Was kann Archäologie
zum Verständnis der Bibel beitragen?
Ein "neuer Blickwinkel" auf die Geschichte des alten Israel
von Michael Heymel
"Und die Bibel hat doch nicht recht! Archäologen
widerlegen Israels Tempel-Mythos" verkündete das ZDF-Kulturmagazin
"aspekte" am 18.10.2002. Auch das agnostische Nachrichtenmagazin
"DER SPIEGEL" ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen,
die neuesten Forschungsergebnisse aus Israel zu kommentieren. "Die
Erfindung Gottes" war, rechtzeitig vor Heiligabend, auf der Ausgabe
vom 21.12.2002 zu lesen. Das Bild der Titelseite zeigt Überreste
einer alten Bibelhandschrift, darunter ein Gemälde vom Jerusalemer
Tempelberg mit dem Felsendom. Untertitel: "Archäologen auf den
Spuren der Heiligen Schrift". Fazit des Berichts: die Bibel bietet
uns "fromme Lügen".
Was die Massenmedien mit solchen Fanfarenstößen
verkündeten, war das Erscheinen des Buches "Keine Posaunen vor
Jericho. Die archäologische Wahrheit über die Bibel", geschrieben
von dem israelischen Archäologen Israel Finkelstein und seinem US-amerikanischen
Kollegen Neil A. Silberman. Der reißerische deutsche Titel ist insofern
irreführend, als die beiden Verfasser sich keineswegs im Besitz der
Wahrheit wähnen. Sie zeichnen nur aufgrund der Ausgrabungen der vergangenen
50 Jahre ein Bild von der Geschichte des alten Israel, das in wesentlichen
Punkten von der biblischen Darstellung abweicht, mehr noch: sie bestreiten
in ihrem Buch rundweg die Historizität von Ereignissen und Gestalten,
die für jüdische Identität grundlegende Bedeutung haben.
Um eine Neuigkeit handelt es sich dabei aber mitnichten.
Bereits am 1.11.1999, zwei Jahre, bevor das Buch von Finkelstein
und Silberman in den USA erschien, berichtete Norbert Jessen in "DIE
WELT" unter dem Titel "Und die Bibel hat nicht recht" über
israelische Archäologen, die die Wahrhaftigkeit der jüdischen
Gründungserzählungen bestritten hätten. Jessen bezog sich
auf einen Artikel, der kurz zuvor in der Wochenendbeilage der Tageszeitung
"Ha'aretz" in Tel Aviv abgedruckt worden war. Sein Autor, Professor
Ze'ev Herzog, fasste die Ergebnisse der archäologischen Ausgrabungen
im Heiligen Land seit 1930 zusammen und kam zu dem Schluss, alle Geschichten
aus biblischer Urzeit - vom Garten Eden bis zur kriegerischen Eroberung
Kanaans - entsprächen nicht der nachweisbaren Realität und gehörten
daher ins Reich der Legenden. Die Königreiche von David und Salomo
seien relativ unbedeutend gewesen. Was die jüdische Orthodoxie am
empfindlichsten kränken musste: Über Generationen sei in Israel
ein männlich-weibliches Götterpaar, Jahwe und Aschera, verehrt
worden. Der Glaube an den einen Gott, der seit je als Kernstück jüdischer
Religion gilt, habe sich nur allmählich entwickelt.
Doch eigenartig: In Deutschland waren diese provozierenden
Thesen den Medien seinerzeit kaum eine Nachricht, geschweige denn einen
Bericht wert. Namhafte Zeitungen, denen ich eine deutsche Übersetzung
des Artikels von Herzog anbot, lehnten ab. Nur kirchliche Zeitschriften
zeigten Interesse. Erst jetzt (warum eigentlich?) finden Finkelstein und
Silberman in der deutschen Medienlandschaft die Beachtung, die den Thesen
ihres Kollegen Herzog versagt blieb. Hier wie dort haben die Kommentatoren
immer wieder auf denselben Bestseller von Werner Keller angespielt, der
1955 den damals aktuellen Stand biblisch-archäologischer Forschung
einem breiteren Lesepublikum vermittelte. Was hat sich seither verändert?
