Die Palästinenser, Israel und der Holocaust
von Gisela Dachs

Gisela Dachs, seit vielen Jahren in Israel, ist Korrespondentin der Wochenzeitung DIE ZEIT. Das Thema "Der Holocaust in arabischer Sicht" hat sie seit langem beschäftigt. 1999 erschien ihr grundlegender Artikel zu dem Thema "Wer sich nicht erinnert, hat keine Geschichte. Die Palästinenser, Israel und der Holocaust" in dem von ihr herausgegebenen Sammelband "Deutsche, Israelis und Palästinenser, ein schwieriges Verhältinis" im Palmyra Verlag, Heidelberg. Ihr einleitendes Referat ist eine verkürzte Wiedergabe des damals erschienenen Artikels.
Nach einem langen und hoch interessanten Gespräch über seine Forschungen als Biologe nahm mich ein palästinensischer Wissenschaftler beiseite, um mich etwas Persönliches zu fragen. Was dann kam, war kein überstürzter Heiratsantrag, sondern eine respektvolle Prüfung meiner Geschichtskenntnisse. "Sagen Sie mir, das mit den sechs Millionen ermordeten Juden, das stimmt doch gar nicht. Es waren doch viel weniger gewesen, als die Israelis immer behaupten, oder?" Ich ließ mich auf einen Austausch ein, der mein Gegenüber sichtlich ins Grübeln brachte. Er blieb nicht der einzige Palästinenser, der mit mir eine ernsthafte Diskussion über den Holocaust führen wollte und zum Zuhören bereit war. Durch diese - neue - Aufgeschlossenheit gegenüber dem Leid des jüdischen Volkes unterscheiden sich heute immer inchl Palästinenser von ihren arabischen Brüdern, die meist weiterhin in alten Denkmustern verharren.
Jeder deutsche Journalist, der den Nahen Osten bereist hat, kennt die dort gehegten Sympathien für Deutschland, weil es "Bayern München, Mercedes und Hitler" hervorgebracht habe. Und wenn über den Völkermord an den Juden geredet wird, dann geht es selten um Fakten. Das Thema gilt vielmehr als eine schlagkräftige Waffe in der Hand Israels, um seine Stärke zu beweisen und mit westlicher Hilfe der gesamten Region seinen Willen aufzuzwingen. Politische Frustrationen und das Gefühl, zu ewig Unterlegenen zu gehören, verstellen den Blick auf die Vergangenheit. Aus diesem Grund hatte sich vor Jahren der ägyptische Außenminister während eines Israelbesuchs geweigert, dort die nationale Holocaustgedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem aufzusuchen. Dorthin zu gehen, wäre von der Kairoer Regierung als Kapitulation vor dem Zionismus empfunden worden.
Hitlers Vernichtung der Juden sei ein Mythos, lautet ein gängiges Argument, den die Israelis erfunden hätten, um den Zugriff auf arabisches Land in Palästina zu rechtfertigen. Die Leugnung des Holocaust führte dazu, dass sich einige arabische Länder weigerten, Steven Spielbergs Film Schindlers Liste zu zeigen. So hatte die Regierung in Kairo den Film verboten, weil dort "zu viele Morde" zu sehen seien. dass es aber auch in Ägypten neuerdings Zeichen der Umorientierung gibt, zeigt das im Frühjahr 1999 erschienene Buch "Der israelisch-arabische Konflikt - Die Krise der Demokratie und der Frieden". Darin plädiert der Publizist und Verleger Amin al-Mahdi unter anderem für die Gründung eines gemeinsamen arabisch-israelischen "Friedensparlaments", in dessen Gründungscharta er der Erinnerung an die Shoa als unmissverständliches Signal an arabische Holocaustleugner einen zentralen Platz einräumen möchte.
