Zum Gedenken an den 60. Jahrestag
des Aufstandes im Warschauer Ghetto
von Adam Rok

Die Ghettos im Osten sind zu Synonymen einer systematischen Entmenschlichung und Demütigung geworden. Dabei waren sie nur die Vorstufe zu jener Hölle, von der es kaum ein Zurück gab. Gedenkt man aber des Warschauer Ghettos und seiner Todgeweihten, so wird der Aufstand seiner mutigen Kämpfer zu einem Symbol des Widerstands. Es war ein aussichtsloser Kampf verzweifelter Menschen gegen einen übermächtige Feind. Kein Kampf für die Freiheit. Nur der Mut, sich nicht willenlos zur Schlachtbank führen zu lassen und die Art des Todes selbst zu wählen, um der Nachwelt zu hinterlassen, dass das jüdische Volk sich nicht kampflos hat ausrotten lassen.
Vor 60 Jahren, im April 1943, hörten Warschau, Polen und bald die ganze Welt vom bewaffneten Aufstand der Bevölkerung des Warschauer Ghettos gegen die Nazi-Besatzer. In der politisch-militärischen Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkriegs wird dieses Ereignis als der Aufstand im Warschauer Ghetto und gleichzeitig als das erste bewaffnete Vorgehen solchen Ausmaßes in den Städten des besetzten Europas festgehalten.
Ghetto war keine Erfindung der Nazis. Das mittelalterliche Europa kannte geschlossene jüdische Wohnviertel, kannte gelbe Flicken und Narrenmützen. Jedoch bedurfte es erst des Wahnsinns nazistischer Rasseideologen, damit es zu einem Synonym für Völkermord wurde.
Das erste Ghetto im besetzten Polen war im Oktober 1939 in Piotrkow Trybunalski errichtet worden, und gegen Ende des Jahres kam noch eins in Radomsk hinzu. Zahlreiche Ghettos entstanden in der ersten Jahreshälfte 1940 und im Sommer desselben Jahres. Darunter das in Lodz, der zweitgrößten Ansammlung der jüdischen Bevölkerung in Polen. Im Oktober 1940 wurde das Warschauer Ghetto errichtet. Jüdische Quartiere brachte man gewöhnlich in den allerschlechtesten Regionen einer Stadt unter - ohne Grünflächen, arm an Infrastruktur. Man war bestrebt, auf kleinstmöglicher Fläche die größtmögliche Zahl an Menschen unterzubringen. Man tat dies mit Bedacht. "Juden sollten sich an alle Situationen anpassen", erklärte der Distriktgouverneur Ludwig Fischer, "und wir versuchen solche Bedingungen zu schaffen, damit das sehr schwierig wird - sie werden vor Hunger und Not umkommen, und die Judenfrage wird zum Friedhof."
Am 16. November war bereits die ganze jüdische Bevölkerung Warschaus (rund 500000 Menschen) hinter einer drei Meter hohen Mauer eingesperrt. Die Tore wurden von Soldaten bewacht. Im Oktober 1941 ordnete der Generalgouverneur von Polen, Hans Frank, an, dass gegen Juden, die ohne Befugnis das Ghetto verlassen, die Todesstrafe verhängt wird. Die gleiche Strafe erwartete diejenigen, die Juden wissentlich ein Versteck anbieten. Schon bald gab es erste Hinrichtungen - vor allem von denen, die der Hunger zwang, auf der so genannten "arischen" Seite nach Lebensmitteln zu suchen. Denn der Hunger war stärker als die Angst, das Leben zu verlieren. Wirtschaftliche Beschränkungen, der Raub jüdischen Eigentums, das Fehlen jedweder Existenzgrundlage wurden zu einer Quelle des physischen und psychischen Verfalls vieler Ghettobewohner. Die über Karten geregelte Lebensmittelzuteilung deckte nicht einmal ein Viertel des biologischen Mindestbedarfs - Juden wurden 180 Kalorien pro Tag zugestanden. Der Hungertod gehörte zum Alltag. Auf den Straßen lagen Sterbende, die keine Kraft hatten, ein Stück Brot zu ergattern oder um die wässrige Suppe aus der "Volksküche" zu kämpfen, die vom Judenrat geführt wurde. Ludwik Hirszfeld notierte: "Tagtäglich treffen wir auf die charakteristischen Bilder: Auf dem Bürgersteig erblicke ich einen mit Zeitungen bedeckten Hügel, aus dem ausgestreckte Beine zu sehen sind, die entweder sehr geschwollen oder spindeldürr sind. Das sind die Leichen der Verhungerten oder der an Flecktyphus Verstorbenen."