Ein Wendepunkt in der biblischen Archäologie
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts haben aufsehenerregende
Entdeckungen und die kontinuierliche Arbeit archäologischer Ausgrabung
und Interpretation den Eindruck erweckt, "in bezug auf die wichtigsten
Umrisse der Geschichte des alten Israel sei den biblischen Berichten grundsätzlich
zu trauen ..." Inzwischen ist der archäologische Kontext biblischer
Geschichte weitgehend rekonstruiert, so dass, wie Finkelstein und Silberman
in der Einleitung ihres Buches betonen, niemand die Bibel als "eine
erst spät entstandene, phantasievolle Priesterliteratur ... ohne
jegliche historische Grundlage" abtun könne. Es zeigten sich
jedoch so viele Widersprüche zwischen den Ausgrabungsfunden und dem
biblischen Text, dass es immer schwieriger wurde, die Bibel als historisches
Dokument zu betrachten. Seit den Jahren um 1970 begannen Archäologen,
die ausgegrabenen Funde nicht mehr zur Illustration der Bibel zu benutzen,
sondern lediglich als Material, um die menschliche Wirklichkeit hinter
den Bibeltexten zu ermitteln. Diesem methodischen (Neu-)Ansatz sind auch
Finkelstein und Silberman verpflichtet.
Die Geschichte des alten Israel wird rekonstruiert
In Übereinstimmung mit der neueren historisch-kritischen
Bibelforschung nehmen die Autoren an, dass die Tora und die deuteronomistische
Geschichtsdarstellung erst im 7. Jh. v. Chr. abgefasst wurden. Die archäologischen
Befunde deuten darauf hin, dass erst zu dieser Zeit Juda als eigener Staat
existierte und die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben weit genug
verbreitet war. Finkelstein und Silberman rekonstruieren die Geschichte
des alten Israel auf der Grundlage der archäologischen Befunde. Diese
Geschichte weicht an entscheidenden Punkten von der bisher vertrauten
Darstellung ab, weil sie die biblischen Texte nicht mehr als historischen
Rahmen voraussetzt. Die zwölf Kapitel des Buches beginnen jeweils
mit einer Nacherzählung der biblischen Geschichte (aus dem AT bzw.
der Hebräischen Bibel), daran anschließend werden die archäologischen
Fakten dargelegt und Vorschläge zur Interpretation erörtert.
Letztere fallen aber konventioneller aus, als es zunächst den Anschein
hat, denn sowohl in ihrer Datierung der Bibeltexte wie ihrer Deutung biblischer
Geschichten als "nationale[r] Mythen" folgen die beiden Verfasser
Hypothesen, die bereits Julius Wellhausen (1844-1918) vertreten hat.
Wie seinerzeit Ze'ev Herzog präsentiert also auch
das israelisch-amerikanische Autorenteam Erkenntnisse, die den theologisch
und bibelwissenschaftlich Gebildeten keineswegs neu sind, in der Öffentlichkeit
aber immer wieder zum Anlass für Sensationsberichte und aufgeregte
Debatten werden. Wer sich die Mühe macht, "Keine Posaunen vor
Jericho" unbeeindruckt vom Getöse des Literaturbetriebs zu lesen,
wird über den aktuellen Stand archäologischer Forschung in Israel
informiert und erfährt, welches Bild von biblischer Geschichte sich
aus ihr in Verbindung mit der kritischen Bibelwissenschaft ergibt.
Ein enttäuschendes Bild
Für jeden, der die biblischen Berichte bisher für
historisch zuverlässig gehalten hat, ist das von Finkelstein und
Silberman gezeichnete Bild freilich enttäuschend. Die Suche nach
den historischen Erzvätern hat sich als erfolgloses Bemühen
erwiesen. Statt dessen deuten verschiedene Anachronismen in den Vätererzählungen
darauf hin, dass diese viele hundert Jahre nach der Zeit verfasst wurden,
in der die Erzväter der Bibel zufolge lebten. Erst im 7. Jh. habe
man ein nationales Epos geschaffen, in dem ältere Geschichten von
Abraham, Isaak und Jakob eingefügt wurden. Dass die Israeliten wirklich
aus Ägypten auszogen und Kanaan eroberten, wird mit gewichtigen Gründen
bestritten. Für eine israelische Präsenz in Ägypten vor
dem Ende des 13. Jahrhunderts v. Chr. gibt es keinen archäologischen
Beleg. Mehr noch: man findet keinerlei Spuren dafür, dass eine große
Gruppe von Menschen durch die Sinai-Halbinsel gezogen ist. Die Orte, die
in der Exoduserzählung eine Rolle spielen, waren zu jener Zeit nicht
bewohnt, wohl aber im 7. Jh., und Mose wird in keinem außerbiblischen
Text erwähnt. Der Exodus-Text, so die Archäologen, sei "weder
historische Wahrheit noch literarische Erfindung", sondern spiegele
die reale Konfrontation zwischen König Josia und Pharao Necho wider.