Amin al-Mahdi reagierte damit auch auf die Unterstützung arabischer Intellektueller des französischen Denkers Roger Garaudy, der 1998 wegen Leugnung des Holocaust in Frankreich verurteilt worden war. In dessen zwei Jahre zuvor erschienenem Buch "Die Gründungsmythen der israelischen Politik" erhob er unter anderem Zweifel an der Existenz der Gaskammern und deutete an, dass der israelische Staat den Holocaust seit seiner Existenz als moralisches Druckmittel seiner Politik einsetze. Die Angaben über den Massenmord hätten nur dazu gedient, die Gründung des Staates zu rechtfertigen. Der 85jährige Garaudy, der in seinem Leben gleich mehrere persönliche Wenden - vom Protestantismus über den Katholizismus und Marxismus zum Islam - vollzogen hatte, war daraufhin zum politischen Symbol im Nahen Osten geworden. Seine Vortragsreisen in der Region von Kairo bis Dubai verwandelten sich in regelrechte Triumphzüge, "weil Garaudy die israelische Politik kritisiert und damit die arabischen Interessen, also die Rechte der Palästinenser, vertritt", wie es die jordanische Schrifstellerin Nadia Aloul formulierte. Zahlreiche Berufsorganisationen in der arabischen Welt, unter anderem auch der palästinensische Schriftstellerverband in Ostjerusalem, veröffentlichten Erklärungen, in denen sie den Prozess gegen Garaudy kritisierten und zur Unterstützung des Kampfes gegen die Zionisten aufriefen. Statt Fakten zählte das Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Manche Kommentatoren verglichen die Gerichtsverhandlung gegen den Franzosen mit dem Schicksal Salman Rushdies. Sie verwiesen auf die Empörung, mit der die westliche Welt auf das Todesurteil gegen den Autor der Satanischen Verse reagiert hatte, und warfen ihr vor, die Meinungsfreiheit von Schriftstellern nur dann zu verteidigen, wenn ein Buch dem eigenen Denken entspräche.
Es gab aber auch Ausnahmen. So verfasste der libanesische Autor Elias Khoury zur Debatte über Roger Garaudy einen mutigen Artikel, in dem er sich darüber beklagte, dass sich die arabische Kultur nicht ernsthaft mit der erschreckenden Bedeutung des Gedankens der 'Endlösung' auseinandergesetzt habe. "Wir Narren ignorieren die ganze Frage und loben jeden, der die Vernichtungslager der Nazis leichthin abtut und ihre Bedeutung herabsetzt. Trägt der Plan zur Vernichtung der Juden etwa nicht den Samen der Vernichtung jeder anderen Rasse, jedes anderen Volkes in sich?" Ähnlich kritisch argumentierte der libanesische Journalist Hazem Saghiyeh in der in London erscheinenden arabischen Zeitung Al-Hayat: "Unter dem Eindruck unserer eigenen Katastrophe haben wir die Fähigkeit verloren, die Ursachen und Beweggründe für das zu identifizieren und zu verstehen, was uns widerfahren ist. Unsere Elite (und nicht nur das einfache Volk) versteigt sich sogar dazu, sich mit jedem zu verbünden, der die Geschichte leugnet und das Einwirken des einen Faktors auf den anderen verneint. Und so hindern sie uns daran, unser eigenes Schicksal zu verstehen und ein erhabenes menschliches Empfinden zu entwickeln, wie es auch für die Bewältigung des Palästinenserproblems unabdingbar wäre."
