"Ein Überlebender hat das Recht zu vergeben"

Eva Mozes Kor, in Mengeles Experimenten gepeinigter Zwilling,
über ihre Befreiung aus der Opfer-Rolle

Eva Mozes Kor ist als Zehnjährige mit ihrer Zwillingsschwester Miriam Opfer der medizinischen Experimente Joseph Mengeles in Auschwitz geworden. Die Schwestern gehörten zu den wenigen, die Mengeles Forschung und das Lager überlebt haben. Nach dem Tod ihrer Schwester gründete Eva Mozes Kor eine Gesellschaft und ein Museum für die Opfer medizinischer Versuche in der Nazi-Zeit. Bei einer Tagung zum historischen Erinnern am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen sprach Harald Welzer mit der heute 69-Jährigen, die in den USA lebt. Welzer leitet die Forschungsgruppe "Erinnerung und Gedächtnis" des Essener Instituts und lehrt Sozialpsychologie an der Uni Witten-Herdecke.

Harald Welzer: Sie vertreten seit einigen Jahren vehement eine Position, die man von einer Überlebenden des Holocaust nicht erwartet. Sie plädieren dafür, den Tätern zu vergeben.

Eva Mozes Kor: Ja, und zwar deswegen, weil es dem Opfer hilft, gesund zu werden. Es geht dabei nicht so sehr um die Täter. Ich halte vor allem deshalb mehr von Vergebung als von Gerechtigkeit, weil Gerechtigkeit den Opfern nicht hilft. Ich bin gefragt worden, ob ich dafür gewesen wäre, dass Mengele zum Tode verurteilt worden wäre, gesetzt den Fall, man hätte ihn gekriegt. Was hätte ich davon, wenn er tot wäre? Mir wäre er lebend lieber gewesen, weil ich ihn dann hätte fragen können, was er mir injiziert hat. Mit Strafe und Gerechtigkeit kann ich als Opfer wenig anfangen. Verbrecher können bestraft und aus dem Verkehr gezogen werden. Jemand wie Hitler wäre wahrscheinlich schwer zu rehabilitieren gewesen, so jemand muss aus dem Verkehr gezogen werden. Aber das alles nützt den Opfern nichts.

Sie haben sich mit Ihrem Votum für Vergebung nicht nur Freunde gemacht.

Allerdings. Seit ich den Nazis vergeben habe, wollen 75 Prozent der Überlebenden nicht mehr mit mir reden. Sie verstehen nicht, dass es dabei nicht um die Täter geht. Für mich ist die Frage der Heilung entscheidend. Ich wollte in der Lage sein, Auschwitz zu besuchen und abends in eine Bar gehen und tanzen zu können. Ich habe mal erlebt, dass sich ein Journalist am Telefon darüber wunderte, dass ich über irgendetwas lachen musste. Ich fragte ihn, was er erwartete - ob es mir nicht erlaubt sei zu lachen, weil ich Auschwitz überlebt hatte?

Sie werden in der Opferrolle fixiert, weil die Leute Sie so sehen wollen und von Ihnen erwarten, dass Sie sich genauso sehen.

Ich lehne es einfach ab, die Rolle des Opfers zu spielen. Als ich mit dem Vergeben begonnen hatte, fiel eine Last von meinen Schultern, die ich fast 50 Jahre mit mir herumgetragen hatte. Die Vergebung schafft einfach die Möglichkeit, dass ein Opfer wieder zu jemandem wird, der kein Opfer ist. Der Schmerz verschwindet, und man ist einfach ein ganz normaler Mensch. Ein Überlebender hat das Recht zu vergeben.

Ein Recht, das ihm die Autonomie über sein Leben zurückgibt.

Exakt. Ein Opfer ist eine Person, die jedem Geschehen hilflos, hoffnungslos und passiv ausgesetzt ist, das ihr widerfährt.

Wie sind sie denn darauf gekommen, dass sie vergeben könnten?

Es hing damit zusammen, dass meine Zwillingsschwester gestorben ist, 1993. Das war ein extremer Verlust für mich, ich war sehr verzweifelt, und ich dachte, dass ich irgend etwas in ihrem Andenken tun müsste. Ich wusste aber nicht, was. Damals bekam ich eine Einladung zu einer Konferenz über NS-Medizin. Der Veranstalter regte am Telefon absurderweise an, dass ich doch einen Nazi-Doktor mit zu der Tagung bringen sollte. Ich sagte: "Wo um alles in der Welt soll ich einen Nazi-Doktor hernehmen? So viel ich weiß, inserieren die nicht im Branchenverzeichnis."Aber ich dachte tatsächlich darüber nach, und mir fiel ein, dass wir im Jahr zuvor an einem ZDF-Feature über Mengele mitgearbeitet hatten, in dem auch Dr. Münch eine Rolle spielte. Ich habe seine Adresse erfragt und mich mit ihm in Verbindung gesetzt. Im August 1993 bin ich also nach Deutschland geflogen, um einen Nazi-Doktor kennen zu lernen. Ich hatte furchtbare Angst und dachte, das würde ich nicht aushalten. Aber zugleich war ich extrem neugierig, ob ich etwas über Mengeles Experimente herausfinden könnte. Ich war sehr überrascht, mit welchem Respekt Münch mich behandelte. Leider wusste er nicht viel über die Zwillingsexperimente, aber es war interessant zu erfahren, dass es Nazis gab, die Albträume wegen Auschwitz hatten. Als wir über die Gaskammern sprachen, sagte er, das sei der Albtraum, den er jede Nacht habe. Ich fragte ihn, ob er bereit sei, mit mir nach Auschwitz zu fahren und dort ein Dokument darüber zu unterzeichnen, was geschehen war und was seine Rolle dabei war. Mir ging es dabei zunächst hauptsächlich darum, etwas gegen die Revisionisten und Holocaust-Leugner zu tun.