Die kanaanäischen Städte, die angeblich von
den Israeliten erobert wurden, waren "befestigte Verwaltungssitze
für die Führungsschicht", besaßen aber keine Stadtmauern.
Auch Jericho war klein und unbefestigt. Zur Zeit seiner angeblichen Einnahme
durch die Israeliten war es unbewohnt. Tatsächlich wurde eine Reihe
von Städten Kanaans in der Spätbronzezeit zerstört - aber
nicht unbedingt von Israeliten. Ironie der Geschichte: Die frühen
Israeliten waren selbst ursprünglich Kanaanäer! Verschiedene
Indizien deuten darauf hin, dass die Darstellung der Frühzeit Israels
von den Erzvätern bis zur Landnahme' am besten zur Zeit des
Königs Josia (639-609 v.Chr.) passt. Das während seiner Herrschaft
zusammengestellte deuteronomistische Geschichtswerk ist durchdrungen von
der Vorstellung, "das gesamte Land Israel müsse vom göttlich
erwählten Herrscher des ganzen Volkes Israel regiert werden, das
strikt die Gesetze befolgt, die es auf dem Sinai empfangen hat ..."
Auch das Goldene Zeitalter Davids und Salomos hat es in
der Form, wie man es sich früher, den biblischen Berichten gemäß,
vorstellte, nicht gegeben. Jerusalem war zu ihrer Zeit keine großartige
Stadt, sondern den Ausgrabungen zufolge ein bescheidenes Bergdorf, ohne
zentralen Tempel und ohne großen Palast. Finkelstein und Silberman
gehen zwar nicht so weit wie die radikalen, als biblische Minimalisten'
apostrophierten Bibelhistoriker Thomas Thompson und Niels Peter Lemche.
Nach deren Ansicht sind "David und Salomo, die vereinte Monarchie
von Israel, ja die gesamte biblische Darstellung der Geschichte Israels
... nicht mehr als aufwendige, geschickte ideologische Konstrukte, produziert
von Priesterkreisen in der Zeit nach dem Exil oder sogar in hellenistischer
Zeit." Finkelstein und Silberman betrachten die biblischen Berichte
über David und Salomo zwar ebenfalls als "politische Propaganda",
doch sie bezweifeln nicht die Historizität dieser Könige.
Aufstieg und Niedergang des Nordreiches Israel werden
in der Bibel aus judäischer Perspektive dargestellt und theologisch
als Drama interpretiert: die religiösen Traditionen des Nordreichs
erscheinen als böse, Niedergang und Zerstörung Israels sind
Gottes Strafe für seine Sünden. Archäologische Arbeit und
ökonomische Untersuchungen zeigen dagegen, dass das reiche und produktive
Israel "für Assyriens große Pläne ein unvergleichlich
attraktiveres Ziel war als das arme, unzugängliche Judäa."
In Ergänzung zu bibelhistorischen Forschungen belegt
die Archäologie, dass in Judäa unterschiedliche religiöse
Rituale und Praktiken üblich waren. Bis zur späten Königszeit
wurden Fruchtbarkeitsgöttinnen verehrt, und in Jerusalem blühte
der synkretistische JHWH-Kultus, der die Göttin Aschera als Gemahlin
von JHWH einbezog. Inschriften- und Figurenfunde bestätigen die Anklagen
judäischer Propheten, wonach "JHWH in Jerusalem zusammen mit
anderen Göttern wie Baal, Astarte, den himmlischen Heerscharen und
sogar den nationalen Göttern der Nachbarländer verehrt wurde."
Die monotheistische Tradition wurde wohl erst an der Wende vom 8. zum
7. Jh. geboren, als eine neue religiöse Bewegung der synkretistischen
Verehrung entgegentrat, die den israelitischen Kult in Jerusalem zentralisieren,
der religiösen Praxis eine orthodoxe Form geben und eine um Jerusalem
zentrierte Nationalgeschichte schaffen wollte. Diese Bewegung bringt nach
Finkelstein und Silberman schließlich jene "Dokumente hervor,
die den Kern der Bibel bilden - vor allem das wichtigste, ein Gesetzbuch,
das bei einer Renovierung des Jerusalemer Tempels im Jahr 622 v. Chr.,
dem 18. Regierungsjahr Josias, entdeckt wird." Es ist das Original
des Deuteronomiums, eines in die Zeit des Mose zurückdatierten Gesetzes,
verfasst kurz vor oder während der Herrschaft Josias.
