Im Leiden vereint?
Palästinenser und Juden besuchen gemeinsam das ehemalige KZ Auschwitz
von Gabriele Lesser
Über 500 Palästinenser und Juden aus Israel
und Frankreich standen Ende Mai 2003 gemeinsam vor dem Tor des ehemaligen
deutschen Konzentrationslagers Auschwitz in Südwestpolen bei Krakau.
"Arbeit macht frei" entzifferten sie die deutsche Aufschrift.
Rechts und links sahen sie die Baracken aus rotem Backstein,
den Stacheldrahtzaun und den Galgen des Lagers. In Birkenau, dem eigentlichen
Vernichtungslager, stolperten sie schweigend über die Gleise zu den
Trümmern der ehemaligen Gaskammern. Dort verlasen sie halblaut die
Namen der hier ermordeten Juden, allesamt Familienangehörigen der
jüdischen Mitreisenden in der Gruppe. Es ist die größte
arabische Gruppe, die je die Gedenkstätte Auschwitz besucht hat.
Der Initiator der Reise Emil Shoufani ist griechisch-katholischer
Priester in Galiläa und Direktor der Mittelschule Al-Mutran (St.
Josef) in Nazareth: "Die Existenz der jüdischen Nation in diesem
Land, im Nahen Osten und überall auf der Welt ist immer noch tief
durch die Erinnerung an die Shoah bestimmt. Juden haben noch immer Angst
vor Verfolgung, und die Intifada hat diese Angst nur weiter angefacht.
Ich hatte das Gefühl, dass wir von diesem Blickwinkel aus an den
Dialog herangehen müssen. Diese Reise ist kein Vorschlag für
einen gesellschaftlichen Vertrag, für eine Friedensvereinbarung oder
für eine Methode zur Konfliktlösung. Wir wollen die Reaktion
der Juden verstehen: sie fühlen sich bedroht und so reagieren sie."
Shoufani, der auch Leiter des in Frankreich und Israel
wirkenden Vereins "Erinnerung für den Frieden" ist, bezeichnet
sich selbst als Palästinenser, Katholiken und israelischen Staatsbürger.
Vor zwei Jahren wurde er mit dem Orden der Stiftung "Berg Sion"
geehrt. Diese Auszeichnung erhalten seit nunmehr 20 Jahren Menschen, die
sich aktiv gegen Vorurteile in christlich-jüdischen Beziehungen einsetzen
oder zum Dialog zwischen den drei großen Weltreligionen - Judentum,
Christentum und Islam - beitragen.
In Krakau, wo die Gruppe das frühere jüdische
Stadtviertel Kazimierz sowie die Synagoge Tempel besuchte, erklärte
Vater Shoufani das Ziel der Reise: "Vom Leiden unseres Volkes heute
vereinen wir uns hier mit dem Leiden der Juden in der Vergangenheit."
Die arabische Gruppe aus Muslimen, Christen und Ungläubigen
hat vor der Reise nach Auschwitz mehrere Seminare in der Gedenkstätte
Yad Vashem in Jerusalem sowie im Museum der Ghettokämpfer in Nordisrael
besucht, außerdem zwei Wochen mit jüdischen Gesprächspartnern
über den Holocaust diskutiert.
Seit Oktober 2000, als die israelische Polizei 13 arabische
Demonstranten erschossen hat, ging Vater Shoufani die Idee nicht mehr
aus dem Kopf, dass der Holocaust den Schlüssel zum Verständnis
der jüdischen Mitbürger darstelle.
"Wir müssen uns selbst aus diesem Kapitel der
Geschichte ziehen, in dem das Prinzip Wie du mir, so ich dir' nur
noch Mord gegen Mord' nach sich zieht", so Shoufani. "Wir
haben keine politischen Ambitionen. Alles, was wir wollen, ist unsere
Beziehung zum jüdischen Volk wiederherzustellen".
Während für viele Juden die Reise der arabisch-jüdisch-französischen
Gruppe nach Auschwitz von großer Bedeutung ist, weil sie den Willen
der Palästinenser zum Verständnis der Shoa im Zweiten Weltkrieg
ausdrückt, hat sie in der arabischen Welt eher gemischte Reaktionen
ausgelöst.
So schlug beispielsweise Attallah Hanna, der ehemalige
Sachverständige der Orthodoxen Kirche in Jerusalem, vor, dass in
derselben Zeit, in der Shoufani und seine Gruppe die Gedenkstätte
Museum Auschwitz-Birkenau besucht, eine zweite Gruppe von Palästinensern
die Flüchtlingslager in Sabra und Shatilla im Libanon besuchen sollte.
Laut Attallah Hanna werde der Welt so signalisiert, "dass
das, was mit der palästinensischen Nation passiert, die wahre Tragödie"
sei. "Wer das Leid der Juden kennen lernen will, sollte besser zuerst
dem Schmerz der eigenen Nation und seinem Leid im Schatten der Besatzung
zuhören", kritisierte Hanna Shoufanis Initiative.
Quelle: "die jüdische", 29.05.2003 (www.juedische.at)
|