Vergeben ist ein Recht aller Opfer
Rückgewinnung der eigenen Autonomie ist das entscheidende Ziel

von Harald Welzer

Am vergangenen Montag ist in dieser Zeitung eine Antwort von Micha Brumlik und Lena Inowlocki auf ein Interview erschienen, das ich mit Eva Mozes Kor geführt habe, die als Kind Joseph Mengeles Zwillingsexperimente in Auschwitz überlebt hat und seit einigen Jahren ein Konzept der "Vergebung" vertritt. Brumlik und Inowlocki zeigen sich empört über Stil und Inhalt des Interviews und werfen mir vor, ich bestreite die "realen Konsequenzen" der nationalsozialistischen Verbrechen und hätte selbst eine "offensiv vertretene Theorie der Vergebung" entwickelt. Tatsächlich habe ich mich vor diesem Interview noch nie mit dem Thema "Vergebung" befasst, wohl aber den Hauptteil meiner wissenschaftlichen Arbeit dem Fortwirken der NS-Vergangenheit gewidmet. Kann es sein, dass der zitathafte Titel unseres letzten Buchs zu diesem Thema, "Opa war kein Nazi", Brumlik und Inowlocki zu der bizarren Einschätzung gebracht hat, ich bestreite die Folgen der NS-Verbrechen?

Weitere Vorwürfe richten sich darauf, dass ich das Interview suggestiv geführt und Frau Mozes Kor "instrumentalisiert" habe. Nun, wer ihre Texte und Reden kennt, wird wissen, dass diese exakt von denselben Dingen handeln wie das Interview. Und dass Frau Mozes Kor sich nicht ohne weiteres instrumentalisieren lässt, mag man daran ermessen, was sie in den letzten Jahren getan hat: ein Museum gegründet, eine Sammelklage gegen Bayer angestrengt und im selben Kontext die Max-Planck-Gesellschaft veranlasst, unter großer Medienbeachtung eine Entschuldigung dafür auszusprechen, was ihre Vorgängerinstitution im Zusammenhang der medizinischen Experimente in Auschwitz an Schuld auf sich geladen hatte.

Warum also dieser Angriff? Ich glaube, dass das von Frau Mozes Kor vertretene Konzept der Vergebung einen Affekt auslöst, der darauf zurückgeht, dass sie damit ihre Opferrolle aufkündigt. Dieses Konzept, Frau Mozes Kor hat es betont, hat weniger mit den Tätern als mit den Opfern zu tun, denen so eine Befreiung aus dem psychischen Leidensdruck ermöglicht werden kann, in dem das Grauen oft lebenslang nachwirkt. Jedenfalls ist ihre Erfahrung, dass ihr die Emanzipation von der Opferrolle möglich war; und vom Standpunkt der Heilung aus, den sie vertritt, sehe ich nicht, was dagegen spräche.

Wohl aber bemerkt man an der Reaktion Brumliks und Inowlockis, dass die Kündigung der Opferrolle beträchtliches Unbehagen hervorzurufen vermag: Opfer zu sein und sich wie ein Opfer verhalten zu sollen ist ja nicht allein das Ergebnis dessen, was man durchlitten hat, sondern auch eine zugeschriebene Rolle, die selbst etwas mit dem Fortwirken der Vergangenheit und den Verspannungen ihrer so genannten Bewältigung zu tun hat. Es scheint etwas Unberechenbares davon auszugehen, wenn ein Opfer die ihm zugeschriebene Rolle zurückweist.

Wohl deshalb beginnen Brumlik und Inowlocki ihren "Antwort"-Text mit einer Analyse von Frau Mozes Kor, deren Basis absurderweise das Interview selbst ist. Diese Analyse gipfelt in der pseudotherapeutischen Einschätzung, dass Frau Mozes Kor das Recht habe, "aus ihrer existenziellen Verzweiflung heraus nach jedem Strohhalm zu greifen, der sich ihr bietet". Damit wird ihr Konzept der Vergebung in die Opferpathologie zurückgeordnet, und beide - Frau Mozes Kor und die Vergebung - bekommen gezeigt, wo sie hingehören: auf die Couch. Ich finde dieses Verfahren indiskutabel, möchte aber den Anlass nutzen, erstmals tatsächlich einige Gedanken zum Thema "Vergebung" anzustellen.

