blinden Vater zeigte er sich in einem Ziegenfell, damit sich
sein Arm behaart anfühlte wie der von Esau und brachte ihm Speisen,
als wäre er selbst Jagen gegangen.
Sobald Jakob diese Gleichnisse versteht, kann er sie
deuten. Nun spürt er auf der dritten Stufe, daß er falsch
gehandelt hat und lernt, daß der Zweck die Mittel nicht heiligt.
Für diesen Fehler muß er gerade stehen und Verantwortung
übernehmen. Jetzt bietet sich ihm die Gelegenheit, durch aufrichtige
Reue moralisch zu wachsen. Auf der vierten Ebene schließlich ahnt
Jakob, daß ihn in Zukunft eine innere Stimme ständig an das
Unrecht, das er seinem Bruder angetan hat, erinnern würde. Eines
Tages wird er ihm wieder begegnen und von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen,
selbst wenn ihm jetzt die Flucht gelingt. Nachdem Jakob sich auf allen
vier Ebenen mit seiner Situation eingelassen hat, gewinnt er Vertrauen
und Zuversicht.
Diese vier Stufen der Auseinandersetzung entsprechen
den vier rabbinischen Methoden, Tora zu verstehen, und dem dazu passenden
kabbalistischen Modell, eine Situation zu entschlüsseln. Erstens
geht es um das Betrachten dessen, was passiert ist und mit den Sinnen
wahrgenommen werden kann. Dies entspricht dem "Pschat", dem
wortwörtlichen Lesen eines Textes. Dabei treffen wir immer wieder
auf Hinweise und versteckte Zeichen, die als Gleichnis dienen können.
Diese zweite Erklärungsebene heißt "Remes". Beim
"Drasch", der dritten Methode, geht es um die Frage, was uns
die Stelle sagen will, was wir daraus ableiten und lernen können.
Der Rabbiner zeigt die Moral einer Geschichte in seiner Predigt auf,
die entsprechend "Drascha" genannt wird. Die vierte Stufe
ist "Sod", das Geheimnis, welches in einem Text verborgen
ist.
Wer die Bedeutung einer Textstelle in all seinen Dimensionen
durchschauen will, muß sie auf diesen vier Ebenen beleuchten.
Für die Meister der Kabbala stehen diese Stufen für vier Welten,
wobei jede Welt einem der vier Buchstaben des göttlichen Namens
J-H-W-H entspricht. Diesem Modell der vier Welten liegt die Annahme
zugrunde, daß alles mehrdimensional ist, daß wir gleichzeitig
in verschiedenen Sphären existieren und handeln und daß Gott
auf all diesen Ebenen erlebt werden kann. So, wie die vier Methoden
der Auslegung helfen, einem biblischen Text näherzukommen, kann
uns das Meditieren über die vier Welten mit ihren spezifischen
Merkmalen und den darin enthaltenen Möglichkeiten helfen, Gott
näherzukommen.
Die erste Stufe heißt "Assija" und ist
die physische Welt des Handelns. Hier geht es um beobachtbare konkrete
Fakten und Naturgesetze. Es ist die Welt der körperlichen Bedürfnisse
und Triebe. Die zweite Ebene ist "Jetzira". Im Gegensatz zur
objektiven Welt von Assija bezieht sich Jetzira auf die subjektive Welten
der Empfindungen. Hier erleben wir Gefühle und Emotionen. Die dritte
Stufe heißt "Brija". Sie symbolisiert die Welt des Intellekts,
des Nachdenkens und der Erkenntnis. Die vierte Dimension schließlich
ist "Atzilut". Dies ist die Welt des Seins, in welcher wir
uns Gott am nächsten fühlen.
Im Traum der Himmelsleiter mit ihren vier Sprossen erkannte
Jakob diese vier Welten des Tuns, Fühlens, Denkens und Seins. Sie
halfen ihm nicht nur, die Hoffnungslosigkeit zu überwinden und
die Herausforderung zu meistern, sondern sich zu entwickeln und zu wachsen.
Die Mystiker benutzen das Modell der vier Welten nach wie vor, um sich
Gott zu nähern. Das Nachsinnen über die Fragen "Was tue
ich?", "Was fühle ich?", "Was denke ich?"
und "Was bin ich?" könnte auch für uns ein wunderbarer
Ansatz sein, Krisen in Chancen umzuwandeln.
1. Buch Moses 28,10 bis 32,2
Jüdische Allgemeine Wochenzeitung, 21. November
2001