Der Wirbel um Garaudy, dessen Schriften in arabischer Übersetzung breiten Absatz gefunden hatten, veranlasste auch den Palästinenser Edward Said zu einem erneuten Appell an die arabische Welt, die Haltung zum Holocaust zu revidieren. Said, der in New York lebt und an der Columbia-Universität unterrichtet, gehörte zu den ersten arabischen Intellektuellen, die von der Notwendigkeit sprachen, das jüdische Leid anzuerkennen. Im August 1998 antwortete er den Anhängern Garaudys in "Le Monde diplomatique": "Warum erwarten wir von der ganzen Welt, unserem Leid als Araber gegenüber aufgeschlossen zu sein, wenn wir unfähig sind, uns dem Leiden anderer gegenüber aufzuschließen, auch wenn diese anderen uns unterdrücken? Im Gegenteil, die Realität des Holocaust und den Wahn des Völkermords am jüdischen Volk anzuerkennen, verleiht uns Glaubwürdigkeit hinsichtlich unserer eigenen Geschichte; das gibt uns die Möglichkeit, die Israelis und Juden zu bitten, eine Verbindung herzustellen zwischen dem Holocaust und den zionistischen Ungerechtigkeiten, die an den Palästinensern begangen wurden." Ähnlich argumentiert längst auch der palästinensische Dichter Mahmoud Darwisch, der mir im Sommer 1998 im Gespräch wie selbstverständlich auf meine Frage zu diesem Thema antwortete, dass "wir Palästinenser die jüdische Version des Holocaust akzeptieren müssen". Denn dieser Schritt gehöre zur Aussöhnung mit Israel.
In seiner "Erklärung zu Palästina" anlässlich des 50. Jahrestages der Al-Nakba, der palästinensischen Katastrophe von 1948, rief Darwisch sein Volk offiziell dazu auf, den Holocaust nicht länger zu ignorieren.
Wenige Monate zuvor hatte sich PLO-Chef Yassir Arafat bereit erklärt, das Holocaustmuseum in Washington zu besuchen. Das führte zu einer heftigen Kontroverse in den amerikanischen jüdischen Gemeinden: Die einen hofften, dass Arafat bei seiner Tour durch die Gedenkstätte endlich angemessen über das jüdische Leid informiert würde, während die anderen in Arafat weiterhin bloß den alten Terroristen sahen, der diesen Besuch allein aus politischem Kalkül heraus hätte machen wollen. Seine bloße Anwesenheit an diesem Ort wäre eine Farce. Um die Sache nicht noch komplizierter zu machen als sie schon war, sagte der PLO-Chef diesen Programmpunkt aus Zeitgründen ab. Ein Jahr später ließ er sich dann aber während eines Aufenthalts in Amsterdam in das Anne-Frank-Museum führen. Hinter solchen palästinensischen Annäherungen an die jüdische Geschichte mögen politische Motive stehen - in jedem Fall finden sie statt und haben allein deshalb schon Symbolcharakter.
Etwa zur gleichen Zeit wie Garaudys Pamphlet erschien im Libanon eine neue arabische Ausgabe von Mein Kampf. Den Umschlag ziert ein Hakenkreuz und ein Foto des jungen Hitler. Im Vorwort wird den Lesern erklärt, dass Hitlers Theorien von Nationalismus, Regierung und Rasse "ewige Fragen" seien. Hitler sei "einer der wenigen großen Männer, die fast den Lauf der Geschichte aufgehalten hätten", und habe ein "intellektuelles Erbe" hinterlassen. Erst dann räumt der Verfasser ein, dass die Nazis eine "Einparteien-Diktatur auf Gewalt und Brutalität und Machiavellismus" gegründet hätten. Vom Hass auf die Juden ist in der Einleitung nicht die Rede. Fragt man seine arabischen Anhänger, warum sie denn Hitler so sehr verehren, lautet die Antwort meist: "Weil er ein starker Mann war."
