Jesus Christus als Befreier Israels von seinen Feinden
Exegetisches zu einer universalen Christologie, die Israels Grenzen nicht überschreitet, sondern Israel in seinen Grenzen dient

von Klaus-Peter Lehmann


1.) Christologie im Dienst Israels

In den zurückliegenden Jahren haben sich fast alle Landeskirchen der EKD in vielfachen Erklärungen für ein von Grund auf erneuertes Verhältnis zwischen Juden und Christen ausgesprochen. Danach bleibt das Gefühl, dass mit ihnen ist allenfalls der erste Schritt für einen langen Weg des Umdenkens gemacht worden ist. Auf ihm wird vieles zu sichten und manches neu zu lernen sein, damit die begonnene Neuorientierung zu einer bejahten und gelebten Verwurzelung des kirchlichen Glaubens im Judentum sich vertieft. Nur dann wird dieser Anfang dauerhaft tragen. (1)
Die meisten Synodalerklärungen bekennen sich zur bleibenden Erwählung Israels als Gottes Volk oder wissen sich mit ihm berufen in die gemeinsame Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde. Doch drängt sich hier und da der Eindruck auf, als ob manche nicht überblicken, was sie damit sagen, wenn gleichzeitig im Blick auf die Christusverkündigung daran festgehalten wird, dass Jesus dem Judentum "heftig widersprochen" habe. (2)
Kann das Bekenntnis zu Israels Erwählung Bestand haben, wenn die Kirche von der Mitte ihrer Botschaft her, immer noch grundsätzliche theologische Kritik am Judentum meint anmelden zu müssen? Steht jenes Bekenntnis unter einem christologischen Vorbehalt oder steht mit ihm auch eine Erneuerung der Botschaft von Jesus Christus auf der kirchlichen Tagesordnung? Wie kann eine schriftgemäße Christuslehre aussehen, in der der Satz vom ewigen Bund Gottes mit Israel seine Entsprechung findet? Müsste ein solche Christologie nicht betonen, dass Christus ein Diener Israels (Röm 15,8) und seiner Verheißungen ist (Lk 1,50ff)?
Lukas und Paulus scheinen die Sendung Jesu unter diesem Vorzeichen verstanden zu haben. Anlässlich der Beschneidung Jesu ruft der gottesfürchtige Simeon ihn als Stärkung Israels (Lk 2,25) und als Rettung Gottes aus, als ein Licht zur Erleuchtung der Heiden und zur Verherrlichung deines Volkes Israel / lumen ad revelationem gentium, et gloriam plebis tuae Israel. (Lk 2,32). Zu Jesu lichtvollem Dienst gehören offenbar zwei zusammengehörige Seiten. Er bringt eine Offenbarung für die Heiden, die für Israel weltweiten Ruhm eröffnet. Das Werk des Messias Jesus ist demnach keine Offenbarung für Israel, sondern eine für die Völkerwelt, die diese in eine neue Beziehung zu Gottes Volk setzt, in eine Beziehung der Anerkennung. Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus begründet Israels Ruhm in der Völkerwelt. Vielleicht fügen sich andere Sätze des Lukas, die bisher zu wenig Beachtung gefunden haben, in dieses messianische Eröffnungsszenario einer weltpolitischen Beziehungsrevolution zwischen Israel und den heidnischen Völkern ein. (3)