Zeitgenössische Berichte liefern erschütternde Informationen über diese Tragödie. "Armut und Hunger, Kälte und verhängnisvolle hygienische Zustände", schrieb 1942 das "Informationsbulletin" des Untergrunds, "haben hier schreckliche Verhältnisse geschaffen. In vielen Wohnungen fehlt gänzlich das Heizmaterial. Ganze Familien sind erfroren. Beispielsweise im Haus Ostrowskastr. 14 sind von 190 Bewohnern 190 krank. Von 794 Personen in der Pawiastr. 63 starben 450, davon 200 in den letzten zwei Monaten. Einen Rekord in dieser fürchterlichen Statistik brachte das Haus Krochmalnastr. 21, das von 400 Leuten bewohnt war. Von ihnen starben bis heute alle." Emmanuel Ringelblum schrieb in seinen Tagebüchern: "Den schlimmsten Anblick bieten die frierenden Kinder mit nackten Beinchen in ausgefransten Kleidern, die auf der Straße stehen und weinen ... Heute in der Abendstunde hörte ich die Wehklagen eines solchen drei- bis vierjährigen Winzlings. Wahrscheinlich wird man die kalte Leiche des Kindes am frühen Morgen finden. Bereits im Oktober, als der erste Schnee fiel, wurden in den Hausnischen und Treppenhäusern der beschädigten Häuser 17 erfrorene Kinder gefunden."
Die Nazis hielten die Existenz des Planes zur "Judenausrottung" geheim; dieser wurde erst mit Beginn der "Aktion Reinhard" enthüllt. In jener Zeit liefen die Vernichtungslager in Belzec und Sobibor an. Im Juli 1942 wurden die Gaskammern und Krematorien in Treblinka in Betrieb genommen. Die Massendeportationen der Juden aus Westeuropa in das Konzentrationslager Auschwitz bestärkten die Welt in der Meinung, dass Hitler mit seinem irrsinnigen Plan der Vernichtung des jüdischen Volkes begonnen hatte. Das wurde auch den Einwohnern des Ghettos klar. Bereits sehr früh regte sich der Widerstandskampf im Warschauer Ghetto. Zivilen Widerstand gab es schon seit den ersten Monaten der Besatzung in Form von Bildung, von Selbsthilfe, der Unterstützung des Schulwesens, der Kinderbetreuung sowie der Unterstützung der Kultur- und Verlagstätigkeit. Der zivile Widerstand wurde zum Ausgangspunkt der jüdischen Kampforganisation (ZOB - Zydowska Organisacja Bojowa), die den bewaffneten Widerstand gegen die Besatzer aufnahm. Die Aktivisten der ZOB hatten zuvor aktiv an den zivilen Aktionen teilgenommen. Im März 1942 entstand im Ghetto der "Antifaschistische Block" als Ergebnis der Einigung zwischen politischen Parteien und Jugendorganisationen. Ihm traten neben der linken "Poalej-Zion" noch die "Hechaluz Hashomer Hatzair" und die Zionistisch-Sozialistische Partei mit der Jugendorganisation "Dror" bei.
Die so gebildete Kampforganisation wurde entkräftet, als sie zum Widerstand gegen die auf Vernichtung zielende Großaktion der im Juli 1942 eingeleiteten Liquidierung des Ghettos antrat. Unter dem Vorwand der Übersiedlung nach Osten transportierten die Nazis fast 300000 Menschen ab und ermordeten sie in Treblinka. In diesen Tagen erreichte der Naziterror seinen Höhepunkt. Täglich schickte man Transporte mit 5000 bis 6000 Menschen in den Tod. Diejenigen, die sich versteckten oder krank waren, wurden an Ort und Stelle getötet.
Im Oktober 1942, nach der Beendigung der ersten Etappe der Ghettoliquidierung, nach der noch etwa 60000 Menschen geblieben waren, kam es zur Vereinigung beinahe allen linken und demokratischen Kräfte im Ghetto. Es entstand das "Nationale Jüdische Komitee". Im November rief man einen Koordinationsausschuss ins Leben, der Einvernehmen mit dem bis dahin abseits stehenden "Bund" der jüdisch-sozialistisches Arbeiterpartei herstellte. In der Nacht vorn 1. auf den 2. Dezember 1942 wurde die Jüdische Kampforganisation ins Leben gerufen. An ihrer Spitze stand Mordechaj Anielewicz von "Hashomer Hatzair" neben Hersz Berlinski von "Poale Zion", Izchok Cukierman von "Hechalutz", Marek Edelman vom Bund, Michal Rozenfeld von PPR, der polnischen Arbeiterpartei. Das Ghetto beschloss zu kämpfen.
