Krisenerprobt und doch störanfällig.
Das christlich-katholisch-jüdische Verhältnis
von Hans Hermann Henrix

Zum aktuellen Kontext des Verhältnisses
Das christlich-jüdische Verhältnis hat in diesen Monaten zwei Kontexte, die von besonderem Gewicht sind und auf die Beziehung zwischen Kirche und jüdischem Volk einwirken.

Es ist zum einen der mit kriegerischen Mitteln ausgetragene Israel-Palästina-Konflikt, der hierzulande bis in kirchliche Milieus hinein kontrovers diskutiert wird. Die Kennzeichnung dieses Konflikts als Unterdrückung des armen gedemütigten palästinensischen Volkes durch den reichen Aggressor Israel ist nicht frei von der Gefahr, judenfeindliche Einstellungen in der Form der Israelkritik zu verlängern. Umgekehrt kann nicht jede Kritik der Politik Israels unter Antisemitismusverdacht gestellt werden. Aber Aufmerksamkeit und Wachheit sind vonnöten. Wenn zu Recht vom "militanten Weltbild Sharons" die Rede ist, ohne das ganz analoge Weltbild Arafats in den Blick zu nehmen, oder die Täuschung der Weltöffentlichkeit "mit dem nahöstlichen ‚Friedensprozess'" allein dem israelischen Konto zugeschlagen wird, ohne die doppelte Sprache der palästinensischen Autonomiebehörde nach innen (bis in die Gestaltung der Schulbücher mit ihren Hasstiraden und Leugnungen der Realität des Staates Israel hinein) und gegenüber der außerarabischen Öffentlichkeit zu geißeln, und wenn mit innerisraelischen Proteststimmen auf die "kriminelle Gewalt gegen Zivilisten" in der israelischen Politik hingewiesen wird, ohne mit einem Wort auf die z.T. kriminelle Brutalisierung in der palästinensischen Gesellschaft einzugehen, dann fragt man sich, ob hier nicht doch ein fremdes Element, das nach ideologiekritischer Selbstprüfung ruft, die politische Analyse und Einschätzung lenkt. Im israelisch-palästinensischen Konflikt steht Recht gegen Recht, Unrecht gegen Unrecht, Gewalt gegen Gewalt, Verzweiflung gegen Verzweiflung. Die Gefahr der Fortsetzung judenfeindlicher Einstellung in der Form der Kritik am Staat Israel wach im Blick zu behalten, den für Frieden engagierten Menschen auf beiden Seiten verbunden zu sein und für die Leiden beider Völker empfänglich zu sein, ist eine Anforderung an politische Analyse und persönliche "Compassion", die sich nicht aus blasser Äquidistanz, sondern aus dem Gebot der Gerechtigkeit ergibt. Dabei ist der Israel-Palästina-Konflikt eine unter vielen aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen in unterschiedlichen Weltgegenden. In die Konflikte zwischen Menschen, Gemeinschaften und Völkern sind Religionen zu oft verwickelt, als dass die Frage ausbleiben kann: Was tun die Religionsgemeinschaften, um der Aggressivität und Tödlichkeit dieser Konflikte Einhalt zu gebieten? Dass dieser Problem- und Fragedruck unter Juden, Christen und Muslimen empfunden wird, belegen wichtige Initiativen. Von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde das Treffen von Vertretern der drei monotheistischen Religionen vom 21./22. Januar 2002 im ägyptischen Alexandria. Die Religionsvertreter aus der Nahostregion forderten in einer nachfolgenden öffentlichen "Ersten Erklärung von Alexandria" ein Ende der Gewalt und des Blutvergießens und richteten sich gegen eine Indienstnahme der Religion für das Töten: "Nach den Traditionen unseres Glaubens bedeutet das Töten Unschuldiger im Namen Gottes eine Entweihung Seines Heiligen Namens und eine Diffamierung der Religion in dieser Welt."

Den anderen bedeutenden Kontext hat das aktuelle christlich-jüdische Verhältnis in der Spätphase des Pontifikats von Papst Johannes Paul II. Trotz aller körperlichen Beeinträchtigung trägt Johannes Paul II. die ihm wichtigen Anliegen durch. Dazu gehört sehr zentral die Gestaltung des Verhältnisses der Kirche zu den Religionen und insbesondere des von ihm mit eigenem Nachdruck bedachten Verhältnisses zum Judentum. So hat er nach dem Assisi-Treffen vom 27. Oktober 1986 einmal mehr die Initiative zu einem Welttag des Gebets und Fastens für den Frieden ergriffen. Unter den Augen der Weltöffentlichkeit verpflichteten sich die Vertreter der Religionsgemeinschaften am 24. Januar 2002 in Assisi in zehn Punkten, "auf der großen Baustelle des Friedens zu arbeiten". Neben der Bereitschaft zur Selbstkorrektur und "einander die Irrtümer und Vorurteile in Vergangenheit und Gegenwart zu verzeihen", kamen sie auch in der Auffassung überein: Friede und Gerechtigkeit sind nicht voneinander zu trennen - eine Überzeugung, die im gegenwärtigen Papst einen der engagiertesten Verfechter hat.

