Krisenerprobt und doch störanfällig.
Das christlich-katholisch-jüdische Verhältnis
von Hans Hermann Henrix
Zum aktuellen Kontext des Verhältnisses
Das christlich-jüdische Verhältnis hat in diesen Monaten zwei
Kontexte, die von besonderem Gewicht sind und auf die Beziehung zwischen
Kirche und jüdischem Volk einwirken.
Es ist zum einen der mit kriegerischen Mitteln ausgetragene
Israel-Palästina-Konflikt, der hierzulande bis in kirchliche Milieus
hinein kontrovers diskutiert wird. Die Kennzeichnung dieses Konflikts
als Unterdrückung des armen gedemütigten palästinensischen
Volkes durch den reichen Aggressor Israel ist nicht frei von der Gefahr,
judenfeindliche Einstellungen in der Form der Israelkritik zu verlängern.
Umgekehrt kann nicht jede Kritik der Politik Israels unter Antisemitismusverdacht
gestellt werden. Aber Aufmerksamkeit und Wachheit sind vonnöten.
Wenn zu Recht vom "militanten Weltbild Sharons" die Rede ist,
ohne das ganz analoge Weltbild Arafats in den Blick zu nehmen, oder die
Täuschung der Weltöffentlichkeit "mit dem nahöstlichen
Friedensprozess'" allein dem israelischen Konto zugeschlagen
wird, ohne die doppelte Sprache der palästinensischen Autonomiebehörde
nach innen (bis in die Gestaltung der Schulbücher mit ihren Hasstiraden
und Leugnungen der Realität des Staates Israel hinein) und gegenüber
der außerarabischen Öffentlichkeit zu geißeln, und wenn
mit innerisraelischen Proteststimmen auf die "kriminelle Gewalt gegen
Zivilisten" in der israelischen Politik hingewiesen wird, ohne mit
einem Wort auf die z.T. kriminelle Brutalisierung in der palästinensischen
Gesellschaft einzugehen, dann fragt man sich, ob hier nicht doch ein fremdes
Element, das nach ideologiekritischer Selbstprüfung ruft, die politische
Analyse und Einschätzung lenkt. Im israelisch-palästinensischen
Konflikt steht Recht gegen Recht, Unrecht gegen Unrecht, Gewalt gegen
Gewalt, Verzweiflung gegen Verzweiflung. Die Gefahr der Fortsetzung judenfeindlicher
Einstellung in der Form der Kritik am Staat Israel wach im Blick zu behalten,
den für Frieden engagierten Menschen auf beiden Seiten verbunden
zu sein und für die Leiden beider Völker empfänglich zu
sein, ist eine Anforderung an politische Analyse und persönliche
"Compassion", die sich nicht aus blasser Äquidistanz, sondern
aus dem Gebot der Gerechtigkeit ergibt. Dabei ist der Israel-Palästina-Konflikt
eine unter vielen aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen in unterschiedlichen
Weltgegenden. In die Konflikte zwischen Menschen, Gemeinschaften und Völkern
sind Religionen zu oft verwickelt, als dass die Frage ausbleiben kann:
Was tun die Religionsgemeinschaften, um der Aggressivität und Tödlichkeit
dieser Konflikte Einhalt zu gebieten? Dass dieser Problem- und Fragedruck
unter Juden, Christen und Muslimen empfunden wird, belegen wichtige Initiativen.
Von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde das Treffen von Vertretern
der drei monotheistischen Religionen vom 21./22. Januar 2002 im ägyptischen
Alexandria. Die Religionsvertreter aus der Nahostregion forderten in einer
nachfolgenden öffentlichen "Ersten Erklärung von Alexandria"
ein Ende der Gewalt und des Blutvergießens und richteten sich gegen
eine Indienstnahme der Religion für das Töten: "Nach den
Traditionen unseres Glaubens bedeutet das Töten Unschuldiger im Namen
Gottes eine Entweihung Seines Heiligen Namens und eine Diffamierung der
Religion in dieser Welt."
Den anderen bedeutenden Kontext hat das aktuelle christlich-jüdische
Verhältnis in der Spätphase des Pontifikats von Papst Johannes
Paul II. Trotz aller körperlichen Beeinträchtigung trägt
Johannes Paul II. die ihm wichtigen Anliegen durch. Dazu gehört sehr
zentral die Gestaltung des Verhältnisses der Kirche zu den Religionen
und insbesondere des von ihm mit eigenem Nachdruck bedachten Verhältnisses
zum Judentum. So hat er nach dem Assisi-Treffen vom 27. Oktober 1986 einmal
mehr die Initiative zu einem Welttag des Gebets und Fastens für den
Frieden ergriffen. Unter den Augen der Weltöffentlichkeit verpflichteten
sich die Vertreter der Religionsgemeinschaften am 24. Januar 2002 in Assisi
in zehn Punkten, "auf der großen Baustelle des Friedens zu
arbeiten". Neben der Bereitschaft zur Selbstkorrektur und "einander
die Irrtümer und Vorurteile in Vergangenheit und Gegenwart zu verzeihen",
kamen sie auch in der Auffassung überein: Friede und Gerechtigkeit
sind nicht voneinander zu trennen - eine Überzeugung, die im gegenwärtigen
Papst einen der engagiertesten Verfechter hat.