Im Epilog betonen die Autoren die enorme Bedeutung der
Hebräischen Bibel für das jüdische Gemeinschaftsleben.
Die "Integrität der Bibel, ja, sogar ihre Historizität,
hängt nicht von historischen Beweisen' für einzelne Ereignisse
oder Gestalten ab ... Die biblische Saga bezieht ihre Kraft daraus, dass
sie fesselnd und in sich stimmig von zeitlosen Themen wie der Befreiung
eines Volkes, seinem anhaltenden Widerstand gegen Unterdrückung und
seiner Suche nach sozialer Gleichheit erzählt." Folgt man den
beiden Autoren, so war und ist die Bibel maßgebend für jüdische
Identität und notwendig für das Überleben der Juden. Offenbar
wollen sie ihren Beitrag nicht als Angriff auf die Bibel verstanden wissen.
Die Frage bleibt:
Was leistet biblische Archäologie?
Zwei Antworten legen sich nahe. In Israel stößt
das Thema Bibel und Archäologie, anders als in Deutschland, aus begreiflichen
Gründen auf ein vitales Interesse. Wenn es keine Landnahme'
gegeben hat, dann hat es - so muss man folgern - auch keine göttliche
Verheißung gegeben, dann gab und gibt es keine religiöse Begründung
für Gebietsansprüche Israels. Daraus erklärt sich, weshalb
die mehrheitlich laizistisch eingestellten Israelis den Thesen von Finkelstein
& Co. entschieden widersprechen. "Manche sehen eine Gefahr darin,
wenn die Historizität der biblischen Erzählungen in Frage gestellt
wird, einen Versuch, die Legitimität des Staates Israel zu schwächen."
Im Blick auf jüdische Siedler dürfte dies noch ausgesprochen
milde formuliert sein. Biblische Archäologie ist unbequem, weil sie
entmythologisiert: sie zerstört den Gründungsmythos des Staates
Israel.
Andererseits dient sie einem aufgeklärten Umgang
mit der Bibel, der auf historische Wahrheitsbeweise verzichten kann. Nicht
nur eine entkirchlichte Öffentlichkeit, sondern auch bestimmte kirchliche
Kreise tun sich immer noch schwer damit, endlich zu akzeptieren, was unter
fortschrittlichen Theologen längst Konsens ist: "Die Bibel ist
ein Glaubenszeugnis und kein historisches Dokument." Maßgebend
dazu hat sich der jüdische Religionsphilosoph Abraham J. Heschel
(1907-1972) geäußert, der sich in seinem Denken bemühte,
die Bibel gemäß ihren eigenen Kategorien zu verstehen. Er schreibt:
Die Bibel "hat nicht die Absicht, eine Geschichtsdarstellung zu geben
[Its aim is not to record history...], sie will vielmehr von der Begegnung
Gottes mit dem Menschen auf der Ebene des konkreten Lebens berichten."
Eine Haltung, in der "wir die Wissenschaft zum Prüfstein für
die Religion machen und die Bibel als Dichtung oder Mythos ansehen",
ist rationalistisch. Sie entspricht nicht der literarischen Eigenart und
dem Geist der Bibel.
Nach der Historizität der Bibel zu fragen, ist prinzipiell
etwas anderes als die Frage zu stellen, in welchem Sinn die biblischen
Geschichten beanspruchen, wahr zu sein. Wer die biblische Chronologie
mit dem Spaten verifizieren will, verhält sich wie ein Landvermesser,
der mit seinen Geräten die Landverheißungen an die Erzväter
zu bestätigen sucht. Deshalb wird man sich von dem Paradigma, von
dem einst Kellers "Und die Bibel hat doch recht" geleitet war,
verabschieden müssen. Wie die kritische Bibelwissenschaft kann auch
die Archäologie mit ihren Methoden die Wahrheit der Bibel als Urkunde
des Glaubens weder erweisen, noch bestreiten. Sie kann uns aber helfen,
unsere Kenntnis der tatsächlichen, historisch erforschbaren Geschichte,
in der die Bibeltexte verwurzelt sind, zu vertiefen, und sie kann erhellen,
wann und warum die biblische Geschichte aufgeschrieben wurde.
Der Autor, PD Dr. Michael Heymel ist Pfarrer in Wald-Michelbach-Affolterbach
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