Krisenerprobt und bleibend störanfällig
Das christlich-jüdische Verhältnis bleibt seit der großen Türöffnung durch das Zweite Vatikanische Konzil von Krisen und Kontroversen umstellt. Manchmal scheinen alle Fortschritte wie widerrufen, und doch reißt das Gespräch nicht einfach ab. Es ist krisenerprobt und bleibt zugleich störanfällig. Aber solche Störungen sind Bewährungsproben eigener Art. Diese Erfahrung stellt sich auch im Sommer 2002 ein. Vielfältige Dimensionen und Facetten prägen das gelebte Verhältnis, unterschiedliche Themen und Agenten drängen sich dem Gespräch auf. Neben der offiziellen Ebene sind informelle Vorgänge wichtig. Binnenreflexionen laufen parallel zum Gespräch im faktischen Gegenüber. Theologische bzw. religionsphilosophische Denkanstrengungen der stillen Kammer werden oft durch politische Spannungen der Öffentlichkeit verstellt. Ein Lagebericht zum aktuellen katholisch-jüdischen Verhältnis hat unterschiedlichste Genera zu berücksichtigen. Der nachfolgende Versuch dazu kommt aus der Teilhabe am christlich-jüdischen Dialog und hat von dorther seine Perspektivik.

Die offizielle Beziehung zwischen der katholischen Kirche und dem jüdischen Volk hat auf der völkerrechtlichen und politischen Ebene mit dem Grundlagenvertrag zwischen dem Apostolischen Stuhl und dem Staat Israel vom 30. Dezember 1993 (Text in: H.H. Henrix/W. Kraus, Hg., Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1986 bis 2000, Paderborn/Gütersloh 2001, 80-85) eine appellable Instanz. Dass ein vergleichbarer Vertrag mit der PLO am 15. Februar 2000 im Vatikan unterzeichnet wurde (Text: L'Osservatore Romano. Wochenausgabe in deutscher Sprache [L'OR, dt.], Nr. 9 vom 3. März 2000, S. 4), hat israelischen Protest nach sich gezogen, der jedoch das Verhältnis nicht nachhaltig belastete. Eine erhebliche Belastung des vatikanisch-israelischen Verhältnisses drohte mit dem Vorhaben des Baus einer Moschee in der unmittelbaren Nachbarschaft der Verkündigungsbasilika zu Nazareth; Israel hatte zunächst mit zwei staatlichen Baugenehmigungen 1998 und 1999 das Projekt gebilligt, ehe es mit einem Kabinettsbeschluss vom 3. März 2002 der mehrfachen Intervention des Vatikans Rechnung trug, der die endgültige Einstellung der Arbeiten anordnete und mehrere alternative Bauplätze anbot (www.fides.org/German/2002/ g20020308c.html).

Diese Entlastung wurde überlagert durch die Eskalation des israelisch-palästinensischen Konflikts, der mit dem Einmarsch israelischer Truppen in die Westbank vom 29. März 2002 als Antwort auf eine Reihe entsetzlicher palästinensischer Selbstmordattentate mit vielen unschuldigen Opfern eine kriegerische Dimension angenommen hat. Auf diese Verschärfung hat Papst Johannes Paul II. vielfach Bezug genommen und beklagt, dass "dem Frieden der Krieg erklärt" worden sei; er hat die Weltgemeinschaft eindringlich gemahnt, für den Frieden in der Region tätig zu werden, und die Kirchen der Region ermutigt, sich für den Frieden einzusetzen. "Angesichts der tiefen Tragik der Ereignisse darf niemand schweigen und untätig bleiben; keiner, der in Politik und Religion Verantwortung trägt! Den Klagen müssen konkrete Akte der Solidarität folgen, die allen helfen sollen, zur gegenseitigen Achtung und ehrlichen Verhandlungen zurückzufinden" (Botschaft vor dem Segen "Urbi et Orbi" am 31. März 2002: L'OR, dt., Nr. 15 vom 12. April 2002, S. 8).

In den Wochen des aktuellen Konflikts verknüpfte der Papst bei seinen Interventionen und Reaktionen die Klarheit der Position mit der Aufrechterhaltung der Beziehungen nach beiden Seiten. Eine zuverlässige Auskunft über die Grundposition des Vatikans in diesem Konflikt kann man z. B. der päpstlichen Neujahrsansprache an das Diplomatische Korps beim Heiligen Stuhl vom 10. Januar 2002 entnehmen, wo er u.a. sagte: "In der Heiligen Nacht haben wir uns im Geiste nach Betlehem begeben und mußten bestürzt feststellen, daß das Heilige Land, in dem der Erlöser geboren wurde, durch menschliches Verschulden noch immer ein Land von Feuer und Blut ist. Niemand kann angesichts der Ungerechtigkeit, der das palästinensische Volk seit über fünfzig Jahren ausgesetzt ist, teilnahmslos bleiben. Niemand kann dem israelischen Volk das Recht auf ein Leben in Sicherheit streitig machen. Aber es darf auch niemand die unschuldigen Menschen vergessen, die auf beiden Seiten jeden Tag den Schüssen und Anschlägen zum Opfer fallen. Waffen und blutige Attentate werden niemals geeignete Mittel sein, um den Gesprächspartnern politische Botschaften zukommen zu lassen. Die Logik der Vergeltung ist ebenfalls nicht geeignet, um den Weg zum Frieden zu ebnen. Wie ich schon mehrmals erklärt habe, können nur die Achtung vor dem anderen und seinen berechtigten Ansprüchen, die Anwendung internationalen Rechts, die Räumung der besetzten Gebiete und ein international garantiertes Sonderstatut für die heiligsten Gebiete Jerusalems einen Prozeß der Befriedung in dieser Region der Welt herbeiführen und den Teufelskreis von Haß und Rache durchbrechen. Mein Wunsch ist, daß die internationale Gemeinschaft mit geeigneten friedlichen Mitteln in die Lage versetzt wird, ihre von allen Konfliktparteien anerkannte unersetzliche Rolle zu spielen. Weder Israelis noch Palästinenser werden den Krieg gegeneinander gewinnen. Sie können aber gemeinsam den Frieden gewinnen" (L'OR, dt., Nr. 4 vom 25. Januar 2002, S.7).