Krisenerprobt und bleibend störanfällig
Das christlich-jüdische Verhältnis bleibt seit der großen
Türöffnung durch das Zweite Vatikanische Konzil von Krisen und
Kontroversen umstellt. Manchmal scheinen alle Fortschritte wie widerrufen,
und doch reißt das Gespräch nicht einfach ab. Es ist krisenerprobt
und bleibt zugleich störanfällig. Aber solche Störungen
sind Bewährungsproben eigener Art. Diese Erfahrung stellt sich auch
im Sommer 2002 ein. Vielfältige Dimensionen und Facetten prägen
das gelebte Verhältnis, unterschiedliche Themen und Agenten drängen
sich dem Gespräch auf. Neben der offiziellen Ebene sind informelle
Vorgänge wichtig. Binnenreflexionen laufen parallel zum Gespräch
im faktischen Gegenüber. Theologische bzw. religionsphilosophische
Denkanstrengungen der stillen Kammer werden oft durch politische Spannungen
der Öffentlichkeit verstellt. Ein Lagebericht zum aktuellen katholisch-jüdischen
Verhältnis hat unterschiedlichste Genera zu berücksichtigen.
Der nachfolgende Versuch dazu kommt aus der Teilhabe am christlich-jüdischen
Dialog und hat von dorther seine Perspektivik.
Die offizielle Beziehung zwischen der katholischen Kirche
und dem jüdischen Volk hat auf der völkerrechtlichen und politischen
Ebene mit dem Grundlagenvertrag zwischen dem Apostolischen Stuhl und dem
Staat Israel vom 30. Dezember 1993 (Text in: H.H. Henrix/W. Kraus, Hg.,
Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1986 bis 2000, Paderborn/Gütersloh
2001, 80-85) eine appellable Instanz. Dass ein vergleichbarer Vertrag
mit der PLO am 15. Februar 2000 im Vatikan unterzeichnet wurde (Text:
L'Osservatore Romano. Wochenausgabe in deutscher Sprache [L'OR, dt.],
Nr. 9 vom 3. März 2000, S. 4), hat israelischen Protest nach sich
gezogen, der jedoch das Verhältnis nicht nachhaltig belastete. Eine
erhebliche Belastung des vatikanisch-israelischen Verhältnisses drohte
mit dem Vorhaben des Baus einer Moschee in der unmittelbaren Nachbarschaft
der Verkündigungsbasilika zu Nazareth; Israel hatte zunächst
mit zwei staatlichen Baugenehmigungen 1998 und 1999 das Projekt gebilligt,
ehe es mit einem Kabinettsbeschluss vom 3. März 2002 der mehrfachen
Intervention des Vatikans Rechnung trug, der die endgültige Einstellung
der Arbeiten anordnete und mehrere alternative Bauplätze anbot (www.fides.org/German/2002/
g20020308c.html).
Diese Entlastung wurde überlagert durch die Eskalation
des israelisch-palästinensischen Konflikts, der mit dem Einmarsch
israelischer Truppen in die Westbank vom 29. März 2002 als Antwort
auf eine Reihe entsetzlicher palästinensischer Selbstmordattentate
mit vielen unschuldigen Opfern eine kriegerische Dimension angenommen
hat. Auf diese Verschärfung hat Papst Johannes Paul II. vielfach
Bezug genommen und beklagt, dass "dem Frieden der Krieg erklärt"
worden sei; er hat die Weltgemeinschaft eindringlich gemahnt, für
den Frieden in der Region tätig zu werden, und die Kirchen der Region
ermutigt, sich für den Frieden einzusetzen. "Angesichts der
tiefen Tragik der Ereignisse darf niemand schweigen und untätig bleiben;
keiner, der in Politik und Religion Verantwortung trägt! Den Klagen
müssen konkrete Akte der Solidarität folgen, die allen helfen
sollen, zur gegenseitigen Achtung und ehrlichen Verhandlungen zurückzufinden"
(Botschaft vor dem Segen "Urbi et Orbi" am 31. März 2002:
L'OR, dt., Nr. 15 vom 12. April 2002, S. 8).
In den Wochen des aktuellen Konflikts verknüpfte
der Papst bei seinen Interventionen und Reaktionen die Klarheit der Position
mit der Aufrechterhaltung der Beziehungen nach beiden Seiten. Eine zuverlässige
Auskunft über die Grundposition des Vatikans in diesem Konflikt kann
man z. B. der päpstlichen Neujahrsansprache an das Diplomatische
Korps beim Heiligen Stuhl vom 10. Januar 2002 entnehmen, wo er u.a. sagte:
"In der Heiligen Nacht haben wir uns im Geiste nach Betlehem begeben
und mußten bestürzt feststellen, daß das Heilige Land,
in dem der Erlöser geboren wurde, durch menschliches Verschulden
noch immer ein Land von Feuer und Blut ist. Niemand kann angesichts der
Ungerechtigkeit, der das palästinensische Volk seit über fünfzig
Jahren ausgesetzt ist, teilnahmslos bleiben. Niemand kann dem israelischen
Volk das Recht auf ein Leben in Sicherheit streitig machen. Aber es darf
auch niemand die unschuldigen Menschen vergessen, die auf beiden Seiten
jeden Tag den Schüssen und Anschlägen zum Opfer fallen. Waffen
und blutige Attentate werden niemals geeignete Mittel sein, um den Gesprächspartnern
politische Botschaften zukommen zu lassen. Die Logik der Vergeltung ist
ebenfalls nicht geeignet, um den Weg zum Frieden zu ebnen. Wie ich schon
mehrmals erklärt habe, können nur die Achtung vor dem anderen
und seinen berechtigten Ansprüchen, die Anwendung internationalen
Rechts, die Räumung der besetzten Gebiete und ein international garantiertes
Sonderstatut für die heiligsten Gebiete Jerusalems einen Prozeß
der Befriedung in dieser Region der Welt herbeiführen und den Teufelskreis
von Haß und Rache durchbrechen. Mein Wunsch ist, daß die internationale
Gemeinschaft mit geeigneten friedlichen Mitteln in die Lage versetzt wird,
ihre von allen Konfliktparteien anerkannte unersetzliche Rolle zu spielen.