2.) Jesus Christus weckt die Hoffnung auf die Wiederrichtung Israels
Der Lobgesang des Zacharias verkündet die Errettung Israels von unseren Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen (Lk 1,71), und spricht davon, dass wir, erlöst aus der Hand unsrer Feinde, ohne Furcht ihm dienen (Lk 1,74). In der Errettung Israels von seinen Feinden fasst Lukas die alttestamentlichen Befreiungszusagen für Israel zusammen: die Verheißung des Landes, die Rückkehr ins Land aus der Gefangenschaft des Exils, die Wiedererrichtung des Zion, Israels sicheres Wohnen im Lande, die Anerkennung des Gottes Israels durch die Völker und ihre Hinwendung zum Zion. Eingeläutet wird mit diesem geschichtlichen Befreiungsereignis in den Grenzen Israels die weltweite Völkerversöhnung, der menschheitsgeschichtliche Äon eines ökumenischen Schalom. Das ist der Inhalt von Gottes Eidwort an Abraham (Lk 1,73) und des Verheißungswortes seiner von Ewigkeit her ausgesandten Propheten (Lk 1,70). Das ist die Errettung Israels von seinen Feinden.
Jesus stellt sich selber in die Erfüllungsgeschichte dieser Zusagen für eine sichere Wiederherstellung Israels in seinem Land hinein. In der Synagoge zu Nazareth liest er den Prophetenabschnitt Jesaja 61,1ff: Er hat mich gesandt, den Armen frohe Botschaft zu bringen, den Gefangenen Befreiung zu verkünden,...die Zerschlagenen zu befreien und zu entlassen. Ein angenehmes Jahr des Herrn zu verkündigen (Lk 4,18f). Bei Jesaja geht es um die Juden im babylonischen Exil, denen er ihre Rückkehr ansagt: Da werden sie die Trümmer der Vorzeit wieder bauen und die Ruinen der Altvordern aufrichten (Jes. 61,4). Auch das zugesagte Gnadenjahr meint eine Rückkehr zum Land, allerdings die der in Israel besitzlos Gewordenen zum Besitz ihres Geschlechtes (Lev. 25,10). In diese Verheißungsgeschichte der Wiederherstellung äußerer und innerer Gerechtigkeit für Israel stellt Jesus sich selbst hinein: Heute ist dieses Schriftwort erfüllt vor euren Ohren (Lk 4,21).
Der darin eingeschlossene messianische Selbsthinweis ruft bei den Hörern Ablehnung und Empörung wach. Der Vergleich mit den Tagen des Elia und Elisa (V. 25-27) impliziert immerhin, dass Jesus sein Werk in deren Spur (Mt 17,3; Lk 9,30) als Wiederaufrichtung des in die Hand der Heiden gefallenen Israel sieht. Wobei sich die Empörung nicht nur gegen den messianischen Hinweis als solchen, sondern auch gegen die damit getroffene Feststellung richtet, dass Israel in feindlicher Hand liegt und sie, die Nazarener, es dulden oder nicht erkennen.
Der Schluss des Lukas-Evangeliums (24,21) und der Beginn der Apostelgeschichte zeigen, dass die Jünger mit dem auferstandenen Jesus die Hoffnung auf eine Wiederaufrichtung Israels verbinden. Himmelfahrt bedeutet, dass die Zukunft seines Werkes im Weltregiment des Gottes Israels beschlossen liegt. Deshalb stellen sie an ihn die Frage: Herr, stellst du in dieser Zeit für Israel das Königreich wieder her? / Domine, si in tempore hoc restitues regnum Israel? Er sprach zu ihnen: Euch gebührt es nicht, Zeit oder Stunde zu wissen, die der Vater nach seiner eigenen Macht festgesetzt hat. Aber ihr werdet Kraft empfangen, wenn der heilige Geist über euch kommt, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis ans Ende der Erde (Apg 1,6f).
Allen, die einen politischen Messianismus für das Neue Testament ablehnen, dürfte diese Stelle auf ewig ein Stein des Anstoßes bleiben. Denn traditionell geprägten Erwartungen zum Trotz lehnt Jesus das politische Projekt eines zionistischen Königreiches als sein Werk für Israel nicht ab, sondern verweist seine Jünger lediglich darauf, dass der Zeitpunkt seiner Verwirklichung in der Macht des Vaters liege, sie aber in der Kraft seines Geistes seine dennoch kommende Verwirklichung in Israel und der ganzen Welt verkünden sollen. Wobei Jesu Rede sich ganz in den Bahnen rabbinischen Denkens bewegt.
R..Samuel sagte: Vergehen möge der Geist derer, die die Endzeit berechnen wollen, und die dann sagen: Da die Endzeit erreicht ist, ohne dass (der Messias) erschien, so wird er auch nicht mehr kommen. Vielmehr sollst du ihn stets erwarten, denn es heißt: Wenn sie sich verzögert, so harre auf sie (Sanhedrin 97b).
Wie Rabbi Samuel sagt auch Jesus, dass sein Schüler sich aller Zeitpunktbestimmungen für das Kommen des Messias und der Endzeit enthalten sollen. Sie sollen aktiv harren, indem sie deren Kommen zuversichtlich und weltweit bekannt machen. Neutestamentlich wie talmudisch geht es beim messianischen Äon um die Wiederaufrichtung Israels und den weltweiten Völkerfrieden.
Wie kann der zur Rechten Gottes sitzende, also in Gottes Weltregiment erhöhte auferstandene Christus die irdische Befreiung Israels von seinen Feinden erwirken? Wie wirkt das Weltregiment des Gottes Israels durch Jesus Christus für Israel? Dogmatisch gesprochen durch die irdische Gegenwart des Himmlischen, also durch seinen Leib. Der Leib Christi wäre die messianisch-geschichtliche Befreiungswirklichkeit für Israel.