Dabei beruht die arabische Liebe zu Hitler auf einem Missverständnis. Als Gegner der Mandatsmächte Frankreich und England betrachtete man Deutschland in den dreißiger Jahren als einen natürlichen Verbündeten. dass es damals zu keinem stärkeren Eingreifen Deutschlands im Nahen Osten kam und die Araber das wahre Gesicht der Nationalsozialisten nicht zu sehen bekamen, trug zur Bildung eines "Mythos Hitler" bei, ebenso wie die Tatsache, dass das Ausmaß der Judenverfolgung nicht wirklich wahrgenommen wurde. Vielmehr betrachtete man das Dritte Reich als Verbündeten in der Abwehr eines jüdischen Staates. Dahinter jedoch eine konsequent rassistisch-ideologische Anlehnung an die Nazis vermuten zu wollen, wäre absurd. In diesem Zusammenhang wies der deutsche Forscher Peter Wien in dem Berliner "Palästina Journal" (Mai 1999) auf den Vorschlag eines der aktivsten Vertreter deutscher "Araberpolitik" hin, des deutschen Gesandten in Bagdad Friedrich Grobba. Denn schon als es 1934 darum ging, eine offizielle arabische Übersetzung von Mein Kampf anzufertigen, um nicht autorisierten Versuchen von arabischer Seite zuvorzukommen, wollte Grobba den Begriff "antisemitisch" durch "antijüdisch" ersetzen lassen, um Irritationen vorzubeugen. Man kann davon ausgehen, dass der deutsche Führer, wäre er noch dazu gekommen, alle semitischen Völker mit der gleichen Grausamkeit behandelt hätte wie die Juden.
Auf diesen doppelten Hass ging der bekannte marokkanische Schriftsteller Taher Ben Jelloun ein, als er im Frühjahr 1999 erstmals nach Israel kam und dort sein neuestes Buch "Papa, was ist ein Fremder?" vorstellte. Als man ihn nach seiner Meinung zu dem arabischen Umgang mit dem Holocaust fragte, betonte der in Paris lebende Autor, wie nahe Antisemitismus und Antiarabismus beieinanderlägen. "Wer in Frankreich keine Juden leiden kann, der mag in der Regel auch keine Araber." Deshalb gäbe es genug Grund für einen gemeinsamen Kampf. Diese Logik liegt für alle Europäer auf der Hand, die vor den Gefahren der eigenen rechtsradikalen Bewegungen warnen; aber im Nahen Osten muss auf diese Schattenseite des Alten Kontinents oft erst noch hingewiesen werden.
Als mich ein 19jähriger libanesischer Druse im Choufgebirge einmal beiseite nahm und fragte, ob es denn stimmen würde, dass die Deutschen heute Hitler nicht mehr leiden könnten, bejahte ich. Er zeigte sich enttäuscht von meiner Antwort. Dann erzählte er, wie gerne er nach Deutschland kommen würde, um dort zu arbeiten. Denn das Leben sei dort gut und das Geld viel wert. An dieser Stelle erinnerte ich ihn daran, dass es in meiner Heimat durchaus noch Menschen gebe, die Hitler toll fänden. Allerdings könnten diese Kreise für ihn, den dunkelhäutigen Libanesen, höchst gefährlich werden, sollte er es tatsächlich bis nach Deutschland schaffen. Der junge Mann wies verwirrt darauf hin, dass sein Gesicht nach libanesischen Normen "doch eigentlich sehr hell" sei. Dann verstummte er. Auf eine solche Logik war er nicht vorbereitet gewesen. In der Schule hatte er weder etwas über die früheren noch über die heutigen Nazis erfahren. Solche Themen lässt der Lehrplan im Hinblick auf den Noch-Erzfeind Israel nicht zu.