Weder Israelis noch Palästinenser werden den Krieg gegeneinander
gewinnen. Sie können aber gemeinsam den Frieden gewinnen" (L'OR,
dt., Nr. 4 vom 25. Januar 2002, S.7).
Der päpstlichen Forderung nach einer klaren und gerechten
Lösung der Jerusalemfrage stand lange eine kategorische Ablehnung
Israels gegenüber, das an der Unteilbarkeit Jerusalems festhielt.
Innerisraelisch wurde das Tabu jedoch gebrochen, als der frühere
Justizminister und israelische Hauptunterhändler für den Grundlagenvertrag
zwischen Israel und dem Vatikan, Yossi Beilin, im Umfeld der Gespräche
von Camp David im Jahr 2000 die israelische Position des unteilbaren Jerusalems
in Frage stellte. Auch mit der Forderung nach einem Staat Palästina
hat Johannes Paul II. die Beziehung mit Israel nicht zur Disposition gestellt.
Und die Besetzung der Geburtskirche zu Betlehem durch Palästinenser
hat den vatikanischen Protest aufgrund des Grundlagenvertrags mit der
PLO provoziert, der den Status quo der heiligen Stätten sichert.
Der Grundlagenvertrag zwischen Israel und dem Vatikan sichert diesen Status
quo ebenso zu, weshalb der Vatikan auch gegen die Umstellung der Geburtskirche
durch israelische Truppen Einspruch eingelegt hat. Die vatikanische klare
Bejahung des Rechts Israels auf ein Leben in Sicherheit und die Unterstützung
elementarer Forderungen der Palästinenser halten die Kontakte zu
beiden Seiten offen, die an der Auflösung der Ausnahmesituation um
die Geburtskirche in Betlehem nach fünf Wochen am 10. Mai mitgewirkt
haben und in der Phase der Abkühlung des "heißen"
Konflikts noch ihre weitere Wirkung entfalten sollten.
Folgewirkung des päpstlichen Israelbesuchs im heiligen
Jahr
Es kann kein Zweifel sein, dass die eine oder andere päpstliche Äußerung
der Unterstützung palästinensischer Belange, die den christlichen
Palästinensern Mut in der Bedrängnis bedeutet, in Israel nicht
populär ist. Dass die Achtung dem Papst gegenüber auf jüdischer
Seite aber nicht aufgekündigt wird, dürfte eine Folgewirkung
seines historischen Besuchs vom 21. bis 26. März 2000 in Israel und
Jerusalem sein, den ein damaliger israelischer Kommentator einen "Sechs-Tage-Friede"
nannte. Mit diesem Besuch wurde eine hartnäckige Ambivalenz in der
jüdischen Reaktion auf Papst Johannes Paul II. konstruktiv überwunden.
Jüdischerseits negierte man die Bemühungen dieses Papstes für
die Heilung des Verhältnisses der Kirche zum jüdischen Volk
und Judentum nicht. Aber diese hatten noch nicht die jüdischen Herzen
erreicht. Selbst die Liturgie mit der Vergebungsbitte vom ersten Fastensonntag
2000 in St. Peter traf die jüdische Aspiration, die auf eine zweifelsfreie
Geste der Schuldanerkenntnis hoffte, noch nicht. Dazu waren die Liturgie
und ihr Ort dem jüdischen Volk wohl zu fern. Johannes Paul II. musste
bei ihm selbst "ankommen", um die bestehende Hürde zu überwinden.
Dies geschah in den Tagen seines Besuchs im Heiligen Land vom März
2000. Er war ein großes Symbol mit hoher Eigenaussage für das
jüdische Volk. Sein "Symbol" - er selbst mit gebeugter
Gestalt in Weiß in der Holocaustgedenkstätte Jad WaSchem Grundsätzliches
zur Erinnerung sagend sowie in der Begegnung mit Überlebenden zum
Ausdruck bringend und an der Westmauer die Vergebungsbitte hinterlassend
- erreichte in den Tagen seines Israelbesuchs die jüdischen Menschen
in Israel und der Diaspora. Diese verstanden, daß das Symbol und
die Geste weiter und offener sein können als satzhafte Theologie
und Kirchenlehre. Sie waren angerührt - eine emotionale Bewegtheit,
deren Erinnerung bei einem ersten europäischen katholisch-jüdischen
Treffen am 28./29. Januar 2002 in Paris mit etwa 1.000 Gästen (unter
ihnen zahlreiche hochrangige jüdische und katholische Vertreter/innen)
kräftig auflebte (vgl. das Dossier in: La documentation catholique,
No. 2266 vom 17. März 2002, S. 259-265) und selbst in den Wochen
des kriegerischen Konflikts 2002 nicht völlig erloschen scheint.