3.) Der Christusleib entfeindet die Völkerwelt für Israel
Von daher erscheint es bedeutsam, dass die im sog. Apostelkonzil (Apg 15) beschlossene Öffnung der Jesusgemeinden für gläubig gewordene Heiden, ohne sie der Beschneidung in den Bund zu unterziehen, mit einem ausführlichen Amoszitat beglaubigt wird. Genau betrachtet geht es um den apostolischen Nachvollzug einer Geistbewegung aus den eh schon an der Synagoge orientierten Heiden (seboumenoi) in die Jesusgemeinden hinein (Apg 11,20f; 13,12; 14,27; 15,4). Sie hatte mit der Taufe des Hauptmanns Cornelius begonnen (Apg 10,45). Das lukanische Amoszitat soll nun darauf hinweisen, dass diese Bewegung von Heiden in die jüdischen Christusgemeinden ein Erfüllungsgeschehen von prophetischer Verheißung ist: Darnach will ich mich zurückwenden und wieder aufbauen die zerfallene Hütte Davids, und das zerstörte an ihr will ich wieder aufbauen und sie wieder aufrichten (Apg 15,16; Am 9,11).
Demnach besteht ein verheißungsgeschichtlicher Zusammenhang zwischen der sich bildenden Christusgemeinde aus Juden und Heiden und der erhofften Wiedererrichtung des Reiches für Israel. Weil offenbar der sich bildende Christusleib aus allen Völkern die Verheißung für Davids Hütte wachruft, wird dieser Zusammenhang so zu denken sein: der Christusleib aus Juden und Heiden wirkt hin auf die Wiedererrichtung des geschlagenen und unterdrückten Israel. Wie das?
Hier hilft weiter, wenn wir die interessante Stelle über den Christusleib aus dem Kolosserbrief hinzuziehen. Dort beschreibt Paulus den Leib Christi als die neue Menschheit, als die mit Israel versöhnte Völkerwelt.
Nachdem ihr den alten Menschen ausgezogen und den neuen angezogen habt, der nach dem Bilde seines Schöpfers zur Erkenntnis erneuert wird, wo kein Grieche noch Jude, keine Beschneidung noch Vorhaut, kein Barbar, Skythe, Sklave, Freier ist, sondern alles und in allen Christus...Über dies alles ziehet die Liebe an, was ein Band der Vollkommenheit ist. Und der Friede des Christus walte in euren Herzen, zu dem ihr auch berufen seid in einem Leib (Kol 3,9-11.14f).
Der Christusleib ist die Gemeinschaft aus Juden und Heiden, der mit Israel und untereinander versöhnten Völker, in der vollkommenen Liebe Gottes. Durch ihre Eingemeindung in den Christusleib werden die Völker der Feindschaft zu Israel entzogen. Der Christusleib entfeindet die Völkerwelt für Israel. Der Anbruch des messianischen Menschheitsfriedens im Christusleib bedeutet deshalb die begründete Hoffnung für Israel auf eine endgültige Befreiung von seinen Feinden und den Wiederaufbau der Hütte Davids für alle Ewigkeit. Die auffällige Erwähnung der Skythen in Kol 3,11, des Volkes, das in der Antike als ausnehmend grausam galt, erinnert an die Martyriumsleiden in Israel während des Kampfes um politische Autonomie gegen die Seleukidenherrscher (2.Makk 7,4). Die Integration von Völkern mit barbarischen Kriegspraktiken und ohne humane Ethik in den Christusleib schafft die weltgeschichtlichen Bedingungen für einen ungefährdeten Wiederaufbau der Hütte Davids.
In diesem Zusammenhang dürfen wir vielleicht auch die Frage nach der Anerkennung der Messianität Jesu durch Israel stellen. Wenn Skalpjäger und Antisemiten durch Jesus zu Thora-Begeisteten in seinem Leib werden, wenn Völkerversöhnung durch den Leib Christi wirklich um sich greift, wenn deshalb auf dem Zion Löwen Stroh fressen und Panther beim Böcklein lagern, Israel also wiederrichtet und in Frieden leben kann, warum sollte dann nicht auch das Lamm in seiner Würde als messianischer Inaugurator dieser Beziehungsrevolution zum Schalom zwischen allen Völkern offenbar und von allen anerkannt werden?

