Weg von der Erbsenzählerei
von Ulrich W. Sahm
Im Sitzungssaal des Außenausschusses des Bundestags,
im modernen Paul Loebe Haus, waren Ende Juni 2003 etwa 150 Interessenten
gekommen, um Vorträge zum Thema "Antisemismus, deutsche Medien
und Nahostkonflikt" zu hören. Versteckte und sogar offene antijüdische
Äußerungen, sowie eine tendenziöse Berichterstattung über
den Nahostkonflikt hätten zu einem bedenklichen Anstieg antisemitischer
Gefühle in Europa und speziell auch in Deutschland geführt.
Die Diskussionsveranstaltung wurde vom Moses-Mendelssohn-Zentrum für
europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam,
vom Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und
Mecklenburg-Vorpommern, vom Kulturforum der Sozialdemokratie und von honestly-concerned
getragen. Wir veröffentlichen den Redebeitrag von Ulrich W. Sahm,
dem Nahostkorrespondenten von ntv.
Meine Damen und Herren,
Bei Medienuntersuchungen werden nur die Endprodukte geprüft, Zeitungen,
Zeitschriften, Nachrichtensendungen von ARD oder ZDF. Da werden Erbsen
gezählt. Wenn Arafat exakt so viele Sekunden über den Bildschirm
flimmert wie Scharon, bestätigen sich die Fernsehmacher eine TV-Gemäße
Ausgewogenheit. Manchen Forschern scheint der rechte Maßstab zu
fehlen, weil sie keine Ahnung von den subtileren Formen des Antisemitismus
haben. Es ist legitim, Israel zu kritisieren und Scharon nicht zu mögen.
Das ist kein Antisemitismus. Aber wie Herr Faber es schon andeutete, die
verwendeten Klischees, historisch belastete Worte, Bilder aus dem klassischen
Antisemitismus bis hin zu antijüdischen Vorurteilen aus dem Repertoire
der christlichen Kirchen verwandeln legitime politische Kritik in eine
gefährliche antisemitische Polemik.
Ohne den Apparat eines Forschungsinstituts mit volontierenden Erbsenzählern,
veranstaltete ich meine eigenen Studien.
Dem Publikum entgeht, wer in Wirklichkeit unseren Nachrichtenalltag bestimmt.
Das sind nicht die Tagesschau, der Spiegel oder die FAZ. Es sind Weltmächte,
die im Hintergrund arbeiten und alle Redaktionen beeinflussen. Das klingt
wie eine Verschwörungstheorie. Ich meine Reuters, ap, dpa oder afp.
Für den Glauben an ihren Wahrheitsgehalt gibt es sogar einen Fachbegriff:
Agenturgläubigkeit.
Ein Problem sind politische Wertungen. So fügen die Agenturen den
Namen gewisser Politiker Adjektive bei, die allein der Weltanschauung
der Reporter entsprechen. Monatelang las ich vom Hardliner Arafat, vom
gemäßigten Scharon und vom Extremisten Mahmoud Abbas... Wie
wäre es, wenn wir bei der Rentendiskussion über den Hardliner
Schröder und den gemäßigten Stoiber redeten. Lächerlich.
Abstrus ist baffes Erstaunen der Agenturreporter: "Der als Hardliner
bekannte Ariel Scharon erklärte sich zur Räumung von Siedlungen
bereit." Es fragt sich, wer eigentlich Scharon zum Hardliner gemacht
hat. Bei nüchterner und unvoreingenommener Betrachtung ist seine
Politik eher pragmatisch und je nach Situation mal hart, mal nachgiebig
und in jedem Fall konsistent und wechselhaft zugleich. Ich persönlich
würde mir jedenfalls kein simples pauschalisierendes Urteil über
keinen einzigen der nahöstlichen Politiker erlauben, zumal sie alle
in einer unberechenbaren Wirklichkeit auch immer wieder unberechenbar
reagieren.
Als tunlichst neutraler Beobachter, erwarte ich auch von den Nachrichtenagenturen
eine wertfreie Berichterstattung, ohne Adjektive und ohne politische Hochstapelei,
als wüssten die Agenturreporter besser als die Politiker, wo es lang
geht.
Ein anderes Phänomen ist reine Propaganda für die Redakteure.