Freilich ist nicht zu verkennen, dass zwischenzeitlich Kommentare in "L'Osservatore
Romano", die Israels Politik heftig angriffen und dabei die Rede
von Erniedrigung und Vernichtung des palästinensischen Volkes nicht
scheuten, großen Unmut im Umfeld der jüdischen Gemeinde Roms
auslösten. Auch angesichts dieser Verstimmung bewertete Israels Botschafter
beim Hl. Stuhl, Yosef Lamdan, das beiderseitige Verhältnis als "gut
und eng" (vgl. Herder Korrespondenz 56, 2002, 221f.); dies Urteil
stammt von einem Diplomaten, den die professionelle Interessenwahrnehmung
für sein Land nicht unsensibel für kirchliche Belange hat werden
lassen.
Bereits bald nach der päpstlichen Israelreise vom
März 2000 war einiges geschehen, das Klärungsbedarf nach sich
zog - nicht nur auf der dramatisch veränderten politischen Bühne,
sondern auch im religiös-kirchlichen Spektrum. Dort hatte sich manches
getan, was den jüdischen Schmerz aufgrund des "Tumors im Gedächtnis"
(Emmanuel Levinas) im jüdisch-katholischen Verhältnis wieder
aufbrechen ließ.
Die Kontroverse um "Dominus Iesus" - jüdisch-christlich
Da war es zunächst am 3. September 2000 zur Seligsprechung Pius IX.
gekommen. Die jüdische Gemeinde Roms, Historikerkommissionen und
christlich-jüdische Gremien hatten nach Bekanntwerden des Seligsprechungstermins
protestiert und danach gefragt, welche "Botschaft" Rom denn
mit der Seligsprechung dieses Papstes senden will. Die damalige Irritation
im katholisch-jüdischen Verhältnis wurde dann durch die auch
jüdischerseits aufmerksam gelesene Erklärung der Kongregation
für die Glaubenslehre "Dominus Iesus" (DI) über die
Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche vom
6. August 2000 verstärkt. Wenn auch dieses Dokument in seiner interreligösen
Dimension "ad gentes" ausgerichtet ist und keine ausdrückliche
Aussage über das Verhältnis der Kirche zum Judentum trifft,
so gab es pointierte kritische jüdische Stimmen. Immerhin konnten
diese beim offiziellen Jahrestreffen des Internationalen katholisch-jüdischen
Verbindungskomitees vom 30. April bis 3. Mai 2001 in New York zur Geltung
gebracht werden. Der orthodoxe Gelehrte und Rabbiner David Berger vom
Brooklyn College bezog sich in einem Hauptbeitrag des Treffens auf die
Aussage des Vatikandokuments, dass sich die einzelnen Nichtchristen in
einer schwer defizitären Heilssituation befinden; im Blick auf den
Aussagekern des Dokumentes, dass alles Heil allein von dem einen und dreifaltigen
Gott und seinem Fleisch gewordenen Wort her kommt, sei es seiner Meinung
nach inkohärent, wenn die Juden in dieser Aussage nicht eingeschlossen
seien. Unter Hinweis auf Schriften von Kardinal Joseph Ratzinger las er
DI im Licht eines zwar freundlichen, aber klassischen Supersessionimus,
der Israel - freilich ohne antijüdische Polemik früheren Stils
- durch Christus und die Kirche für überholt und ersetzt glaubt.
Im übrigen dachte er darüber nach, dass eine jüdische Kritik
der theologischen Positionen von DI zum dreifaltigen Gott oder zur Inkarnation
umgekehrt eine Einladung an Christen bedeuten könnte, nun ihrerseits
Änderungen der jüdischen Theologie zu fordern und den Dialog
zur religiösen Einschüchterung zu instrumentalisieren. Als äußerst
problematisch empfand Berger die Position von DI, dass der Dialog nur
eine der Tätigkeiten der Kirche innerhalb ihrer missionarischen Sendung
sei. Die Auffassung, Mission und Dialog müssten sich gegenseitig
durchdringen, rechtfertige den Argwohn orthodoxer Juden gegenüber
dem theologischen Dialog mit Kirche und Christentum.
In seiner Antwort auf diese Ausführungen wandte Kardinal
Walter Kasper als neuer Präsident der vatikanischen Kommission für
die religiösen Beziehungen zu den Juden das hermeneutische Argument
ein, es sei nicht möglich, Artikel von Kardinal Ratzinger anzuführen,
um das aufzufüllen, was DI nicht sagt; ein solcher Umgang mit dem
"argumentum e silentio" sei unangemessen. Vielmehr sei DI von
den Aussagen des Konzils und den zahlreichen Äußerungen von
Papst Johannes Paul II. zum Verhältnis der Kirche zum Judentum her
zu lesen. Die Kirche glaube, dass das Judentum eine gläubige Antwort
des jüdischen Volkes auf Gottes unwiderruflichen Bund sei und deshalb
für dieses heilvoll, da Gott seinen Verheißungen treu sei.
Die katholische Kirche unterhalte keine judenmissionarischen Organisationen.
Aber nicht nur auf der Ebene der Praxis, sondern auch in der Theorie sei
das Verhältnis der Kirche zum Judentum von einmaligem Rang: Der in
der Bibel bezeugte Glaube der Juden sei für die Kirche keine andere
Religion, sondern Fundament des eigenen Glaubens. "Man kann die Kenntnis
des Gottes Israels den Juden nicht erst bringen. Juden und Christen gehören
auf eine Seite." Insgesamt hole DI den gegenwärtigen Stand der
theologischen Reflexion in der Kirche nicht voll ein. Im übrigen
riefen die durch DI angesprochenen Differenzen peinvolle Erinnerungen
aus der Geschichte wach, weshalb das Dokument auf Juden schmerzlich wirkte.