Es begann die Phase der intensiven militärischen Vorbereitungen. Waffen wurde beschafft, die Kommandostäbe geschult, Bunker für die Ghettobewohner gebaut und Kontakte zur polnischen Volksgarde und Hei matarnee geknüpft. Von diesen erhielten die Aufständischen die meisten Waffen für eine bewaffneten Kampf. Als im Januar 1943 die SS-Truppen das Ghetto betraten, um eine e neute Deportation durchzuführen, standen sie nicht willenlosen Massen gegenüber, sondern vor Menschen, die entschlossen waren, sich dagegen zu wehren. In einem Flugblatt an die Ghettobewohner rief die Jüdische Kampforganisation zum aktiven Widerstand auf: "Geht nicht willfährig in den Tod, verteidigt euch, kämpft!" Damit begannen die großen Ereignissen, deren Zuschauer die ganze Welt wurde.
Bei Anbruch des 19. April 1943 marschierten die Nazi-Truppen durch das Tor des abgeriegelten Viertels. Ihr Ziel war die endgültige Liquidierung des Ghettos. Nochmals knallten, ähnlich wie im Januar, Schüsse auf die Deutschen. Diesmal trafen sie genauer, vervielfacht von der Feuerstärke und Entschlossenheit der Kämpfenden. Im Rapport nach London aus dem Jahr 1944 lesen wir: "Nach der ersten Gewehrsalve und dem Bewerfen der geschlossenen SS-Reihen mit Granaten wurden die Straßen leer. Nach 15 Minuten erschienen Panzer. Eine mit brennbarer Flüssigkeit gefüllte Flasche traf einen Panzer. Er brennt. Zwei nachfolgende Panzer zogen sich schnell unter dem Kugelhagel und Beschuss mit Flaschen und Granaten zurück." Die geschlossenen Reihen fallen auseinander. Niemand singt weiter. Die Aufständischen sehen: Die Soldaten des "Herrenvolks" und deren Helfer verstecken sich nun wie Ratten in den Hauseingängen und den Mauernischen, voller Angst, die Nasen herauszustecken. SS-Leute prügeln die Ukrainer mit Peitschen aus ihren sicheren Verstecken heraus. Die Artillerie und die Luftwaffe unterstützen die Aktion. Der Widerstand der Aufständischen hält aber weiter an. Er wird über Wochen weiter fortgesetzt. Noch im Juni wird in den Ruinen des Ghettos vereinzelt geschossen. Der Kampf wird nicht einmal unterbrochen, als man erfährt, dass der Anführer Mordechaj Anielewicz 24-jährig am 8. Mai 1943 im Bunker nahe der Milastr. 18 getötet wurde. Trotz seines Todes setzten die anderen den Todeskampf genauso entschlossen fort. Zu Ende ging die Zeit des billigen jüdischen Todes. "Der Traum meines Lebens ging in Erfüllung", schrieb der Kommandant der Jüdischen Kampforganisation (ZOB): "Die jüdische Selbstverteidigung im Ghetto ist ein Fakt. Ich war Zeuge des heroischen Kampfes der jüdischen Aufständischen." Warschau schaute mit einer gewissen Überraschung, aber auch Bewunderung auf diesen "Jüdischen Krieg". In den Wochen des Kampfes wuchs das Mitgefühl für die Tragödie der letzten Bewohner des Ghettos wie auch die Achtung für die Heldentaten ihrer Kämpfer. Schon nach den ersten Kampftagen flatterte auf dem Dach eines Hauses am Muranowski-Platz eine rot-weiße Fahne neben einer weißblauen. SS- und Polizeigeneral Jürgen Stroop, der für die Aktion der Ghettoliquidierung verantwortlich war, erkannte diese Demonstration zu Recht als einen Aufruf zum gemeinsamen Kampf gegen den Besatzer.
Was den Aufständischen am meisten fehlte, waren Waffen, Sprengstoff und Munition. Leider war die Hilfe des polnischen Untergrunds, soweit es die Waffen betraf, sehr spärlich, wobei sich diese Passivität durchaus nicht aus einem Waffenmangel erklärt. Es spielten auch gewisse Vorurteile eine Rolle, besonders in den Reihen der "Heimatarmee". Allerdings unterstützte die polnische Untergrundorganisation die Kämpfenden im Ghetto durch eine Reihe militärischer Aktionen außerhalb der Mauer. Schon am ersten Tag des Aufstands kam es zum Gefecht zwischen einer Gruppe von Soldaten der "Heimatarmee" und den, die Ghettomauern bewachenden deutschen Soldaten. Es gab die ersten Toten. Am folgenden Tag standen die Wachposten unter dem Beschuss der "Volksarmee". Die Soldaten der "Heimatarmee" und "Volksgarde" kämpften in den darauffolgenden Tagen an den Mauern des Ghettos. Am 23. April berichtete Jürgen Stroop: "Außerdem ist mitzuteilen, dass seit gestern ein Teil der an der Aktion beteiligten Truppen ständig von außerhalb des Ghettos beschossen wurde - also von der arischen Seite. Dem Sturmbataillon, das gleich zur Abwehr überging, ist es in einem Fall gelungen, 35 polnische Banditen, Kommunisten, zu ergreifen, die danach sofort liquidiert wurden."