Seit dem ersten Tag der Intifada fügen Reuters und ap jeder Meldung
aus Nahost eine Statistik an.
Neutral formuliert lautet sie: Seit dem 28. September 2000 sind x Palästinenser
und y Israelis getötet worden.
Von rund 5000 solcher Ministatistiken habe ich für meine Analyse
einige hundert herauskopiert.
Das Wort "Intifada" kommt übrigens nicht vor, weil erklärungsbedürftiges
Fremdwort. Ich hatte den 28. September 2000 als ersten Tag der Intifada
erwähnt. Damit es nicht langweilig wird, haben sich die Agenturjournalisten
unzählige andere Formulierungen für die Stunde Null ausgedacht:
Seit der Provokation Scharons auf dem Tempelberg, seit Ausbruch des spontanen
Volksaufstandes, der Revolte, des Krieges, seit Beginn dieser Runde der
Kämpfe, der Gewalt, des Blutvergießens, seit Ausbruch des palästinensischen
Kampfes für einen eigenen Staat, Befreiungskampfes, Kampfes zur Beendung
der Besatzung, seit dem Scheitern der Friedensverhandlungen.
Viele dieser Stilblüten sind reine Schuldzuweisungen, zynisch verknüpft
mit vielen palästinensischen Toten und relativ wenigen israelischen
Opfern. Längst ist belegt, dass die Intifada kein spontaner Volksaufstand
als Reaktion auf Scharons Provokation ist, sondern ein Monate im Voraus
geplanter bewaffneter Angriff auf Israel.
Der wahre Auslöser der Intifada war der israelische Rückzug
aus Südlibanon. Gemäß der palästinensischen Wahrnehmung
habe die Hisbollah die Israelis vertrieben. Laut palästinensischen
Quellen sollte die Intifada mit Gewalt die Siedler vertreiben.
Das bemerkenswerteste palästinensische Dokument über den Ausbruch
der Intifada ist ein Interview des wegen Mordes angeklagten Volkstribuns
Marwan Barghouti. Am ersten Jahrestag der Intifada protzte er, Scharon
ins offene Messer laufen gelassen zu haben. Barghouti behauptet, die Provokation
Scharons als letzte Chance genutzt zu haben, um die Intifada ausbrechen
zu lassen und Israel zu beschuldigen.
Es ist schwer mit neutralen Worten ohne Schuldzuweisung den Beginn der
Intifada darzustellen. Sogar das Datum ist problematisch. Begann sie etwa
mit dem ruhigen Besuch Scharons auf dem Tempelberg? Einige Tage zuvor,
mit dem vorsätzlichen Mord an israelischen Soldaten oder aber am
blutigen Freitag, einen Tag nach der Provokation Scharons? Die Frage wäre
irrelevant, wenn das nicht bis Heute entscheidende Folgen für die
Wahrnehmung und Beurteilung der Intifada hätte. Dabei widersprechen
sich jene, die einerseits Scharon zum Schuldigen machen und andererseits
den Palästinensern ein legitimes Recht auf gewalttätigen Widerstand
zubilligen.
Nächster Punkt sind die Totenzahlen und die Identität der Opfer.
Jeder israelische oder palästinensische Tote wird mit Altersangabe
beim Namen genannt. In anderen Weltregionen bin ich nicht bewandert. Aber
ich vermute mal, dass Reuters und ap mit eben solchem Fleiß die
Namen und Altersangaben der drei Millionen Todesopfer im Kongo, der 2
Millionen Toten im Südsudan, der 250.000 europäischen Toten
im ehemaligen Jugoslawien gesammelt und veröffentlicht haben. Ganz
gewiss wurden auch die Namen der Hunderttausenden Toten des Irakkriegs
publiziert. Ich habe sie trotz intensiver Suche nicht gefunden. Nicht
einmal die Namen der Erfurter Schüler nach dem Amoklauf wurden von
den internationalen Agenturen mit derart akribischer Genauigkeit nach
Neuseeland, Japan, Argentinien und Südafrika vermeldet. Mir ist klar,
dass 3000 Tote nach drei Jahren Krieg in Nahost ungleich schwerer wiegen
als die amorphe Masse der 3000 Toten des 11. September. Zweifellos erzeugt
jeder tote Palästinenser, dessen Leiche sogar aus dem Kühlschrank
hervorgeholt wird, um für alle Welt sichtbar gefilmt zu werden, mehr
Mitgefühl und Empathie als die Toten von New York, Tel Aviv oder
Jerusalem. Niemand hat sie jemals gesehen, weil sie aus Pietätsgründen
nicht gefilmt werden. Amerikaner wie Israelis halten eine derartige Leichenschau
für geschmacklos und ekelerregend.