Eine Kränkung oder Verletzung lag jedoch nicht in der Absicht des
Dokumentes. "Die Schmerzen meiner Freunde sind auch meine Schmerzen"
(Zitate: SIDIC XXXIV, No. 2, 2001, 18-25 sowie aus persönlichen Konferenzunterlagen).
Die argumentative Erläuterung von DI und die Entgegnung auf vorgetragene
Einwände durch Kardinal Kasper beeindruckten die jüdische Delegation,
und vielleicht ist es diesem freimütigen Austausch von New York zu
verdanken, dass "Dominus Iesus" das offizielle katholisch-jüdische
Verhältnis nicht weiter belastet. Freilich ist damit die Hermeneutik
des Misstrauens und Argwohns, mit der jüdischerseits kirchliche Dokumente
und Vorgänge gelesen werden, nicht einfach überwunden.
Kardinal Kasper brach vorzeitig von der New Yorker Konsultation
auf, um in seiner Funktion als Präsident des Rats für die zu
fördernde Einheit der Christen den Papst bei seinem Besuch nach Griechenland,
Syrien und Malta vom 4. bis 9. Mai 2001 zu begleiten. Von der deutschen
Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde die Tatsache, dass eine Begebenheit
während des Papstbesuchs in Syrien das jüdisch-katholische Verhältnis
belastete. Der syrische Präsident Baschar al-Assad hatte in seiner
Ansprache an den Papst Israel und die Juden beschuldigt, heute genauso
gegen die Palästinenser und die heiligen Stätten der Christen
vorzugehen, wie die Juden des ersten Jahrhunderts den Tod Jesu verursacht
hätten. Der Papst ist bei seiner Antwort nicht auf die Rede des Präsidenten
und ihren antijüdischen Ton eingegangen, was von amerikanischen Juden
mit großer Enttäuschung registriert wurde (vgl.: Freiburger
Rundbrief NF 8, 2001, 284ff.).
Das Scheitern der Internationalen katholisch-jüdischen
Kommission
Wie sehr die Last der Vergangenheit gegenwärtig ist, wurde auch bei
der Kontroverse um die Beendigung der Arbeit der Internationalen katholisch-jüdischen
historischen Kommission erfahrbar. Diese Kommission war im Herbst 1999
gemeinsam von der Vatikanischen Kommission für die religiösen
Beziehungen zu den Juden und dem Internationalen jüdischen Komitee
für interreligiöse Konsultationen (IJCIC) nach dem kontroversen
Echo auf die Vatikanische Erklärung "Wir erinnern: Eine Reflexion
über die Schoa" vom 16. März 1998 ins Leben gerufen worden.
Auftrag der Kommission war eine Bewertung der Rolle des Hl. Stuhls in
der Zeit der Schoa und zwar auf der Basis der veröffentlichten Dokumente
des Vatikans aus den Jahren 1939 bis 1945 (Actes et documents du Saint
Siège relatifs à la Seconde Guerre mondiale. 11 Bde., Vatikanstadt
1965-1981). Ein Zugang zu weiterem Archivmaterial war der Kommission ebenso
wenig in Aussicht wie ein Hilfsstab oder eine Infrastruktur zur Seite
gestellt. Die drei katholischen und drei jüdischen Historiker erstellten
einen Zwischenbericht mit 47 Fragen, die bei einem Treffen mit vatikanischen
Autoritäten im Oktober 2000 in Rom nur teilweise beantwortet wurden.
In der internen Diskussion der Kommission gab es unterschiedliche Positionen
darüber, ob sich mit dem veröffentlichten Material eine zwar
nicht endgültige, aber doch weiterführende Bewertung vornehmen
ließ oder nicht. Trotz aufgetretener Meinungsunterschiede bat Kardinal
Kasper in einem Schreiben vom 21. Juni 2001 die Kommissionsmitglieder
um einen abschließenden Bericht. In ihrer Antwort vom 20. Juli verwiesen
die Kommissionsmitglieder darauf, dass ihre gemeinsame Arbeit einen Punkt
erreicht habe, an dem sich das Ausgangsmaterial als zu begrenzt erweise.