Vielleicht entspreche es dem Wesen des Krieges, dass bis zur Beendigung eines Konflikts seine Geschichte nicht korrigiert werden könne, schrieb 1996 der in Beirut ansässige Nahostkorrespondent Robert Fisk in der britischen Tageszeitung "Independent". "Die Tücke des Holocaust - seine Einzigartigkeit, sein absichtlicher Völkermord - hat die Araber auf eine Probe gestellt, bei deren Bewältigung sie gescheitert sind. Kein Muslim im Nahen Osten hat Probleme, anzuerkennen, dass die Türken 1915 einen Völkermord an den Armeniern begangen haben, obwohl diese Grausamkeiten von Muslimen begangen wurden. Aber der Holocaust verlangt ein Mitgefühl, das die gedemütigte arabische Welt nur schwer aufzubringen vermag." Allerdings lässt sich hier anfügen, dass sich die israelischen Regierungen ihrerseits bisher eher ambivalent gegenüber dem Massaker an den 1,5 Millionen Armeniern durch die Türken im Jahre 1915 verhalten haben. Dass Israel diesen Völkermord nie so laut verurteilt hat, wie es sich die Armenier gerade vom jüdischen Volk gewünscht hätten, hat emotionale und politische Gründe. Da gibt es zum einen die Befürchtung, dass dadurch die Einzigartigkeit des Holocaust in Frage gestellt werden könnte; zum anderen will man den guten Beziehungen mit dem militärischen und politischen Bündnispartner Türkei nicht schaden.
Weil die Interpretation von Geschichte immer auch ein Vehikel der Politik sein kann, hält der prominente Intellektuelle Azmi Bishara jeden Versuch, die Palästinenser mit dem Holocaust in Verbindung zu setzen - und sei es nur durch das Bindewörtchen "und" -, zunächst einmal für verdächtig. Denn für den palästinensischen Philosophen mit israelischem Pass, der an der Berliner Humboldt-Universität studiert hat und seit 1996 als Abgeordneter in der Knesset sitzt, sind die Palästinenser nur mittelbar mit der Geschichte des Holocaust oder vielmehr mit der "Geschichte des Post-Holocaust" verbunden. Die Palästinenser seien allenfalls seine "indirekten Opfer, insofern als sie von seinen direkten Opfern ihrer Heimat beraubt wurden", schreibt er in "Die Araber und der Holocaust - Die Problematisierung einer Konjunktion" (erschienen in: "Der Umgang mit dem Holocaust", Schriften des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und des Jüdischen Museums Hohenems). Bishara erinnert daran, dass sich die Araber damals "in eine Krise der europäischen Zivilisation verstrickt sahen, die sie weder verursacht hatten noch verhindern oder begrenzen konnten, aber an deren Folgen sie leiden mussten". Ihre Reaktion habe deshalb zwischen zwei Polen gependelt: der Verleugnung des Leidens der Juden einerseits und der Gleichsetzung des Zionismus mit dem Nazismus andererseits. Für Azmi Bishara ist beides unhaltbar. So lehnt er auch die exisistierende Tendenz ab, das Leiden der Palästinenser mit dem der Juden zu vergleichen. Denn dazu wäre es notwendig, in der Darstellung des palästinensischen Leidens zu übertreiben und das Ausmaß des Holocaust zu vermindern. "Eine reife Position, die den Holocaust in seinem ganzen Ausmaß begreift, ohne dabei die palästinensische Tragödie zu bagatellisieren - und zwar auf Grund der einfachen Erkenntnis, dass zwischen diesen beiden Ereignissen kein Zusammenhang besteht - ist sehr selten anzutreffen", bedauert Bishara.
Seine Kritik richtet sich aber auch an Israel, wo das Verhältnis der Araber zum Holocaust und zum Nazismus meist im Spiegel des Konflikts mit der arabischen Welt erforscht und bewertet wurde. Dabei geriet meistens in den Hintergrund, dass die arabische Welt nie jenes Ausmaß an Gewalt erreicht hatte, wie sie in diesem Jahrhundert in Europa zutage trat. Ebenso sei ja der arabische Judenhass auch nicht der Grund, sondern vielmehr eine Folge des israelisch-arabischen Konflikt gewesen - eine Tatsache, die in Israel von rechten Politikern gerne heruntergespielt wird, um nicht am alten Feindbild zu rütteln.