Der päpstlichen Forderung nach einer klaren und gerechten Lösung der Jerusalemfrage stand lange eine kategorische Ablehnung Israels gegenüber, das an der Unteilbarkeit Jerusalems festhielt. Innerisraelisch wurde das Tabu jedoch gebrochen, als der frühere Justizminister und israelische Hauptunterhändler für den Grundlagenvertrag zwischen Israel und dem Vatikan, Yossi Beilin, im Umfeld der Gespräche von Camp David im Jahr 2000 die israelische Position des unteilbaren Jerusalems in Frage stellte. Auch mit der Forderung nach einem Staat Palästina hat Johannes Paul II. die Beziehung mit Israel nicht zur Disposition gestellt. Und die Besetzung der Geburtskirche zu Betlehem durch Palästinenser hat den vatikanischen Protest aufgrund des Grundlagenvertrags mit der PLO provoziert, der den Status quo der heiligen Stätten sichert. Der Grundlagenvertrag zwischen Israel und dem Vatikan sichert diesen Status quo ebenso zu, weshalb der Vatikan auch gegen die Umstellung der Geburtskirche durch israelische Truppen Einspruch eingelegt hat. Die vatikanische klare Bejahung des Rechts Israels auf ein Leben in Sicherheit und die Unterstützung elementarer Forderungen der Palästinenser halten die Kontakte zu beiden Seiten offen, die an der Auflösung der Ausnahmesituation um die Geburtskirche in Betlehem nach fünf Wochen am 10. Mai mitgewirkt haben und in der Phase der Abkühlung des "heißen" Konflikts noch ihre weitere Wirkung entfalten sollten.

Folgewirkung des päpstlichen Israelbesuchs im heiligen Jahr
Es kann kein Zweifel sein, dass die eine oder andere päpstliche Äußerung der Unterstützung palästinensischer Belange, die den christlichen Palästinensern Mut in der Bedrängnis bedeutet, in Israel nicht populär ist. Dass die Achtung dem Papst gegenüber auf jüdischer Seite aber nicht aufgekündigt wird, dürfte eine Folgewirkung seines historischen Besuchs vom 21. bis 26. März 2000 in Israel und Jerusalem sein, den ein damaliger israelischer Kommentator einen "Sechs-Tage-Friede" nannte. Mit diesem Besuch wurde eine hartnäckige Ambivalenz in der jüdischen Reaktion auf Papst Johannes Paul II. konstruktiv überwunden. Jüdischerseits negierte man die Bemühungen dieses Papstes für die Heilung des Verhältnisses der Kirche zum jüdischen Volk und Judentum nicht. Aber diese hatten noch nicht die jüdischen Herzen erreicht. Selbst die Liturgie mit der Vergebungsbitte vom ersten Fastensonntag 2000 in St. Peter traf die jüdische Aspiration, die auf eine zweifelsfreie Geste der Schuldanerkenntnis hoffte, noch nicht. Dazu waren die Liturgie und ihr Ort dem jüdischen Volk wohl zu fern. Johannes Paul II. musste bei ihm selbst "ankommen", um die bestehende Hürde zu überwinden. Dies geschah in den Tagen seines Besuchs im Heiligen Land vom März 2000. Er war ein großes Symbol mit hoher Eigenaussage für das jüdische Volk. Sein "Symbol" - er selbst mit gebeugter Gestalt in Weiß in der Holocaustgedenkstätte Jad WaSchem Grundsätzliches zur Erinnerung sagend sowie in der Begegnung mit Überlebenden zum Ausdruck bringend und an der Westmauer die Vergebungsbitte hinterlassend - erreichte in den Tagen seines Israelbesuchs die jüdischen Menschen in Israel und der Diaspora. Diese verstanden, daß das Symbol und die Geste weiter und offener sein können als satzhafte Theologie und Kirchenlehre. Sie waren angerührt - eine emotionale Bewegtheit, deren Erinnerung bei einem ersten europäischen katholisch-jüdischen Treffen am 28./29. Januar 2002 in Paris mit etwa 1.000 Gästen (unter ihnen zahlreiche hochrangige jüdische und katholische Vertreter/innen) kräftig auflebte (vgl. das Dossier in: La documentation catholique, No. 2266 vom 17. März 2002, S. 259-265) und selbst in den Wochen des kriegerischen Konflikts 2002 nicht völlig erloschen scheint. Freilich ist nicht zu verkennen, dass zwischenzeitlich Kommentare in "L'Osservatore Romano", die Israels Politik heftig angriffen und dabei die Rede von Erniedrigung und Vernichtung des palästinensischen Volkes nicht scheuten, großen Unmut im Umfeld der jüdischen Gemeinde Roms auslösten. Auch angesichts dieser Verstimmung bewertete Israels Botschafter beim Hl. Stuhl, Yosef Lamdan, das beiderseitige Verhältnis als "gut und eng" (vgl. Herder Korrespondenz 56, 2002, 221f.); dies Urteil stammt von einem Diplomaten, den die professionelle Interessenwahrnehmung für sein Land nicht unsensibel für kirchliche Belange hat werden lassen.