4.) Die Kirche Jesu Christi als Behüterin Israels vor seinen Feinden
Die Verknüpfung der lukanischen Stellen mit Paulus im Kolosserbrief ermöglicht eine realistische Vorstellung vom geschichtlichen Wirken des zur Rechten Gottes erhöhten Christus. Mit dem zum Himmel gefahrenen Jesus bleibt die Hoffnung auf eine Wiedererrichtung des Königreiches für Israel verbunden (Apg 1,6). Jesus Christus streitet für die Aufrichtung des Zion, indem er Juden und Heiden durch seine Liebe und seinen Frieden als versöhnte in seinem irdischen Leib zusammenführt (Kol 3). Er gewinnt die Völker durch ihren Eintritt in seinen Leib für den messianischen Frieden und den Frieden mit Israel. So ist der Christusleib das von Gott berufene geschichtliche Movens zur Befreiung Israels von seinen Feinden. Also die Kirche!? Es wäre ihr genuiner Auftrag, allem Nationalismus abhold, durch die von ihr gelebte Versöhnung zwischen allen Völkern den Antisemitismus real zurückzudrängen und die Völker durch ihre Bekehrung zum Frieden in Christus zu Freunden Israels zu machen. Die Kirche Jesu Christi würde so den geschichtlichen Boden für ein friedliches Leben Israels mit seinen Nachbarvölkern, also den Wiederaufbau der Hütte Davids in Frieden bereiten.
Das Neue Testament verkündet den Tod Jesu Christi als das initiatorische Geschehen für die endgültige Völkerversöhnung. Er ist unser Friede,...der die Feindschaft abgebrochen hat in seinem Fleisch...um die zwei (Israel/Heiden) zu einem neuen Menschen zu schaffen...durch das Kreuz, nachdem er durch dieses die Feindschaft getötet hatte (Eph 2,14-16). Jesu Lebenshingabe für die vielen (Mk 10,45; Jes 53,10ff) Völker zielt auf dasselbe. Jesu Passion als Sieg über den Tod meint nicht die Abschaffung der Sterblichkeit des Menschen und seine Rettung in ein spirituelles Jenseits, sondern die Befreiung der Kreatur- und Menschenwelt vom ewgen Tod (EG79,4), vom zweiten Tod (Apk Joh 20,6), vom Tod als letzten Feind (1.Kor 15,26). Die Erlösung der Völkerwelt von der Hülle, von der alle Nationen umhüllt sind,... dem Tod sieht der Prophet Jesaja in der üppigen Feier eines Friedensmahles, für das der Herr der Heerscharen den Zion zurüstet und alle Völker einlädt, und das schließlich die Tilgung der Schmach seines Volkes bedeutet (Jes 25,6-8). Die gefeierte Völkerversöhnung auf dem Zion ist Israels Befreiung von seinen Feinden, denn ruhn wird seine Hand auf dem Berg, eingepresst wird Moab an seinem Platz (Jes 25,10). Das Neue Testament nimmt diese Hoffnung auf eine Aufrichtung Israels in der Ruhe des Herrn und vor dem Wüten der Völker auf. Die 1000jährige Herrschaft des Lammes und seiner Bekenner wird Israel wegen seiner messianischen Leidensgeschichte (Hebr 11) vor seinen wie Drachen tobenden Feinden Rettung bringen (Versiegelung Israels in Apk Joh 7; Fesselung des die Völker zur Feindschaft gegen Israel und die Jesus-Gemeinde verführenden Drachens in Apk Joh 20,1-6).
Ergibt sich daraus die Vision einer alternativen Kirchengeschichte? Statt eines 2000jährigen klerikalen Drachens, der gegen das Volk Gottes Feuer speit, eine 1000jährige Völkerversöhnung durch das Lamm und seine gerechten Zeugen. Ecclesia crucis statt ecclesia triumphans. Die mit Israel solidarische ökumenische Kirche Jesu Christi soll einen 1000jährigen Weg zum Reiche Gottes bahnen. Die Erklärungen der Kirchen zu Israel in den letzten Jahren wären eine allererste Ahnung von dieser alternativen Geschichte der Kirche Jesu Christi.
Anmerkungen:
(1) Eine Übersicht über die synodalen Erklärungen "Christen-Juden" hat H.-G. Vorndran im Materialdienst Nr. 3 / Juni 1998 zusammengestellt (auch zu hier zu finden)
(2) So in der Erklärung der Synode der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche "Christen und Juden" vom 22. September 2001
(3) Die folgenden Überlegungen zu Lukas sind mit angeregt durch die Ausführungen von F.W. Marquardt in: Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften? Eine Eschatologie, Band 2, Gütersloh 1994, S. 286-392

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Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau
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