Die grundlegende Bedeutung der Vergebung
Eine Antwort auf Harald Welzers Umgang mit der Trauma-Therapie

von Micha Brumlik und Lena Inowlocki

Was es heißt, Opfer zu sein, war das Thema eines Interviews, das der Sozialpsychologe Harald Welzer mit Eva Mozes Kor in der FR geführt hat. Eva Mozes Kor war als Kind bei Menschen-Experimenten in Auschwitz gequält worden und hat jetzt einen ehemaligen SS-Arzt besucht, um ihm zu vergeben. Micha Brumlik, Leiter des Fritz-Bauer-Instituts, und die Soziologin Lena Inowlocki kritisieren in einem gemeinsamen Beitrag Welzer, er vertrete eine "Theorie der Vergebung als einer beliebigen Bewältigungstechnik".

Eine 69-jährige Frau wurde zusammen mit ihrer Zwillingsschwester als Zehnjährige den Qualen "medizinischer" Experimente des Auschwitz-Lagerarztes Joseph Mengele ausgesetzt. Nur wenige Kinder und Jugendliche überlebten die Tortur, Eva Mozes Kor und ihre Schwester gehörten dazu. Sie fristeten nach Ende des Krieges ein karges Leben in Rumänien, später wanderten sie nach Israel aus und schließlich in die USA. Vor zehn Jahren starb die Zwillingsschwester, eine schwere Verlusterfahrung für Frau Mozes Kor. Sie nahm im selben Jahr Kontakt mit einem ehemaligen SS-Arzt auf, mit Dr. Münch, an den sie sich zwar aus Auschwitz nicht erinnerte, den sie aber im Verlauf von Dreharbeiten zu einem ZDF-Feature über Mengele kennen gelernt hatte. Dazu sagt sie im Interview mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer, das am 13. Juni 2003 in der FR abgedruckt wurde:

"Im August 1993 bin ich also nach Deutschland geflogen, um einen Nazi-Doktor kennen zu lernen. Ich hatte furchtbare Angst und dachte, das würde ich nicht aushalten. Aber zugleich war ich extrem neugierig, ob ich etwas über Mengeles Experimente herausfinden könnte."

In dieser Schilderung findet sich die Datierung eines Neubeginns, eines von sicherlich vielen Versuchen, das unendliche Maß des Erlittenen einzudämmen, auf ein lebbares Maß zu bringen. Frau Mozes Kor überwindet ihre "extreme Verlusterfahrung" nach dem Tod der Schwester, indem sie handelt. Der Monstrosität der "medizinischen" Experimente, denen sie als Kinder ausgesetzt waren, stellt sie Alltagshandlungen gegenüber, die ein menschliches Maß herstellen sollen und die vor allem auf ihrer eigenen Initiative beruhen: Sie fliegt nach Deutschland, "um einen Nazi-Doktor kennen zu lernen". Was aus einer Außenperspektive paradox und geradezu absurd anmuten kann, bedeutet für Frau Mozes Kor, als Handelnde, als selbständig Entscheidende aus ihrer Situation des Erleidens herauszufinden. Sie trifft Münch, er kann - oder will - ihr zwar dringende Fragen nach dem, was in den Zwillings-Experimenten geschah, nicht beantworten, behauptet aber, jede Nacht Albträume wegen Auschwitz zu haben. Frau Mozes Kor möchte, dass er mit ihr nach Auschwitz fährt, um ein Dokument gegen die Leugner der Vernichtung zu unterzeichnen.

Für Eva Mozes Kor stellt sich diese Situation so dar, als gäbe es eine gemeinsame Definition dessen, was Auschwitz war; als bedeutete das Zugeständnis der Unterschrift eine endlich erfolgte Anerkennung des Unrechts, das ihr, ihrer Zwillingsschwester und den anderen Opfern für ein Leben lang angetan wurde. Für sie folgt daraus ein Hochgefühl: "Das kleine Mengele-Versuchskaninchen, das sein ganzes Leben hilflos gewesen war, hatte plötzlich Macht!" Sie fährt fort, indem sie diese Erfahrung verallgemeinert, und daraus schließt: "Die Vorstellung, dass ein Opfer für sein ganzes Leben machtlos bleibt, ist vielleicht das größte, das überwältigendste Problem, das es hat."

Die Würde derjenigen, die durch Folterungen für ihr Leben gezeichnet sind, umfasst auch Handlungen, die aus einer Beobachterperspektive unangemessen erscheinen. Frau Mozes Kor hat das Recht, aus ihrer existenziellen Verzweiflung heraus nach jedem Strohhalm zu greifen, der sich ihr bietet. Indem sie aus ihrer Sicht den ehemaligen Lagerarzt dazu bringt, zur Anerkennung der Verfolgung und der Verfolgten beizutragen, haben sich für sie Peinigung und Entrechtung auf ein menschlich erträgliches Maß bringen lassen.

Wie steht es aber mit den Folgerungen, die der Interviewer vornimmt? Welzer schließt an die Verallgemeinerung seiner Interviewpartnerin die Feststellung an, "die Trauma-Therapie zielt eigentlich auf das genaue Gegenteil. Die Ideologie des Durcharbeitens und Konfrontierens schreibt den Opferstatus fest, obwohl sie ihn zu beseitigen vorgibt." Die Schlussfolgerung, dass die Machtlosigkeit des Opfers dessen schwerstes Problem sei, wird in der Feststellung des Interviewers in eine Generalabrechnung mit der Trauma-Therapie umgemünzt. Dieser werden nicht nur ideologische Grundannahmen, sondern auch eine kontinuierliche Erzeugung des Opfer-Seins vorgeworfen; mit anderen Worten: Gerade durch die Trauma-Therapie würden Opfer als Opfer fixiert.

In den späten 70er und dann 80er Jahren, als die lang anhaltende Traumatisierung der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung zum ersten Mal seit Kriegsende in einer allgemeinen Öffentlichkeit thematisiert wurde, waren dafür psychoanalytische Untersuchungen maßgeblich, die auf die Folgen der Traumatisierung hinwiesen. Die gesellschaftliche Anerkennung des Leidens an der Verfolgung beruhte auf den Erkenntnissen der Psychoanalyse zur lang anhaltenden und auch transgenerationalen Traumatisierung. Diese wissenschaftlich-politischen Debatten führten dazu, dass die Opfer sich ihres Opferseins nicht mehr schämen mussten. Indem Welzer jedoch die reale Opfererfahrung in eine mehr oder minder beliebig umdeutbare "Opferrolle" verwandelt, pathologisiert er - womöglich gegen seinen Willen - ebenjene Überlebenden, die weder fähig noch bereit sind, sich die magische Formel der "Vergebung" anzueignen.

Frankfurter Rundschau, 23.6.2003

zur Titelseite

zum Seitenanfang

 

Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau
Pfr. U.Schwemer, Theodor-Storm Str.10, 64646 Heppenheim;
Tel: 06252-71270 / Fax: 06252-72606