Bereits bald nach der päpstlichen Israelreise vom März 2000 war einiges geschehen, das Klärungsbedarf nach sich zog - nicht nur auf der dramatisch veränderten politischen Bühne, sondern auch im religiös-kirchlichen Spektrum. Dort hatte sich manches getan, was den jüdischen Schmerz aufgrund des "Tumors im Gedächtnis" (Emmanuel Levinas) im jüdisch-katholischen Verhältnis wieder aufbrechen ließ.

Die Kontroverse um "Dominus Iesus" - jüdisch-christlich
Da war es zunächst am 3. September 2000 zur Seligsprechung Pius IX. gekommen. Die jüdische Gemeinde Roms, Historikerkommissionen und christlich-jüdische Gremien hatten nach Bekanntwerden des Seligsprechungstermins protestiert und danach gefragt, welche "Botschaft" Rom denn mit der Seligsprechung dieses Papstes senden will. Die damalige Irritation im katholisch-jüdischen Verhältnis wurde dann durch die auch jüdischerseits aufmerksam gelesene Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre "Dominus Iesus" (DI) über die Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche vom 6. August 2000 verstärkt. Wenn auch dieses Dokument in seiner interreligösen Dimension "ad gentes" ausgerichtet ist und keine ausdrückliche Aussage über das Verhältnis der Kirche zum Judentum trifft, so gab es pointierte kritische jüdische Stimmen. Immerhin konnten diese beim offiziellen Jahrestreffen des Internationalen katholisch-jüdischen Verbindungskomitees vom 30. April bis 3. Mai 2001 in New York zur Geltung gebracht werden. Der orthodoxe Gelehrte und Rabbiner David Berger vom Brooklyn College bezog sich in einem Hauptbeitrag des Treffens auf die Aussage des Vatikandokuments, dass sich die einzelnen Nichtchristen in einer schwer defizitären Heilssituation befinden; im Blick auf den Aussagekern des Dokumentes, dass alles Heil allein von dem einen und dreifaltigen Gott und seinem Fleisch gewordenen Wort her kommt, sei es seiner Meinung nach inkohärent, wenn die Juden in dieser Aussage nicht eingeschlossen seien. Unter Hinweis auf Schriften von Kardinal Joseph Ratzinger las er DI im Licht eines zwar freundlichen, aber klassischen Supersessionimus, der Israel - freilich ohne antijüdische Polemik früheren Stils - durch Christus und die Kirche für überholt und ersetzt glaubt. Im übrigen dachte er darüber nach, dass eine jüdische Kritik der theologischen Positionen von DI zum dreifaltigen Gott oder zur Inkarnation umgekehrt eine Einladung an Christen bedeuten könnte, nun ihrerseits Änderungen der jüdischen Theologie zu fordern und den Dialog zur religiösen Einschüchterung zu instrumentalisieren. Als äußerst problematisch empfand Berger die Position von DI, dass der Dialog nur eine der Tätigkeiten der Kirche innerhalb ihrer missionarischen Sendung sei. Die Auffassung, Mission und Dialog müssten sich gegenseitig durchdringen, rechtfertige den Argwohn orthodoxer Juden gegenüber dem theologischen Dialog mit Kirche und Christentum.

