Grenzen der Vergebung
Versöhnung ist ein politischer Prozess
von Natan Sznaider
In den letzten Jahren hat sich der Diskurs über vergangenes
Unrecht, über Schuld und Vergebung immer stärker globalisiert.
Ein neues historisches Bewusstsein ist im Entstehen, das sich aus den
Grenzen des Nationalstaats löst. Auch wenn damit die Unterscheidung
zwischen Täter- und Opferdiskursen immer unklarer wird, bleiben doch
weiterhin zentrale Fragen offen: Wer kann eigentlich vergeben? Und wer
um Vergebung bitten?
Jean Amery und Vladimir Jankelevitch sahen im "Ressentiment"
die einzige moralische Haltung, die den Opfern nach dem Holocaust möglich
ist. Das "Ressentiment", das im philosophischen Diskurs seit
Nietzsche als Vorurteil der Schwachen entlarvt werden sollte, wird bei
ihnen zu einer moralischen Größe. Sie wollen und können
nicht vergeben. Denn der neue globale Versöhnungsdiskurs bezieht
die eigentlichen Opfer der vergangenen Katastrophe nicht mit ein. Harald
Welzer hat ein Interview mit Eva Mozes Kor geführt (FR vom 13. Juni
2003), die darauf besteht, ihren Peinigern zu vergeben. Das Gespräch
wirft jedoch Fragen auf, die jenseits der individuellen Opfer liegen.
Normalerweise erwartet man von Opfern, dass sie auf ihr Recht auf Unversöhnlichkeit
beharren. Frau Mozes Kor will das nicht. Sie will das Unvergebbare vergeben.
Auch der französische Philosoph Jacques Derrida siedelt
die Vergebung in einem Bereich an, der jenseits der politischen Logik
liegt: "Nur das Unvergebbare kann vergeben werden", heißt
es bei ihm. Für ihn ist die Politik der Vergebung zum einen global,
zum anderen metaphysisch - eine nichtreligiöse Religion. Derrida
versucht die Grenzen zwischen dem Privaten und Politischen aufzuheben.
Vergebung kann in seiner Auffassung also nicht als Austauschsystem gedacht
werden. Der, dem vergeben wird, muss dadurch nicht "besser"
werden. Bei Derrida fehlen die konkreten Opfer. Und die Vergebung wird
zum mystischen Begriff und auch deshalb, weil sie das Private und Politische
aufzulösen versucht. Es löst den wesentlichen Unterschied zwischen
autobiografischer und historischer Erinnerung auf.
Können Juden den Holocaust überhaupt vergeben?
Es sind gerade die Überlebenden, die auf der Unvergebbarkeit des
Holocaust bestehen. Das ist das Überraschende an dem Gespräch
mit Eva Mozes Kor - sie ist ein Gegenbeispiel für die These, dass
die Überlebenden auf der Unvergebbarkeit bestehen. "Die Vergebung
starb im Lager", hat Jankelevitch geschrieben. Die Überlebenden
versuchen nicht, die Irrationalität des Bösen mit der Omnipotenz
der Liebe zu versöhnen. Die Opfer wollen ihr Recht auf Unversöhnlichkeit
bewahren. Es sind die überlebenden Opfer, die es als ihre Aufgabe
sehen, nicht zu vergeben. Niemand kann erwarten, dass Opfer ihren Peinigern
vergeben. Aber man kann ihnen auch nicht das Recht entziehen, dies tun
zu wollen. Aber welche Konsequenzen hat dieses Recht auf Vergebung jenseits
der davon Betroffenen, also jenseits der Autobiografie?
Micha Brumlik und Lena Inowlocki haben in ihrer Replik
zum Welzer-Interview (FR vom 23. Juni) die Grenzen der privaten Vergebung
für das Politische betont. Man muss Welzer nicht unbedingt in die
Nähe der Holocaustleugner rücken, um zu verstehen, dass dem
Vergeben im Kontext des Holocaust Grenzen gesetzt sind, und das nicht
nur, wenn man es auf andere politische Kontexte (wie zum Beispiel Südafrika)
übertragen will.
Hannah Arendt sieht Vergebung als rein politisches Konzept.
Erst Vergebung, argumentiert Hannah Arendt, befreit das politische Handeln
von den Folgen seiner Verstrickung und eröffnet neue Handlungshorizonte.