Bei der nationalen Identität der Toten gerieten die Agenturen ins
Schleudern, sowie deren Schubladendenken ins Wanken geriet. Wer mehr Tote
hat, ist Opfer. Wer weniger Tote hat, ist Täter oder Übeltäter.
Monate lang lautete die Statistik X Palästinenser, Y Israelis und
13 Andere. Irgendwann verschwanden diese Ufos wieder. "Andere",
das waren 13 israelische Araber, bei Unruhen im Kernland Israels umgekommen.
Jüdische Israelis, bei der gleichen Gelegenheit umgebracht, wurden
nicht mitgezählt.
Bald gab es neue Komplikationen. Harry Fischer, deutscher Chiropraktiker,
wurde von einer israelischen Rakete getroffen. Der wurde als Ausländer
angeführt. Ebenso ein erschossener griechischer Mönch. Stillschweigend
und posthum wurden sie später zu Palästinensern gemacht. Auch
auf der israelischen Seite bürgern die Agenturen posthum die Ausländer
ein. Ich denke da an Amerikaner, Franzosen, Philipinos und Chinesen, die
bei Selbstmordattacken in Jerusalem oder Tel Aviv getötet wurden
und in den Statistiken zu getöteten Israelis gemacht werden.
2331 Palästinenser sind tot. Aber wurden sie tatsächlich "von
den Israelis getötet", wie manche Ministatistiken behaupten?
Das Institut für Konter-Terrorismus in Herzlija zählte am 19.
Juni zudem 787 tote Israelis. Inzwischen stieg die Zahl auf über
800. Andere Quellen andere Zahlen. Meines Wissens wendet allein das Institut
in Herzlija wissenschaftliche Methodik an. Dieses makabre Thema hat eine
entscheidende Bedeutung für die Wahrnehmung des Konflikts durch die
deutschen Medien, denn Tote machen die größten Schlagzeilen.
Weit über die Hälfte der palästinensischen Toten waren
Kombattanten oder "mutmaßliche Kombattanten". Bei den
Israelis sind es nur 20 Prozent.
107 palästinensische Frauen wurden getötet, darunter 27 Kombattanten,
also Selbstmordattentäterinnen und ähnliches. Das sind weniger
als 4 Prozent aller palästinensischen Opfer. Auf der israelischen
Seiten dagegen wurden bis heute 242 weibliche Todesopfer gezählt.
In absoluten Zahlen sind das dreimal mehr als die toten Palästinenserinnen.
Auch wenn ich hier den abgedroschenen Spruch, "Jeder Tote ist zuviel"
anbringe, stimmt da etwas nicht. Der Eindruck in Deutschland, als würden
die Israelis blindlings gegen palästinensische Zivilisten vorgehen,
klingt unglaubwürdig angesichts der extrem niedrigen Zahl toter Palästinenserinnen.
Den Palästinensern ist viel gelegen, die Zahl ihrer Toten in die
Höhe zu treiben, um sich propagandistisch überzeugend als Opfer
darzustellen. Die Agenturen spielen da täglich mit. ap hat berichtet,
dass auch die rund 200 palästinensischen Selbstmordattentäter
als Opfer der Israelis mitgezählt würden. 200, das sind allein
fast 10 Prozent der palästinensischen Toten. Die klassischen Selbstmordattentäter
seien nicht von todesgewissen Kämpfern zu unterscheiden, die Siedlungen
Städte oder Stellungen angreifen, wissen, dass sie nicht überleben
werden und tatsächlich von Israelis erschossen werden. So sagte es
mir ein Mitarbeiter von ap.