Die polnische Exilregierung und der polnische Untergrund alarmierten die Welt über die Lage der polnischen Juden, über deren Ausrottung und verlangten ein Eingreifen der Verbündeten. Maria Kan sagte, dass es vor den Augen der Welt zu einer Bestialität komme, die die Menschheitsgeschichte bis jetzt nicht erlebt habe. Die mit der Exilregierung kooperierende Führung des Zivilkampfes reagierte scharf auf die Nazi-Aktionen im Ghetto von Juli bis August 1942. In einer Bekanntmachung vom September 1942 hieß es: "Die Führung des Zivilkampfes protestiert im Namen des ganzen polnischen Volkes gegen die an den Juden begangenen Verbrechen. In diesem Protest sind alle polnischen politischen und gesellschaftlichen Gruppen vereint. Ähnlich wie im Falle der polnischen Opfer wird die Verantwortung für das an Juden ausgeübte Verbrechen auf die Henker und deren Mithelfer fallen." Im Namen der um die Front der Erneuerung Polens versammelte katholische Intelligenz formulierte eine bekannte Schriftstellerin, Z. Kossak-Szczucka, ihren Protest gegen die Passivität der Welt folgendermaßen: "Die Welt schaut auf dieses Verbrechen, das schlimmer als alles ist, was die Geschichte bisher gesehen hat, und schweigt. Das Gemetzel an Millionen wehrloser Menschen geht mit einem allgemeinen düsteren Schweigen einher. Dieses Schweigen darf man nicht länger tolerieren. Gleichgültig, was die Hintergründe sein mögen, es ist gemein. Im Angesicht des Verbrechens darf man nicht passiv sein." Die Haltung gegenüber der sterbenden jüdischen Bevölkerung fand im September 1942 ihren Ausdruck in der Gründung des Hilfrats für Juden, bekannt unter dem Decknamen "ZEGOTA".
Die Geschichte verurteilt eindeutig die Passivität derjenigen, die fähig waren, durch eigene Entscheidung und politisch-militärische Wirkungskraft den Nazi-Deutschen zu helfen oder zu vergelten, dies aber aus politischer Zauderei nicht taten. Die Wahrheit ist, dass auf dem Schlachtfeld die Juden und später der polnische Untergrund gegen die Nazis allein blieben. Die Ermordung von 6 Millionen Juden in Europa wurde dadurch erst möglich und das auch mehrere hunderttausend Warschauer Ghettobewohner in Treblinka vergast wurden.
In den Straßen Gesia, Pawia, Smocza, Mila, Niska und Zamenhof veränderte sich nach der Zerstörung des Ghettos das Straßenbild. Der Schutt ist nicht mehr da, manche Straßen tragen sogar andere Namen. Eine der größeren Verkehrsadern der Nachkriegszeit in diesem Teil Warschaus wurde nach Mordechaj Anielewicz benannt. Ein Denkmal, nach dem Entwurf von Nathan Rappaport wurde errichtet - zu Ehren des Ortes und zur Bewahrung der Erinnerung. Jedes Jahr am 19. April wird dort der Opfer gedacht und Blumen niedergelegt. Jedes Jahr gehen wir zum Bunker, wo Anielewicz vom Führungsstab der Aufständischen gefallen ist. Wir bezeugen Hochachtung vor den Heldentaten, aber unsere Gedanken gehen nicht nur in die Vergangenheit, betreffen nicht nur die Tragödie, die die Bewohner des Ghettos erleben mussten. Die Welt ist der Gegenstand unserer Sorge, die Welt, die seit dem Ende des grausamen Kriegs immer noch nicht die Welt des Friedens geworden ist. Wir sind uns sicher, dass diejenigen, die die Fahne zum Kampf im Januar und April 1943 erhoben, die über die Mauer zum Kampf gegen die faschistische Nazi-Herrschaft aufriefen, jetzt unsere Wünsche und Sorgen teilen würden.


Der Autor ist Chefredakteur der polnisch-jiddischen Zeitschrift "Slowo Zydowskie". Aus dem Polnischen von Maria Kneier; zit. nach: Frankfurter Jüdische Nachrichten, Pessach-Ausgabe 2003

zur Titelseite

zum Seitenanfang


Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau
Pfr. U.Schwemer, Theodor-Storm Str.10, 64646 Heppenheim;
Tel: 06252-71270 / Fax: 06252-72606