In seiner Antwort auf diese Ausführungen wandte Kardinal Walter Kasper als neuer Präsident der vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden das hermeneutische Argument ein, es sei nicht möglich, Artikel von Kardinal Ratzinger anzuführen, um das aufzufüllen, was DI nicht sagt; ein solcher Umgang mit dem "argumentum e silentio" sei unangemessen. Vielmehr sei DI von den Aussagen des Konzils und den zahlreichen Äußerungen von Papst Johannes Paul II. zum Verhältnis der Kirche zum Judentum her zu lesen. Die Kirche glaube, dass das Judentum eine gläubige Antwort des jüdischen Volkes auf Gottes unwiderruflichen Bund sei und deshalb für dieses heilvoll, da Gott seinen Verheißungen treu sei. Die katholische Kirche unterhalte keine judenmissionarischen Organisationen. Aber nicht nur auf der Ebene der Praxis, sondern auch in der Theorie sei das Verhältnis der Kirche zum Judentum von einmaligem Rang: Der in der Bibel bezeugte Glaube der Juden sei für die Kirche keine andere Religion, sondern Fundament des eigenen Glaubens. "Man kann die Kenntnis des Gottes Israels den Juden nicht erst bringen. Juden und Christen gehören auf eine Seite." Insgesamt hole DI den gegenwärtigen Stand der theologischen Reflexion in der Kirche nicht voll ein. Im übrigen riefen die durch DI angesprochenen Differenzen peinvolle Erinnerungen aus der Geschichte wach, weshalb das Dokument auf Juden schmerzlich wirkte. Eine Kränkung oder Verletzung lag jedoch nicht in der Absicht des Dokumentes. "Die Schmerzen meiner Freunde sind auch meine Schmerzen" (Zitate: SIDIC XXXIV, No. 2, 2001, 18-25 sowie aus persönlichen Konferenzunterlagen). Die argumentative Erläuterung von DI und die Entgegnung auf vorgetragene Einwände durch Kardinal Kasper beeindruckten die jüdische Delegation, und vielleicht ist es diesem freimütigen Austausch von New York zu verdanken, dass "Dominus Iesus" das offizielle katholisch-jüdische Verhältnis nicht weiter belastet. Freilich ist damit die Hermeneutik des Misstrauens und Argwohns, mit der jüdischerseits kirchliche Dokumente und Vorgänge gelesen werden, nicht einfach überwunden.

Kardinal Kasper brach vorzeitig von der New Yorker Konsultation auf, um in seiner Funktion als Präsident des Rats für die zu fördernde Einheit der Christen den Papst bei seinem Besuch nach Griechenland, Syrien und Malta vom 4. bis 9. Mai 2001 zu begleiten. Von der deutschen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde die Tatsache, dass eine Begebenheit während des Papstbesuchs in Syrien das jüdisch-katholische Verhältnis belastete. Der syrische Präsident Baschar al-Assad hatte in seiner Ansprache an den Papst Israel und die Juden beschuldigt, heute genauso gegen die Palästinenser und die heiligen Stätten der Christen vorzugehen, wie die Juden des ersten Jahrhunderts den Tod Jesu verursacht hätten. Der Papst ist bei seiner Antwort nicht auf die Rede des Präsidenten und ihren antijüdischen Ton eingegangen, was von amerikanischen Juden mit großer Enttäuschung registriert wurde (vgl.: Freiburger Rundbrief NF 8, 2001, 284ff.).

Das Scheitern der Internationalen katholisch-jüdischen Kommission
Wie sehr die Last der Vergangenheit gegenwärtig ist, wurde auch bei der Kontroverse um die Beendigung der Arbeit der Internationalen katholisch-jüdischen historischen Kommission erfahrbar. Diese Kommission war im Herbst 1999 gemeinsam von der Vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden und dem Internationalen jüdischen Komitee für interreligiöse Konsultationen (IJCIC) nach dem kontroversen Echo auf die Vatikanische Erklärung "Wir erinnern: Eine Reflexion über die Schoa" vom 16. März 1998 ins Leben gerufen worden. Auftrag der Kommission war eine Bewertung der Rolle des Hl. Stuhls in der Zeit der Schoa und zwar auf der Basis der veröffentlichten Dokumente des Vatikans aus den Jahren 1939 bis 1945 (Actes et documents du Saint Siège relatifs à la Seconde Guerre mondiale. 11 Bde., Vatikanstadt 1965-1981). Ein Zugang zu weiterem Archivmaterial war der Kommission ebenso wenig in Aussicht wie ein Hilfsstab oder eine Infrastruktur zur Seite gestellt. Die drei katholischen und drei jüdischen Historiker erstellten einen Zwischenbericht mit 47 Fragen, die bei einem Treffen mit vatikanischen Autoritäten im Oktober 2000 in Rom nur teilweise beantwortet wurden. In der internen Diskussion der Kommission gab es unterschiedliche Positionen darüber, ob sich mit dem veröffentlichten Material eine zwar nicht endgültige, aber doch weiterführende Bewertung vornehmen ließ oder nicht. Trotz aufgetretener Meinungsunterschiede bat Kardinal Kasper in einem Schreiben vom 21. Juni 2001 die Kommissionsmitglieder um einen abschließenden Bericht. In ihrer Antwort vom 20. Juli verwiesen die Kommissionsmitglieder darauf, dass ihre gemeinsame Arbeit einen Punkt erreicht habe, an dem sich das Ausgangsmaterial als zu begrenzt erweise. Ein substantieller Fortschritt in der Arbeit erfordere die Zugänglichkeit zu weiterem Archivmaterial. Einstweilen müssten sie ihre Arbeit aussetzen und um ein Treffen ersuchen, um die Mittel zu erörtern, wie die gemeinsame Arbeit fortgesetzt werden könne. Dieses Schreiben wurde zwei Tage später durch eine Presseerklärung von IJCIC der Öffentlichkeit bekannt und durch Seymour Reich, den IJCIC-Präsidenten, als Ausdruck tiefer Enttäuschung und des Protestes der Kommissionsmitglieder gegenüber dem Vatikan bewertet. Nun wurde der Ton der öffentlichen Auseinandersetzung immer bitterer und persönlicher. Eine heftige und in der Schärfe ungewöhnliche Erklärung von Pater Peter Gumpel, Gesprächspartner der Kommission beim Vatikan-Treffen und Relator des Seligsprechungsprozesses von Papst Pius XII., wurde als Klarstellung des Hl. Stuhls veröffentlicht (so u.a.: L'OR, dt., Nr. 34 vom 24. August 2001, 4). Die Situation erschien so verfahren, dass Kardinal Kasper in einer öffentlichen Erklärung vom 24. August 2001 resigniert feststellte, eine weitere gemeinsame Arbeit sei praktisch unmöglich. Die vatikanische Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden werde "sich um geeignete Wege bemühen, um in Zusammenarbeit mit jüdischen Partnern auf der neuen Basis die in der Öffentlichkeit wie in der historischen Forschung aufgeworfenen Fragen einer möglichst gemeinsamen Klärung entgegenzuführen. Sie ist überzeugt, dass die katholische Kirche die historische Wahrheit nicht zu fürchten hat" (zitiert nach: KNA - ÖKI 36, Dokumentation vom 4. September 2001, Seite 3).