Ein substantieller Fortschritt in der Arbeit erfordere die Zugänglichkeit
zu weiterem Archivmaterial. Einstweilen müssten sie ihre Arbeit aussetzen
und um ein Treffen ersuchen, um die Mittel zu erörtern, wie die gemeinsame
Arbeit fortgesetzt werden könne. Dieses Schreiben wurde zwei Tage
später durch eine Presseerklärung von IJCIC der Öffentlichkeit
bekannt und durch Seymour Reich, den IJCIC-Präsidenten, als Ausdruck
tiefer Enttäuschung und des Protestes der Kommissionsmitglieder gegenüber
dem Vatikan bewertet. Nun wurde der Ton der öffentlichen Auseinandersetzung
immer bitterer und persönlicher. Eine heftige und in der Schärfe
ungewöhnliche Erklärung von Pater Peter Gumpel, Gesprächspartner
der Kommission beim Vatikan-Treffen und Relator des Seligsprechungsprozesses
von Papst Pius XII., wurde als Klarstellung des Hl. Stuhls veröffentlicht
(so u.a.: L'OR, dt., Nr. 34 vom 24. August 2001, 4). Die Situation erschien
so verfahren, dass Kardinal Kasper in einer öffentlichen Erklärung
vom 24. August 2001 resigniert feststellte, eine weitere gemeinsame Arbeit
sei praktisch unmöglich. Die vatikanische Kommission für die
religiösen Beziehungen zu den Juden werde "sich um geeignete
Wege bemühen, um in Zusammenarbeit mit jüdischen Partnern auf
der neuen Basis die in der Öffentlichkeit wie in der historischen
Forschung aufgeworfenen Fragen einer möglichst gemeinsamen Klärung
entgegenzuführen. Sie ist überzeugt, dass die katholische Kirche
die historische Wahrheit nicht zu fürchten hat" (zitiert nach:
KNA - ÖKI 36, Dokumentation vom 4. September 2001, Seite 3).
Der Pulverdampf ist verzogen. Zurückgeblieben sind
wechselseitige Vorwürfe: jüdischerseits der Eindruck, der Vatikan
habe etwas zu verbergen, katholischerseits der Vorwurf, das Projekt sei
durch Vertrauensbruch und -mangel gescheitert. Die Frage nach den Gründen
des Scheiterns steht noch immer im Raum. Die Ursache des Scheiterns ist
ähnlich komplex wie es die Aufgabenstellung der Kommission war. War
sie eine "unmögliche Mission", weil sie fast zwangsläufig
zerrieben werden musste zwischen einer begrenzten Aufgabenstellung und
einem Bündel von überschießenden und gegenläufigen
Erwartungen? Fachhistorische Kommentare in Deutschland sprachen vom "blamablen
Wissen der Experten" und wiesen nicht zuletzt durch eine Detaildiskussion,
deren leitendes Ziel nicht so recht erkennbar wurde, den Kommissionsmitgliedern
den Schwarzen Peter zu. Die Kommissionsmitglieder hatten gewiss unterschiedliche
Optionen und Einschätzungen, kamen aber im Bestreben fachhistorischer
Integrität ebenso überein wie in der Grundintention, mit ihrer
Arbeit die öffentliche Diskussion zu versachlichen. Hier ist ihnen
in der Öffentlichkeit manch unberechtigter Vorwurf gemacht worden.
Es hat weiterhin einen sehr unterschiedlichen Umgang mit der Presse und
Öffentlichkeit gegeben; die römische Voraussetzung einer wissenschaftlich
orientierten Arbeit im internen Forum ist im Vorfeld offenbar zu wenig
mit dem amerikanischen Stil von Öffentlichkeit abgeglichen worden.
Nicht zu verkennen sind archivtechnische Schwierigkeiten, aber in einigen
Phasen der Debatten schien sich doch auch eine Differenz aufzutun zwischen
dem vatikanischen Staatssekretariat, welches die Hoheitsrechte über
das Archivmaterial restriktiv handhabt, und der vatikanischen Kommission
für die religiösen Beziehungen zu den Juden. Diese betraf sowohl
den Rückhalt für die unnötig scharfe und polemische Stellungnahme
von Pater Gumpel als auch den Spielraum für die Frage, ob dem Begehren
der Kommissionsmitglieder nach Klärung weiterführender Perspektiven
der gemeinsamen Arbeit Rechnung getragen werden könne. Offenbar gab
es innerhalb der vatikanischen Behörden unterschiedliche Bewertungen
des Ausmaßes und der Mittel der "Reinigung des Gedächtnisses"
der Kirche. Kardinal Kasper hatte sein Verständnis in der Archivfrage
in seiner Erklärung vom 24. August so formuliert: "Der Wunsch
vieler mit der Sache befasster Historiker nach einer Öffnung der
vatikanischen Archive für die Zeit der Päpste Pius XI (1922-39)
und Pius XII. (1939-58) ist... verständlich und berechtigt".
Immerhin hat eine zwischenzeitliche Mitteilung des Vatikans, seine Archive
über Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und Deutschland aus
den Jahren 1922 bis 1939 für Wissenschaftler zu öffnen, die
Teilöffnung der Sackgasse angezeigt. "Auch die vatikanisch-deutschen
Dokumente aus der Pontifikatszeit Pius' XII. (1939-1958) sollten auf Wunsch
von Papst Johannes Paul II. vorzeitig freigegeben werden. Dem Papst liegt
die Klärung jenes Zeitabschnitts mit dem Weltkrieg, den Judendeportationen
und der Tragödie der Shoah sehr am Herzen, betont die von den Archivleitern
unterzeichnete Erklärung" (L'OR, dt., Nr. 8 vom 22. Februar
2002, 1; vgl. den Text in Französisch: La documentation catholique,
No. 2266, 257f.). Die nun doch mögliche vorzeitige und offenbar vom
Papst selbst veranlasste Öffnung von Archivteilen darf als ein weiterer
Beleg dafür gelesen werden, dass die katholisch-jüdische Beziehung
eine solche Haltbarkeit hat, dass ihr Fortschritt auch Krisen wie die
um das Projekt einer Internationalen katholisch-jüdischen historischen
Kommission überwinden kann. Das schließt Folgerungen aus Enttäuschungen
nichts aus. So scheint Kardinal Kasper den Radius der jüdischen Gesprächspartner
über den Kreis von IJCIC hinaus erweitern zu wollen. Dabei denkt
er weniger an politisch interessierte und mehr an akademisch geprägte
Arbeitssituationen. Seine Kontakte zu Israel und dem dortigen Oberrabbinat
könnten in die Richtung weisen, dass er weitere Türen öffnen
möchte.