Ein Neubeginn ist möglich. Doch auch hier ist Vorsicht angebracht.
Vergeben kann nur das werden, was auch bestraft werden kann, so Arendt.
Das "radikal Böse" ist davon ausgeschlossen. Es geht eben
nicht so leicht, aus dem Vergeben des Holocaust gleich ein Programm für
post-totalitäre Gesellschaften zu schaffen, wie Welzer das in seinem
Interview anzudeuten versucht.
Es gibt keine gemeinsame, von irgendwelchen mythischen
Wunschvorstellungen getriebene und der Kontinuität dienende Schicksalsgemeinschaft
zwischen Opfern und Tätern, auch wenn das von ihnen oft gewollt wird.
Die Diskussion darüber begann auch gleich nach den Ereignissen des
Holocaust. Karl Jaspers und Hannah Arendt versuchten den Zusammenhang
zwischen politischer Verantwortung eines Kollektivs und persönlicher
Schuld herzustellen. Während Jaspers aber von "metaphysischer
Schuld" sprach, die in authentischer Buße abgebaut werden sollte,
betonte Arendt den politischen Aspekt der Verantwortung, der ohne "Authentizität"
auskommen kann. Diese Unterscheidung ist wichtig, da viele der Versöhnungsdebatten
von der Frage geleitet werden, ob die ehemaligen Täter es wirklich
"ernst" mit ihrer Reue meinen. Dabei ging es Arendt nicht um
"Schuldgefühle", sondern um politische Verantwortung. Sie
lehnte moralische Gefühle wie Mitleid, Schuld, Liebe und Güte
als politisches Prinzip ab. Ihr politischer Vergebungsbegriff ist nicht
sentimental. Für sie bedeutet das Vergeben ein Heilmittel gegen Unwiderruflichkeit.
Sie erkennt die christlichen Ursprünge der Vergebungslehre, aber
sieht sie dennoch allgemein gültig relevant für politisches
Handeln. Die Vergebung kommt als Gegenpol zur Rache, ist nicht vorhersehbar,
bedeutet einen neuen Anfang, einen Akt der politischen Schöpfung.
Aber nicht auf christlicher Liebe soll dieser politische Prozess beruhen,
sondern auf Respekt, der der Nähe und Intimität nicht bedarf.
Die Alternative zur Vergebung ist die Strafe, und Arendt betont, dass
diejenigen Vergehen, die unbestrafbar sind, auch nicht vergeben werden
können. Für sie war der Holocaust so ein Vergehen.
Sowohl Welzer als auch Brumlik und Inowlocki setzen sich
mit der Traumatherapie auseinander. Befreit sie von der Opferrolle oder
setzt sie diese noch fester ins Bewusstsein? Aber der Traumatheorie sind
politische Grenzen gesetzt. Und diese Grenzen liegen zwischen der autobiografischen
und historischen Erinnerung fest. Im politischen Raum müssen die
unüberbrückbaren Differenzen von Gruppen mit ausgesprochen verschiedenen
Erfahrungen historischen Unrechts in gemeinsame und riskante Verhandlungen
dieser Geschichte gebracht werden. Das muss nicht zwangsläufig zu
einem gemeinsamen Narrativ der ehemaligen Opfer und Täter führen.
Es muss nicht zu einem gemeinsamen "Wir" führen, sondern
zur Erkenntnis, dass Politik unversöhnliche Pluralität voraussetzen
und sogar verursachen kann.
Damit sind auch die Grenzen der Vergebung bestimmt. In
politischer Hinsicht kann eine Politik der Vergebung einen Raum öffnen,
der von Rechtssystemen, die nur Schuld und Unschuld kennen, geschlossen
wurde. Eine neue politische Sprache wird dadurch möglich. Aber diese
Sprache hat mit individuellem Trauma wenig zu tun. Vergebung oder Vergebungsverweigerung,
die beide auf der Unzulänglichkeit der Bestrafung beruhen, haben
nichts mit politischer Versöhnung zu tun. Denn diese ist ein politischer
und sozialer Prozess, der jenseits der privaten Gefühle liegt. Man
sollte das besser auseinander halten.
Frankfurter Rundschau, 30.06.2003
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