Der Pulverdampf ist verzogen. Zurückgeblieben sind wechselseitige Vorwürfe: jüdischerseits der Eindruck, der Vatikan habe etwas zu verbergen, katholischerseits der Vorwurf, das Projekt sei durch Vertrauensbruch und -mangel gescheitert. Die Frage nach den Gründen des Scheiterns steht noch immer im Raum. Die Ursache des Scheiterns ist ähnlich komplex wie es die Aufgabenstellung der Kommission war. War sie eine "unmögliche Mission", weil sie fast zwangsläufig zerrieben werden musste zwischen einer begrenzten Aufgabenstellung und einem Bündel von überschießenden und gegenläufigen Erwartungen? Fachhistorische Kommentare in Deutschland sprachen vom "blamablen Wissen der Experten" und wiesen nicht zuletzt durch eine Detaildiskussion, deren leitendes Ziel nicht so recht erkennbar wurde, den Kommissionsmitgliedern den Schwarzen Peter zu. Die Kommissionsmitglieder hatten gewiss unterschiedliche Optionen und Einschätzungen, kamen aber im Bestreben fachhistorischer Integrität ebenso überein wie in der Grundintention, mit ihrer Arbeit die öffentliche Diskussion zu versachlichen. Hier ist ihnen in der Öffentlichkeit manch unberechtigter Vorwurf gemacht worden. Es hat weiterhin einen sehr unterschiedlichen Umgang mit der Presse und Öffentlichkeit gegeben; die römische Voraussetzung einer wissenschaftlich orientierten Arbeit im internen Forum ist im Vorfeld offenbar zu wenig mit dem amerikanischen Stil von Öffentlichkeit abgeglichen worden. Nicht zu verkennen sind archivtechnische Schwierigkeiten, aber in einigen Phasen der Debatten schien sich doch auch eine Differenz aufzutun zwischen dem vatikanischen Staatssekretariat, welches die Hoheitsrechte über das Archivmaterial restriktiv handhabt, und der vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden. Diese betraf sowohl den Rückhalt für die unnötig scharfe und polemische Stellungnahme von Pater Gumpel als auch den Spielraum für die Frage, ob dem Begehren der Kommissionsmitglieder nach Klärung weiterführender Perspektiven der gemeinsamen Arbeit Rechnung getragen werden könne. Offenbar gab es innerhalb der vatikanischen Behörden unterschiedliche Bewertungen des Ausmaßes und der Mittel der "Reinigung des Gedächtnisses" der Kirche. Kardinal Kasper hatte sein Verständnis in der Archivfrage in seiner Erklärung vom 24. August so formuliert: "Der Wunsch vieler mit der Sache befasster Historiker nach einer Öffnung der vatikanischen Archive für die Zeit der Päpste Pius XI (1922-39) und Pius XII. (1939-58) ist... verständlich und berechtigt". Immerhin hat eine zwischenzeitliche Mitteilung des Vatikans, seine Archive über Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und Deutschland aus den Jahren 1922 bis 1939 für Wissenschaftler zu öffnen, die Teilöffnung der Sackgasse angezeigt. "Auch die vatikanisch-deutschen Dokumente aus der Pontifikatszeit Pius' XII. (1939-1958) sollten auf Wunsch von Papst Johannes Paul II. vorzeitig freigegeben werden. Dem Papst liegt die Klärung jenes Zeitabschnitts mit dem Weltkrieg, den Judendeportationen und der Tragödie der Shoah sehr am Herzen, betont die von den Archivleitern unterzeichnete Erklärung" (L'OR, dt., Nr. 8 vom 22. Februar 2002, 1; vgl. den Text in Französisch: La documentation catholique, No. 2266, 257f.). Die nun doch mögliche vorzeitige und offenbar vom Papst selbst veranlasste Öffnung von Archivteilen darf als ein weiterer Beleg dafür gelesen werden, dass die katholisch-jüdische Beziehung eine solche Haltbarkeit hat, dass ihr Fortschritt auch Krisen wie die um das Projekt einer Internationalen katholisch-jüdischen historischen Kommission überwinden kann. Das schließt Folgerungen aus Enttäuschungen nichts aus. So scheint Kardinal Kasper den Radius der jüdischen Gesprächspartner über den Kreis von IJCIC hinaus erweitern zu wollen. Dabei denkt er weniger an politisch interessierte und mehr an akademisch geprägte Arbeitssituationen. Seine Kontakte zu Israel und dem dortigen Oberrabbinat könnten in die Richtung weisen, dass er weitere Türen öffnen möchte.