Das amerikanisch-jüdische Dokument "Redet Wahrheit!"
und seine Rezeption
Die "politischen" Kontroversen lassen zu oft die Reflexion und
den Dialog über religiöse Fragen in den Hintergrund geraten.
Diese aber gehen weiter und wechseln vom Dialog im christlich-jüdischen
Gegenüber zur Vergewisserung in der eigenen Kammer. Dort wird dann
gefragt, welche Folgen die Dialogerfahrung für das je eigene Selbstverständnis
oder für die von der eigenen Tradition her vorgegebene Sicht des
Anderen haben könne. Dass das Letztere in den zurückliegenden
Jahrzehnten fast ausschließlich in der innerchristlichen Kammer
geschah, zeigt noch einmal die Asymmetrie in der geschichtlichen Last
des christlich-jüdischen Verhältnisses an. Das Dokument "Das
jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel"
vom 24. Mai 2001 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 152, Bonn o.
J.) kann man u.a. als einen Beitrag der Päpstlichen Bibelkommission
zu solcher Selbstvergewisserung lesen; es hat eine aufmerksame und anerkennende
jüdische Lektüre erfahren und die Hoffnung ausgelöst, dass
künftig jüdische und christliche Exegeten ihr gemeinsames Studium
der Midrasch- und sonstigen jüdischen Kommentarliteratur zur Hebräischen
Bibel verstärken (vgl. Herder Korrespondenz 56, 2002, 115-117). Nun
aber hat sich in der innerjüdischen Kammer eine bemerkenswerte Selbstvergewisserung
im Verhältnis zum Christentum getan.
Die Bemühungen um eine Theologie nach Auschwitz waren
in den 70er Jahren mit dem Programmwort einer christlichen Theologie des
Judentums verbunden. In diesem Kontext wurde gegenläufig die Frage
nach der Möglichkeit einer jüdischen Theologie des Christentums
diskutiert und im allgemeinen auf die Position einer strukturellen Asymmetrie
hingewiesen: Das Christentum beziehe bei der theologischen Auslegung seiner
Identität notwendigerweise das Judentum ein. Für die Mehrheit
der Juden dagegen sei das Christentum eine geschichtliche Größe,
ohne eine religiöse Herausforderung darzustellen; "eine eigentliche
jüdische Theologie des Christentums gibt es nicht und kann es nicht
geben", wie es einmal Zwi Werblowsky formulierte (in: Neues Handbuch
theologischer Grundbegriffe, Band 3, München 1991, 46-53, 47). Noch
schärfer spitzte Jeshajahu Leibowitz zu: "Schon die Existenz
des Judentums ist... für das Christentum ein schreckliches Problem;
uns dagegen - geht das Christentum überhaupt nichts an"( in:
ders., Gespräche über Gott und die Welt, Frankfurt 1990, 73).
Allerdings gab es auch andere jüdische Stimmen. Sie besagten, es
genüge nicht mehr, auf die Möglichkeit rabbinischer Reaktion
gegenüber Nichtjuden als Söhnen der "noachidischen Gebote"
oder als "Gerechten unter den Völkern" hinzuweisen; es
sei auch für die heutige Zeit zu wenig, die Einschätzung des
Christentums (und des Islam) durch Maimonides als Wegbereiter des wahren
Messias zu zitieren und die Tradition christentumsfreundlicher Haltung
im jüdischen Mittelalter von Menachem Meir (13./14. Jh.) bis Jakob
Emden (1697-1776) nachzuzeichnen. Vielmehr sei eine authentischere jüdische
Reaktion auf das Christentum zu formulieren; der Pluralismus der Gegenwart
verlange nach einer zeitgenössischen jüdischen Sicht des Christentums
über die traditionelle Zweiteilung von "Israel und den Völkern"
hinaus. Aber solche Stimmen blieben etwa ein Vierteljahrhundert lang Einzelstimmen.
Nunmehr haben sie eine korporative Verdichtung erfahren, die im innerjüdischen
Ringen nicht mehr zu leugnen ist.