Diese These von der arabischen Bösartigkeit nach dem Ersten Weltkrieg hat Israeli Gershoni in seinem 1999 erschienenen Buch "Licht im Schatten - Ägypten und der Faschismus 1922-1937" widerlegt. Der israelische Historiker zeigt, dass ein Großteil der ägyptischen Gesellschaft zu dieser Zeit sogar gegen Faschismus und Nazismus eingestellt war. Israel habe die arabische Welt als Kollaborateur mit diesen Mächten sehen wollen, weil das den zionistischen Mythen diente. "Natürlich gab es damals Leute in Ägypten, die auf der Seite der Nazis standen", sagt Gershoni, "aber sie bildeten eine Minderheit. Es war vielmehr Anwar el-Sadat, der im nachhinein für die Verankerung des Mythos von ägyptischen Sympathien für die Nazis sorgte. Der antibritische Sadat identifizierte sich mit dem deutschen General Rommel, der im Zweiten Weltkrieg in der arabischen Wüste gegen die Briten gekämpft hatte; und in den fünfziger Jahren erzählte Saddat von seinen eigenen Heldentaten und rühmte sich damit, für Hitler zu sein."
Weil Wahrheit und Wahrnehmung oftmals auseinanderklaffen, hält es Gershoni für ein Problem, dass viele seiner akademischen Kollegen in den israelischen Nahostforschungszentren lieber Politiker spielen wollen, statt sich auf ihre Rolle als sachliche Wissenschaftler zu beschränken.
Dass der Umgang mit dem Holocaust und der Nazizeit in Israel selbst zum politischen Instrument umfunktionalisiert werden kann, zeigte schon Menachim Begin. Er hatte einst seinen Erzfeind Yassir Arafat, dessen Gefolgsleute 1982 aus Beirut vertrieben werden sollten, als "Hitler im Bunker" bezeichnet. So mancher Likud-Vorsitzende hatte auch schon die PLO mit der SS verglichen und Israels Grenzen von 1967 als Auschwitzgrenzen definiert: Je böser die arabische Welt, um so eher lässt sich gegenüber den Palästinensern eine harte Linie rechtfertigen. Wer nach Beispielen für diese These sucht, wird zudem leicht fündig, vor allem in der arabischen Presse. Die Regierung von Ministerpräsident Benyamin Netanyahu schickte regelmäßig an alle Auslandskorrespondenten Zitatesammlungen, vor allem aus ägyptischen Zeitungen, in denen der Holocaust geleugnet wird oder die besonders antijüdisch und antiisraelisch waren. So berichtete Al-Akhbar im September 1998 von "der jüdischen Erfindung der Massenvernichtung" mit dem Ziel, "die Juden zur Einwanderung nach Israel zu bewegen und die Deutschen materiell zu erpressen sowie die Unterstützung der Welt für die Juden zu bekommen". In einer anderen Zeitung hieß es, dass der "israelische Charakter" streitsüchtig sei, weil die Juden ihr Konfliktverhalten "mit der Muttermilch aufsaugen" sowie "hinter allen Kriegen stehen und sich Zerstörung zum Ziel gesetzt haben". Von normalen Beziehungen kann somit auch 20 Jahre nach dem Friedensabkommen von Camp David keine Rede sein.
Die zeitliche Nähe zwischen dem Holocaust und der Staatsgründung Israels mag dazu beigetragen haben, dass beide Ereignisse im arabischen Bewusstsein gleichgesetzt werden. Wer den Holocaust angreift oder leugnet, will im Grunde Israel treffen. Die Anerkennung des jüdischen Schicksals während der Nazizeit ist zu einer Art politischer Konzession geworden. Sich dem Leid des anderen gegenüber zu öffnen, fällt besonders schwer, wenn man sich wie die Palästinenser selbst als Opfer fühlt. Andererseits gibt es heute gerade unter ihnen immer mehr, die zu verstehen bereit sind, dass die israelische kollektive Psyche sehr tief von dieser Vergangenheit beeinflusst ist. Wer den ehemaligen Feind besser verstehen will, sollte die Gründe seines Traumas kennen.