Als palästinensische Opfer der Israelis werden auch Bombenbauer mitgezählt,
die bei sogenannten Arbeitsunfällen, bei der Vorbereitung von Bomben
in die Luft fliegen. Sogar die Palästinenser ermordeten Kollaborateure
erscheinen in der Gesamtstatistik, als seien sie von Israelis umgebracht
worden.
Es geht mir nicht darum, palästinensischen Terror, israelische Liquidierungen,
den legitimen Widerstand der Palästinenser oder das israelische Selbstverteidigungsrecht
zu rechtfertigen. Mich interessiert auch nicht, wer der Oberschurke bei
dem hundert Jahre alten Konflikt ist, oder ob Siedlungen größere
Verbrechen sind als Selbstmordattentate. Was mich aber immens stört,
ist eine subtile Propaganda, wie sie von den Nachrichtenagenturen betrieben
wird mit scheinbar neutralen Zahlen.
Die Agenturen verwenden auch andere subtile Methoden der Meinungsmache.
So weiß ich aus erster Hand von dem Redaktionsbeschluss einer großen
deutschen Nachrichtenagentur, jede israelische Militäraktion als
"Vergeltungsschlag" zu bezeichnen. Selbst wenn der israelische
Militärsprecher von einem Präventivangriff spricht, berichtet
jene Agentur von Vergeltung. Andere Agenturen enthalten in ihren englischen
Originalberichten nichts dergleichen. Doch in der deutschen Ausgabe etwa
von Reuters rutscht der Begriff "Vergeltung" als Zwischentitel
rein.
Vor allem in Deutschland verbindet sich jüdische Vergeltung mit Rache.
Dann sind wir ganz schnell bei Luthers Erfindung des jüdischen Rachegottes
im Gegensatz zum christlichen Gott der Liebe angelangt. Sogar Hitler berief
sich gegenüber evangelischen Bischöfen auf Luther, um Bücherverbrennungen
und Judenverfolgungen zu rechtfertigen. Dass sich die israelische Regierung
von einem archaischen Rachegott anleiten lässt, wissen wir doch alle.
Das wird klar, wenn die vermeintliche israelische Vergeltung als Balkenüberschrift
mit dem von Luther falsch übersetzten Bibelvers rausposaunt wird:
Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wer es bis heute nicht kapiert hat, hier ein
kurzer Hinweis: Unser deutsches Strafgesetzbuch hält sich an das
biblische Prinzip Auge um Auge, denn es bedeutet nicht Rache, sondern
Geldstrafe für den Täter und Schadensersatz für das Opfer.
Luthers Interpretation ist Antisemitismus der übelsten Sorte. Wenn
also dpa über israelische "Vergeltung" berichtet, dann
betreibt ahnungslos die gesamte deutsche Presse von der Tagesschau bis
zur letzten Dorfzeitung eine subtile antisemitische Hetze in der besten
Tradition des Stürmers. In extrem seltenen Fällen reden die
Israelis von einer "Peulat Tagmul", also Vergeltung. Selbst
die Zerstörung von Terroristenhäusern bezeichnen die Israelis
"Abschreckung" und nicht biblische Rache.
Auch palästinensische Terroranschläge sind nur selten Racheakte.
Im Nahen Osten herrscht Krieg. Da geht es Schlag auf Schlag. So zu tun,
als sei die Attacke von heute die Reaktion auf den Angriff von gestern,
ist lächerlich bei dem Gedanken, dass die Palästinenser 200
Selbstmordattentate seit 1994 ausgeführt haben und die Israelis 200
Palästinenser gezielt oder ungezielt getötet haben. Weder Terroranschläge
noch Liquidierungen lassen sich innerhalb weniger Stunden planen, vorbereiten
und ausführen.
Ich setze nicht den israelischen Staatsterror mit dem legitimen palästinensischen
Widerstand gleich, oder den palästinensischen Terror mit der legitimen
israelischen Selbstverteidigung. Mögen Sie für sich selber die
passende Formulierung auswählen. Es handelt sich um Wortspiele in
einer ekelhaften Wirklichkeit. Für mich hört freilich der Spaß
auf, wenn die deutsche Öffentlichkeit mit scheinbar harmlosen Worten
und fragwürdigen Ministatistiken gezielt zu Judenhass, falschem Mitleid
und Parteinahme gedrängt wird.
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