Am 11. September 2000 - also fünf Wochen nach Veröffentlichung
von DI - erschien in zwei überregionalen Zeitungen Nordamerikas eine
Anzeige unter der Überschrift "Dabru Emet: Eine jüdische
Stellungnahme zu Christen und Christentum". Ihr Text begann mit einer
kurzen Einführung und enthielt im Hauptteil acht Leitsätze,
welche kurz erläutert wurden. Mehr als 170 Rabbiner und Frauen und
Männer der Gelehrsamkeit aus den verschiedenen Strömungen des
amerikanischen Judentums hatten diese Anzeige gezeichnet. Das Dokument
ist die Frucht eines intensiven Diskussionsprozesses von acht Jahren in
einer Gruppe jüdischer Gelehrter, die sich wissenschaftlich mit dem
Christentum und näherhin mit der Frage befassten, welche Antwort
das gegenwärtige Judentum auf die dramatischen Änderungen in
der Christenheit geben könnte. Die Autoren - Tikva Frymer-Kensky,
Peter Ochs, David Novak und Michael Signer - sind eine Bibelwissenschaftlerin,
ein Theologe und zwei Rabbiner und gehören selbst den unterschiedlichen
Flügeln des Judentums von der Reform über den konservativen
Flügel bis hin zur Orthodoxie an. Sie haben diesen Text etwa 300
Rabbinern, Gelehrten und Theologen in den USA und Kanada zugeschickt und
sie gebeten, den Text zu lesen und ohne Änderung eines Wortes zu
zeichnen - ein ungewöhnliches, aber erfolgreiches Verfahren. Einige
der Unterzeichner hatten erhebliche Bedenken zu dem einen oder anderen
Leitsatz, zeichneten aber trotzdem, weil sie den Vorgang für bedeutsam
hielten, wie es auch in der Einleitung heißt: "Als eine Gruppe
jüdischer Gelehrter unterschiedlicher Strömungen - die nur für
sich selbst spricht - ist es unsere Überzeugung, dass es für
Juden an der Zeit ist, die christlichen Bemühungen um eine Würdigung
des Judentums zur Kenntnis zu nehmen. Wir meinen, es ist für Juden
an der Zeit, über das nachzudenken, was das Judentum heute zum Christentum
zu sagen hat." So ist die Überschrift "Dabru Emet - Redet
Wahrheit!" ein Signalwort und hat programmatischen Charakter.
Der Hauptteil hat in der Anlage seiner acht Leitsätze
so etwas wie eine "theozentrische" Grundlegung. Die Leitsätze
lauten: "(1) Juden und Christen beten den gleichen Gott an. (2) Juden
und Christen stützen sich auf das gleiche Buch - die Bibel (das die
Juden "Tenach" und die Christen das "Alte Testament"
nennen). (3) Christen respektieren den Anspruch des jüdischen Volkes
auf das Land Israel. (4) Juden und Christen anerkennen die moralischen
Prinzipien der Torah. (5) Der Nazismus war kein christliches Phänomen.
(6) Der nach menschlichem Ermessen unüberwindbare Unterschied zwischen
Juden und Christen wird nicht eher ausgeräumt werden, bis Gott die
gesamte Welt erlöst haben wird, wie es die Schriften prophezeien.
(7) Ein erneuertes Verhältnis zwischen Juden und Christen wird die
jüdische Praxis nicht schwächen. (8) Juden und Christen müssen
sich gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen" (zitiert
nach: Henrix/Kraus, 974-976). Der wichtigste Leitsatz dürfte der
erste sein, impliziert er doch die Aussage, dass das christliche Verständnis
von Gott als dem Dreieinen dem biblischen Monotheismus nicht kontradiktorisch
widerspricht. In der ersten Phase der innerjüdischen Debatte hat
die fünfte These den schärfsten Widerspruch erfahren, weil sie
der geschichtlichen Wirklichkeit widerspreche und unter Christen den Sinn
für die Verantwortung der Schoa mindere. Dabei wird der Leitsatz
in der Entfaltung folgendermaßen kommentiert: "Ohne die lange
Geschichte christlichen Antijudaismus' und christlicher Gewalt gegen Juden
hätte die nationalsozialistische Ideologie jedoch keinen Bestand
finden und nicht verwirklicht werden können. Zu viele Christen waren
an den Grausamkeiten der Nazis gegen die Juden beteiligt oder billigten
sie. Andere Christen wiederum protestierten nicht genügend gegen
diese Grausamkeiten." Dies ist innerjüdisch weithin konsensfähig,
anders der dann unmittelbar folgende Satz: "Dennoch war der Nationalsozialismus
selbst kein zwangsläufiges Produkt des Christentums."
Die nordamerikanische Bischofskonferenz hat unter dem
Motiv "Die Macht der Worte: Eine katholische Antwort auf Dabru Emet"
ihre Wertschätzung für diese Initiative ausgedrückt. Sie
erinnerte daran, dass eine Gruppe von Katholiken und Protestanten bei
einer Konferenz in der Schweiz vom August 1947 zehn Seelisberger Thesen
veröffentlichten und ohne Rückhalt in ihren Institutionen auf
das Gewicht der Worte vertrauten, um in der christlichen Unterweisung
zu tiefgreifenden Änderungen der Behandlung des Themas Judentum zu
kommen. Ähnlich prophetisch wie die Seelisberger Thesen könnte
auch Dabru Emet wirken. Kardinal Kasper würdigte ebenfalls "Dabru
Emet" als wichtigen vorwärtsweisenden Schritt.
Die Autoren und Unterzeichner/innen von "Dabru Emet"
sind der Überzeugung, dass jüdische und christliche Frauen und
Männer und ihre Gemeinschaften eine gemeinsame Zukunft haben, welche
der Welt Segen bringen kann. Dazu gehört, dass sie nicht nur die
gemeinsame Schrift, sondern auch die unterschiedliche Interpretation dieser
Schrift studieren. Die schmerzlichen Diskussionen der religiösen
Lehren, welche in der Geschichte so viel Misstrauen und Gewalt nach sich
gezogen haben, sollten in einem Kontext von Hoffnung für die Zukunft
stattfinden. Diese Hoffnung wird eine solche des "zweiten Mutes"
sein, welche um die Störanfälligkeit des christlich-jüdischen
Verhältnisses weiß und sich auch angesichts neuer Spannungsfelder
nüchtern bewährt.
aus: Herder Korrespondenz 55, 2002, 336-342
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