Ein konkreter Anstoß in diese Richtung kommt nun ausgerechnet von einem Deutschen, der Palästinensern das Leid des jüdischen Volkes im Holocaust durch einen Besuch in Yad Vashem näherbringen möchte, dass er sich mit seiner Initiative auf ein vermintes Gebiet begeben würde, war dem Vertreter der Konrad-Adenauer-Stiftung in den palästinensischen Gebieten, Henning Niederhoff, von Anfang an klar gewesen. Deshalb geht er so behutsam wie möglich vor, wenn er immer wieder neue kleine Gruppen zusammenstellt, zu denen Palästinenser, Israelis und Deutsche gehören.
Dadurch sollen "keine Grenzen verwischt" werden, sondern es geht darum, dass sich die Teilnehmer als "Individuen" dorthin begeben und bereit sind, sich auf eine Betroffenheit einzulassen, die verschiedene Ebenen hat. "Die Idee war entstanden", erklärt Niederhoff, "nachdem ich gemerkt habe, wie wenig man auf palästinensischer Seite von dieser Epoche der europäischen Geschichte weiß." Weil leicht Missverständnisse entstehen könnten, wenn sich Deutsche mit dem Holocaust beschäftigen, vor allem, wenn sie das im Nahen Osten tun, finden diese mehrstündigen Besuche auf privater Ebene und ohne Medienwirbel statt. Ohne diesen Schutz würden die meisten diesen Schritt wohl gar nicht wagen.
Die Palästinenser gehen mit ihren Augen durch die israelische Holocaustgedenkstätte, deren Erklärungen auch nicht für sie konzipiert wurden. Sie sind auf hebräisch und englisch verfasst - und nicht in der zweiten offiziellen Landessprache, auf arabisch. Um so größer ist der Schock, wenn sie dort an prominenter Stelle ausgerechnet auf ein Foto von einem der Ihren stoßen: Es handelt sich um Haj Amin al-Husseini, den Mufti von Jerusalem, der einen Teil des Zweiten Weltkrieges in Berlin verbrachte und die Deutschen zu weiteren militärischen Siegen anspornte. Für die Palästinenser gilt der Mufti als Held, weil er sich niemals mit der jüdischen Einwanderung im Vorkriegspalästina abfand und niemals einem demütigenden Frieden zustimmte. Vor dem Teil der Ausstellung in Yad Vashem, wo die Vernichtungslager dokumentiert werden, ist neben seinem Bild eine Rede abgedruckt, die er am 1. März 1944 im Radio Berlin gehalten hat: Darin ruft der Mufti die Araber auf, die "Juden zu massakrieren, wo immer sie zu finden sind".
Dieser Appell ist den meisten Palästinensern unbekannt. Dass ihr Volk auf diese Weise quasi in eine Reihe mit den Naziverbrechern gestellt wird, stößt auf große Bestürzung. Es taucht unwillkürlich die Frage auf, wie denn die vielen Touristen und Neueinwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion auf diese "Kriminalisierung der palästinensischen Opfer" reagieren würden. Das Gefühl, hier in Yad Vashem plötzlich der Täterseite anzugehören, habe seine Trauer mit den Juden überlappt, erinnert sich ein palästinensischer Besucher. Er fragt, warum man an dieser Stelle nicht lieber auf die Schergen des Vichy-Regimes verwiesen hat.
In der Diskussionsrunde hinterher geht es dann allerdings nicht nur um den Mufti, sondern um die verschiedenen Emotionen, die der ungewöhnliche gemeinsame Besuch ausgelöst hat. Meist stehen die unterschiedlichen Ängste im Zentrum, die es auf beiden Seiten gibt. Manche Bilder von Flucht und Vertreibung vor Augen, fühlen sich die Palästinenser unwillkürlich an das eigene Schicksal und die immer noch ungewisse Zukunft erinnert. Und plötzlich sind auch die Israelis nicht mehr nur die Überlegenen und Starken, wie sie meist im Alltag von den Palästinensern wahrgenommen werden. Es treffen zwei unterschiedliche Gedächtnisse aufeinander, die durch den immer noch ungelösten Konflikt um das Land miteinander verbunden sind.