Das amerikanisch-jüdische Dokument "Redet Wahrheit!" und seine Rezeption
Die "politischen" Kontroversen lassen zu oft die Reflexion und den Dialog über religiöse Fragen in den Hintergrund geraten. Diese aber gehen weiter und wechseln vom Dialog im christlich-jüdischen Gegenüber zur Vergewisserung in der eigenen Kammer. Dort wird dann gefragt, welche Folgen die Dialogerfahrung für das je eigene Selbstverständnis oder für die von der eigenen Tradition her vorgegebene Sicht des Anderen haben könne. Dass das Letztere in den zurückliegenden Jahrzehnten fast ausschließlich in der innerchristlichen Kammer geschah, zeigt noch einmal die Asymmetrie in der geschichtlichen Last des christlich-jüdischen Verhältnisses an. Das Dokument "Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel" vom 24. Mai 2001 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 152, Bonn o. J.) kann man u.a. als einen Beitrag der Päpstlichen Bibelkommission zu solcher Selbstvergewisserung lesen; es hat eine aufmerksame und anerkennende jüdische Lektüre erfahren und die Hoffnung ausgelöst, dass künftig jüdische und christliche Exegeten ihr gemeinsames Studium der Midrasch- und sonstigen jüdischen Kommentarliteratur zur Hebräischen Bibel verstärken (vgl. Herder Korrespondenz 56, 2002, 115-117). Nun aber hat sich in der innerjüdischen Kammer eine bemerkenswerte Selbstvergewisserung im Verhältnis zum Christentum getan.

Die Bemühungen um eine Theologie nach Auschwitz waren in den 70er Jahren mit dem Programmwort einer christlichen Theologie des Judentums verbunden. In diesem Kontext wurde gegenläufig die Frage nach der Möglichkeit einer jüdischen Theologie des Christentums diskutiert und im allgemeinen auf die Position einer strukturellen Asymmetrie hingewiesen: Das Christentum beziehe bei der theologischen Auslegung seiner Identität notwendigerweise das Judentum ein. Für die Mehrheit der Juden dagegen sei das Christentum eine geschichtliche Größe, ohne eine religiöse Herausforderung darzustellen; "eine eigentliche jüdische Theologie des Christentums gibt es nicht und kann es nicht geben", wie es einmal Zwi Werblowsky formulierte (in: Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, Band 3, München 1991, 46-53, 47). Noch schärfer spitzte Jeshajahu Leibowitz zu: "Schon die Existenz des Judentums ist... für das Christentum ein schreckliches Problem; uns dagegen - geht das Christentum überhaupt nichts an"( in: ders., Gespräche über Gott und die Welt, Frankfurt 1990, 73). Allerdings gab es auch andere jüdische Stimmen. Sie besagten, es genüge nicht mehr, auf die Möglichkeit rabbinischer Reaktion gegenüber Nichtjuden als Söhnen der "noachidischen Gebote" oder als "Gerechten unter den Völkern" hinzuweisen; es sei auch für die heutige Zeit zu wenig, die Einschätzung des Christentums (und des Islam) durch Maimonides als Wegbereiter des wahren Messias zu zitieren und die Tradition christentumsfreundlicher Haltung im jüdischen Mittelalter von Menachem Meir (13./14. Jh.) bis Jakob Emden (1697-1776) nachzuzeichnen. Vielmehr sei eine authentischere jüdische Reaktion auf das Christentum zu formulieren; der Pluralismus der Gegenwart verlange nach einer zeitgenössischen jüdischen Sicht des Christentums über die traditionelle Zweiteilung von "Israel und den Völkern" hinaus. Aber solche Stimmen blieben etwa ein Vierteljahrhundert lang Einzelstimmen. Nunmehr haben sie eine korporative Verdichtung erfahren, die im innerjüdischen Ringen nicht mehr zu leugnen ist.