Zunächst: "Forgiveness" spielt seit einigen Jahren eine wichtige Rolle in der Debatte, die sich mit der Rekonstitution und Demokratisierung der Nachfolgegesellschaften kolonialer, kommunistischer und autoritärer Staaten befasst. Diese Gesellschaften stehen vor der schwierigen Aufgabe, das staatliche Gefüge zu reorganisieren, demokratische Verhältnisse herzustellen, den Opfern gerecht zu werden und mit den Tätern auf eine Weise umzugehen, die den Staatsbildungsprozess trotz allen Unrechts möglich macht. Genau in diesem Zusammenhang wird das Konzept der Vergebung diskutiert und - etwa in Gestalt der südafrikanischen Wahrheitskommissionen - in reales Handeln umgesetzt.

Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass die Täter ihre Taten eingestehen, was die Erfahrung der Opfer bestätigt und anerkennt - ein Recht, das den Holocaust-Überlebenden lange nicht zugestanden wurde. Ein zentrales Element des Traumas der Überlebenden bestand gerade darin, dass ihr grauenhaftes Erleben und die Zerstörung einer Perspektive "normalen" Weiterlebens nicht anerkannt wurde, und genau auf diese Anerkennung zielt die Praxis der Wahrheitskommissionen und die schmerzhafte Begegnung von Tätern und Opfern. Vergebung hat damit einen direkten Bezug auf die Wiederherstellung der Autonomie der Opfer, was Gerechtigkeit und Wiedergutmachung allein nicht leisten können. Vergebung als politisches Konzept zielt also darauf, genau das zurückzugewinnen, was den Opfern totalitärer Gewalt genommen wurde: Subjektivität, Handlungsfähigkeit, Autonomie.

Auch Hannah Arendt hat darauf hingewiesen, dass Vergebung überhaupt erst ein Handeln ermöglicht, das nicht an die Untaten gebunden bleibt. Die Fähigkeit zur Vergebung, sagt sie, ist der Modus, "durch (den) der Handelnde von einer Vergangenheit, die ihn auf immer festlegen will, befreit wird". Und Arendt betont auch, dass Vergeben immer ein "eminent persönlicher" Akt sei, der "natürlich nicht das Geringste daran ändert, dass das Unrecht Unrecht war". Für Eva Mozes Kor ist das eine persönliche Erfahrung, und sie betont, dass es dabei keineswegs um Vergessen oder um die Relativierung dessen geht, was ihr angetan wurde. Deshalb spricht sie vom Recht des Überlebenden zu vergeben, und es liegt in diesem Recht, dass der oder die Überlebende selbst darüber verfügt, wann es angewendet wird.

Das Recht der Überlebenden zu vergeben schließt keineswegs das Recht aus, unversöhnlich zu sein, an dem etwa Jean Améry oder Vladimir Jankélévitch zeitlebens festgehalten haben. Wenn man allerdings, wie Brumlik und Inowlocki, der Überlebenden das Recht zu vergeben abspricht, spricht man ihnen logisch auch das Recht zum gegenteiligen Verhalten ab und bindet sie, so oder so, auf immer an das Handeln, das ihnen aufgezwungen wurde. Ich kann nicht sehen, wie sich eine solche Position moralisch, politisch oder psychologisch rechtfertigen könnte.

Übrigens ist es höchst problematisch, überlebende Opfer psychologisch über einen Kamm zu scheren; Jean Améry etwa hat sich ausdrücklich dagegen verwahrt, "traumatisiert" zu sein. Deshalb ein Wort zur Traumatherapie. Jeder gute Therapeut wird jenem Bewältigungsstil Raum geben, der dem Patienten hilft; nur die schlechten halten sich an Glaubenssätzen fest - dass Erinnern grundsätzlich besser als Vergessen sei oder dass eine Form der Befreiung aus dem Leiden besser als eine andere sei.

Ich würde mich jedenfalls nicht, wie Brumlik und Inowlocki, dazu versteigen, Menschen das Recht abzusprechen, ihren eigenen Weg in der Rückgewinnung von Autonomie zu gehen.

Frankfurter Rundschau, 30.06.2003

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