Danach dachte ich, ich müsste Münch irgendwie etwas zurückgeben, aber ich hatte keine Idee, was das sein könnte. Monatelang fiel mir nichts ein, aber plötzlich kam ich darauf, dass ich ihm einfach vergeben könnte, was er getan hatte, und in diesem Augenblick habe ich etwas ungeheuer Wichtiges verstanden: dass ich die Macht hatte, ihm zu vergeben. Das war eine unglaubliche Entdeckung! Das kleine Mengele-Versuchskaninchen, das sein ganzes Leben lang hilflos gewesen war, hatte plötzlich Macht! Die Vorstellung, dass ein Opfer für sein ganzes Leben machtlos bleibt, ist vielleicht das größte, das überwältigendste Problem, das es hat.

Die Trauma-Therapie zielt eigentlich auf das genaue Gegenteil. Die Ideologie des Durcharbeitens und Konfrontierens schreibt den Opferstatus fest, obwohl sie ihn zu beseitigen vorgibt.

Ich bin in Therapie gewesen. Mein Therapeut hat zu mir gesagt, ich sei eigentlich zu normal für das, was mir widerfahren ist. Wenn man so will, hat er von mir erwartet, traumatisierter zu sein. Ich habe mir im Januar den Knöchel gebrochen. Als Opfer hätte ich gedacht: Ich habe mir den Knöchel gebrochen, weil ich in Auschwitz war. Meine Knochen sind zu schwach, weil die Ernährung so schlecht war. Es gibt für alles, was einem passiert, eine Erklärung, die nach Auschwitz zurückführt. Tatsächlich hat vieles nicht das Geringste damit zu tun, aber das ist die Art, wie ein Opfer denkt. Wenn man aufhört, Opfer zu sein, verschwindet das. Natürlich hat man immer noch Probleme, aber man denkt nicht: und wieder passiert mir das! Das macht einen riesigen Unterschied.

Können Sie mir erzählen, wie Sie sich zuvor gefühlt haben?
Als ich jung war, gab es in meinem Leben nichts, was in Ordnung war. Ich war Waise, ich hatte nichts anzuziehen, ich lebte bei einer Tante, die sich kaum um uns kümmern konnte. Wir hatten jede Menge gesundheitliche Probleme, Ausschläge, schlechte Zähne, es gab kaum etwas zu essen in Rumänien. 1946 gab es den ersten Gedenktag für Auschwitz-Überlebende. Unser Rabbi bat darum, dass man, falls man noch Seife aus dem Lager besäße, diese mitbringen sollte, da sie aus menschlichem Fett gemacht sei. Seife war ungeheuer wichtig im Lager gewesen, und ich hatte noch zwei Stücke, die aus dem Lager stammten. Ich hatte mich von 1944 bis 1946 mit dieser Seife gewaschen! Ein Albtraum! Es gab niemandem, dem ich das erzählen konnte. In der Schule nannten sie uns "die dreckigen Juden". Wir gehörten nirgendwo hin. Als wir von Rumänien nach Israel gingen, wurde es etwas besser. Aber grundsätzlich blieb es dabei, dass wir zu niemandem gehörten. Es ist furchtbar für einen jungen Menschen, wenn er nirgendwo hingehört und niemand da ist, der sich um ihn kümmert. Und man konnte absolut nicht darüber sprechen, was geschehen war. Wenn ich darüber hätte sprechen können, hätte ich früher damit beginnen können, etwas gegen meinen Schmerz zu tun.

Haben Sie mit Ihren Kindern über Auschwitz geredet?

Ich habe immer mit meinen Kindern darüber geredet, was mir geschehen war. Die Kinder fragen danach. Meine Tochter kam eines Morgens heim, nachdem sie bei einer Freundin übernachtet hatte und sagte: "Mami, Mrs. Baker hat gar keine Nummer! Ich habe sie gefragt, warum sie keine Nummer hat. Ich dachte, alle Mamis haben eine Nummer." Mrs. Baker hat dann wohl gesagt, sie solle nach Haus gehen und mich fragen, was es mit der Nummer auf sich hat. Ich habe es ihr erzählt. Ich habe kein tiefes, dunkles Geheimnis daraus gemacht.

Was tun Sie, um Ihr Konzept der Vergebung zu verbreiten?

Ich halte Vorlesungen darüber und ich könnte mir vorstellen, entsprechende Workshops durchzuführen, um zu zeigen, wie einfach es ist. Man kann auf einen Zettel schreiben, was einem jemand angetan hat. Und man kann dann überlegen, ob man dieser Person vergeben kann. Und in dem Augenblick, wo man das tut, ist man einen großen Teil seiner Probleme los.

Lässt sich daraus auch ein Modell für postkoloniale Gesellschaften ableiten, die ja große Probleme mit ihrer Opfergeschichte haben?

Ich weiß nicht, wie lange sie brauchen werden, um mit der Vergangenheit klarzukommen. Die Wahrheitskommissionen in Südafrika sind ja ein Schritt in diese Richtung, und ich glaube, die Opfer sparen sich damit ein paar Jahre des Leidens. Meine 48 Jahre Leiden waren jedenfalls zu lang.

Frankfurter Rundschau, 13.6.2003

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