"Ich fühle mit den (jüdischen) Opfern, aber ich würde es vorziehen, wenn die Museumsausstellung mit der Befreiung der Todeslager 1945 enden würde. Die Verbindung mit der Schaffung Israels ist aus der Sichtweise meines Volkes, der Palästinenser, unlogisch", schrieb ein palästinensischer Journalist nach dem Besuch. Für andere wiederum liegt es auf der Hand, dass die palästinensische Beschäftigung mit dem jüdischen Leid während des Holocaust eine israelische Beschäftigung mit dem palästinensischen Leid seit 1948 erfordere.
Musste am Anfang noch an die Großzügigkeit der Palästinenser appelliert werden, um sich nach Yad Vashem zu wagen, war dies nach dem ersten Besuch nicht mehr nötig. Seither schlagen die Teilnehmer selbst neue Kandidaten aus ihren Familien und ihrem Bekanntenkreis vor. Mit dem Eintrag: "Es war soweit, die Barriere zu brechen", bedankte sich ein Palästinenser bei den Organisatoren und ermutigte zum Weitermachen. Er blieb nicht der einzige. Das Interesse an einem Thema, das vor wenigen Jahren noch als Tabu behandelt wurde, scheint auf palästinensischer Seite behutsam zu wachsen.
Als sich Yitzhak Rabin und Yassir Arafat im Herbst 1993 vor dem Weißen Haus die Hände reichten, hatten sie beschlossen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, um nach vorne, in eine gemeinsame Zukunft, blicken zu können. Sonst wäre der Weg wohl gleich am Anfang versperrt gewesen. Seither hat aber trotz aller Hindernisse eine intellektuelle Annäherung in beide Richtungen stattgefunden. So sind in Israel die einst bahnbrechenden Recherchen des Historikers Benny Morris über die Flucht und Vertreibung der Palästinenser nach der Staatsgründung Israels inzwischen in die Schulbücher eingegangen; und Morris selbst hat endlich eine gesicherte akademische Existenz an der Ben-Gurion-Universität in Beersheva gefunden. Als man in Israel im Mai 1998 den 50. Unabhängigkeitstag feierte, blickte man auch nach drüben in die Autonomiegebiete, wo die Palästinenser erstmals offiziell der Al-Nakba, der Katastrophe von 1948, gedachten. Manches erinnerte dabei an die israelische Erinnerungskultur. Dazu gehörte zum Beispiel eine Sirene, wie sie jedes Jahr am Holocaustgedenktag ertönt, aber auch der Versuch, die eigene - unter 400 zerstörten Dörfern begrabene - Geschichte auf einer Landkarte zu rekonstruieren und Berichte von Augenzeugen zu sammeln. Denn wer sich nicht erinnert, hat keine Geschichte.
Ein historischer Kompromiss zwischen Israelis und Palästinensern wird beiden kollektiven Gedächtnissen Rechnung tragen müssen. Dabei geht es nicht darum, das Leid des anderen mit dem eigenen zu vergleichen, sondern es anzunehmen. Wenn das gelingen sollte, dann wäre der Frieden im Nahen Osten sicherlich ein Stück näher gerückt.


Referat, gehalten auf der Konferenz der Israel Interfaith Association und der Konrad Adenauer Stiftung im Konrad-Adenauer-Kongresszentrum, am 30.10.2003 in Jerusalem. Quelle: Religionen in Israel. Vierteljahresschrift der Israel Interfaith Association, 1-2003. Deutsche Website www.israel-interfaith.co.il

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