Am 11. September 2000 - also fünf Wochen nach Veröffentlichung von DI - erschien in zwei überregionalen Zeitungen Nordamerikas eine Anzeige unter der Überschrift "Dabru Emet: Eine jüdische Stellungnahme zu Christen und Christentum". Ihr Text begann mit einer kurzen Einführung und enthielt im Hauptteil acht Leitsätze, welche kurz erläutert wurden. Mehr als 170 Rabbiner und Frauen und Männer der Gelehrsamkeit aus den verschiedenen Strömungen des amerikanischen Judentums hatten diese Anzeige gezeichnet. Das Dokument ist die Frucht eines intensiven Diskussionsprozesses von acht Jahren in einer Gruppe jüdischer Gelehrter, die sich wissenschaftlich mit dem Christentum und näherhin mit der Frage befassten, welche Antwort das gegenwärtige Judentum auf die dramatischen Änderungen in der Christenheit geben könnte. Die Autoren - Tikva Frymer-Kensky, Peter Ochs, David Novak und Michael Signer - sind eine Bibelwissenschaftlerin, ein Theologe und zwei Rabbiner und gehören selbst den unterschiedlichen Flügeln des Judentums von der Reform über den konservativen Flügel bis hin zur Orthodoxie an. Sie haben diesen Text etwa 300 Rabbinern, Gelehrten und Theologen in den USA und Kanada zugeschickt und sie gebeten, den Text zu lesen und ohne Änderung eines Wortes zu zeichnen - ein ungewöhnliches, aber erfolgreiches Verfahren. Einige der Unterzeichner hatten erhebliche Bedenken zu dem einen oder anderen Leitsatz, zeichneten aber trotzdem, weil sie den Vorgang für bedeutsam hielten, wie es auch in der Einleitung heißt: "Als eine Gruppe jüdischer Gelehrter unterschiedlicher Strömungen - die nur für sich selbst spricht - ist es unsere Überzeugung, dass es für Juden an der Zeit ist, die christlichen Bemühungen um eine Würdigung des Judentums zur Kenntnis zu nehmen. Wir meinen, es ist für Juden an der Zeit, über das nachzudenken, was das Judentum heute zum Christentum zu sagen hat." So ist die Überschrift "Dabru Emet - Redet Wahrheit!" ein Signalwort und hat programmatischen Charakter.

Der Hauptteil hat in der Anlage seiner acht Leitsätze so etwas wie eine "theozentrische" Grundlegung. Die Leitsätze lauten: "(1) Juden und Christen beten den gleichen Gott an. (2) Juden und Christen stützen sich auf das gleiche Buch - die Bibel (das die Juden "Tenach" und die Christen das "Alte Testament" nennen). (3) Christen respektieren den Anspruch des jüdischen Volkes auf das Land Israel. (4) Juden und Christen anerkennen die moralischen Prinzipien der Torah. (5) Der Nazismus war kein christliches Phänomen. (6) Der nach menschlichem Ermessen unüberwindbare Unterschied zwischen Juden und Christen wird nicht eher ausgeräumt werden, bis Gott die gesamte Welt erlöst haben wird, wie es die Schriften prophezeien. (7) Ein erneuertes Verhältnis zwischen Juden und Christen wird die jüdische Praxis nicht schwächen. (8) Juden und Christen müssen sich gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen" (zitiert nach: Henrix/Kraus, 974-976). Der wichtigste Leitsatz dürfte der erste sein, impliziert er doch die Aussage, dass das christliche Verständnis von Gott als dem Dreieinen dem biblischen Monotheismus nicht kontradiktorisch widerspricht. In der ersten Phase der innerjüdischen Debatte hat die fünfte These den schärfsten Widerspruch erfahren, weil sie der geschichtlichen Wirklichkeit widerspreche und unter Christen den Sinn für die Verantwortung der Schoa mindere. Dabei wird der Leitsatz in der Entfaltung folgendermaßen kommentiert: "Ohne die lange Geschichte christlichen Antijudaismus' und christlicher Gewalt gegen Juden hätte die nationalsozialistische Ideologie jedoch keinen Bestand finden und nicht verwirklicht werden können. Zu viele Christen waren an den Grausamkeiten der Nazis gegen die Juden beteiligt oder billigten sie. Andere Christen wiederum protestierten nicht genügend gegen diese Grausamkeiten." Dies ist innerjüdisch weithin konsensfähig, anders der dann unmittelbar folgende Satz: "Dennoch war der Nationalsozialismus selbst kein zwangsläufiges Produkt des Christentums."

Die nordamerikanische Bischofskonferenz hat unter dem Motiv "Die Macht der Worte: Eine katholische Antwort auf Dabru Emet" ihre Wertschätzung für diese Initiative ausgedrückt. Sie erinnerte daran, dass eine Gruppe von Katholiken und Protestanten bei einer Konferenz in der Schweiz vom August 1947 zehn Seelisberger Thesen veröffentlichten und ohne Rückhalt in ihren Institutionen auf das Gewicht der Worte vertrauten, um in der christlichen Unterweisung zu tiefgreifenden Änderungen der Behandlung des Themas Judentum zu kommen. Ähnlich prophetisch wie die Seelisberger Thesen könnte auch Dabru Emet wirken. Kardinal Kasper würdigte ebenfalls "Dabru Emet" als wichtigen vorwärtsweisenden Schritt.

Die Autoren und Unterzeichner/innen von "Dabru Emet" sind der Überzeugung, dass jüdische und christliche Frauen und Männer und ihre Gemeinschaften eine gemeinsame Zukunft haben, welche der Welt Segen bringen kann. Dazu gehört, dass sie nicht nur die gemeinsame Schrift, sondern auch die unterschiedliche Interpretation dieser Schrift studieren. Die schmerzlichen Diskussionen der religiösen Lehren, welche in der Geschichte so viel Misstrauen und Gewalt nach sich gezogen haben, sollten in einem Kontext von Hoffnung für die Zukunft stattfinden. Diese Hoffnung wird eine solche des "zweiten Mutes" sein, welche um die Störanfälligkeit des christlich-jüdischen Verhältnisses weiß und sich auch angesichts neuer Spannungsfelder nüchtern bewährt.

aus: Herder Korrespondenz 55, 2002, 336-342

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