Warum gedenken? Ewig gedenken!
Auf ewig gedenkt er seines Bundes auf tausend Geschlechter...für
Israel als ewigen Bund (Ps. 105,9f)
Das Gedenken der Unrechtsvergangenheit stieß und
stößt in Deutschland, aber auch in jedem anderen Land, auf
Widerwillen und Widerstand. Bei uns ist die Leugnung des Holocaust und
die Verbreitung von NS-Emblemen strafbar. Trotzdem bleibt bei vielen Abwehr.
"Kann man damit nicht aufhören? Damit muss es doch mal ein Ende
haben." So viele Ältere. Jüngere sagen eher: "Was
habe ich damit zu tun? Es ist schon so lange her." Mag bei ersteren
ein Schuldgefühl, ein dumpfes Ahnen eigener Versäumnisse sich
rühren, so verspüren letztere eher eine Lästigkeit, die
das Wohlbefinden im Gegenwärtigen, die Beheimatung im Regelwerk des
Alltags stört. Aber Gewissensfragen haben es an sich unangenehm zu
sein. Das liegt in der Natur der Sache. Denn am schlechten Gewissen zeigt
sich, ob jemand ein Gewissen hat, nie am guten. Die Erinnerung, einer
moralischen Pflicht nicht nachgekommen zu sein, empfindet jeder als peinlich,
erregt immer Scham, verletzt das Ehrgefühl. Das ist sozusagen menschlich,
weil hier unsere Menschlichkeit in Frage steht. Menschlichkeit ist aber
immer Mitmenschlichkeit.
Die Barbarei des Nationalsozialismus bestand im Unterschied zu anderen
Barbareien der Menschheitsgeschichte in der kollektiven Akribie, mit der
die Ausrottung der Juden und auch der Sinti und Roma durchgeführt
wurde. Züge, die fahrplanmäßig nach Auschwitz fahren,
sind nur in der Hölle möglich. Ein der Segensgebärde nachgeäffter
Gruß, der für alle das Heil durch ein Mördergenie herbeischreit,
ist vom Teufel. Der Nationalsozialismus wollte die alltägliche Zwischenmenschlichkeit
total vergiften und auslöschen.
Die jüdische Thora erhebt die Mitmenschlichkeit aus der Spontaneität
und erweitert sie zum Gebot, zur zentralen Weisung der Nächstenliebe,
zur Richtschnur des Verhaltens für die Gesellschaft des Bundesvolkes.
Keine andere Gesetzgebung gebietet: Du sollst einem Tauben nicht fluchen
und einem Blinden nichts in den Weg legen; du sollst deinen Gott fürchten,
ich bin der Herr (3. Mose 19,14). Ein Volk, das seit eh die Ehrerbietung
für den Behinderten zum Gebot erhebt, kann von einer Weltanschauungsgemeinschaft,
die programmatisch Vernichtungskrieg gegen das sog. lebensunwerte Leben
führt, nur als ewiger Feind betrachtet werden.
Im biblischen Gedenken geht es um Gerechtigkeit im Sinne von Mitmenschlichkeit
und Barmherzigkeit als sozialen Inhalt des Bundes zwischen Gott und Israel.
Gott will Generationen, die Gerechtigkeit üben, die Boten für
eine gerechte Menschheit sind, indem sie dem Nächsten sein Recht
schaffen. Gott gedenkt der Menschen, er erneuert seinen Bund trotz ihrer
Verfehlungen (Jer. 31,31). Die Menschen gedenken der Vergebung Gottes,
um zukünftige Verfehlungen zu meiden (5. Mose 8,18). Glaube ist nicht
eine Art mystischer Fähigkeit der Seele, ein innerer Aufschwung zu
Gott, sondern bedeutet: einer Rechtsbeziehung gerecht werden, ihrer gedenken
durch Schaffung von Recht oder Bereuen verübten Unrechts. Die Annäherung
an Gott ist Gehorsam, Eingedenken seines Wortes.
Er übte Recht und Gerechtigkeit, den Elenden und Armen verhalf er
zum Recht. Heißt nicht das, mich erkennen? spricht der Herr (Jer.
21,16). Des Nachts gedenke ich deines Namens, o Herr, dass ich dein Gesetz
halte (Ps. 119,55). Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott, und seinen Bruder
hasst, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den
er von Angesicht kennt, kann Gott nicht lieben, den er von Angesicht nicht
kennt (1. Joh. 4,20).
Sind Glaube und Gedenken so verschwistert, dann hat das Konsequenzen fürs
öffentliche Leben.
1. Das kirchliche Gebet
Kann nach Auschwitz noch gebetet werden? "Wir können nach Auschwitz
beten, weil auch in Auschwitz gebetet wurde" (Metz). Ein Gebet, das
nicht für die durch die abendländische Christenheit verursachte
Leidensgeschichte des jüdischen Volkes offen ist, bleibt unweigerlich
in den unheilvollen Pfaden traditioneller kirchlicher Judenfeindschaft,
die Auschwitz mitverschuldeten.
2. Das Kirchenjahr
Die Feste des Kirchenjahres werden überwiegend als jahreszeitlich
eingebundene erlebt. Doch sind alle kirchlichen Feste verbunden mit der
Bundesgeschichte des Gottes Israels, wie Ostern, die Feier der Auferstehung
Jesu, mit dem Auszug aus Ägypten, wie Pfingsten, das Fest der Ausgießung
des Heiligen Geistes, mit der Sinai-Offenbarung, wie Weihnachten, das
Fest der Ankunft des Messias, mit der jüdischen Messiaserwartung.
Der ewigen jüdischen Wurzel der Kirche zu gedenken, sie im Gottesdienst
zur Sprache zu bringen, bedeutet, sich vor Geschichtslosigkeit und Gottlosigkeit
schützen.
3. Die Gedenkkultur
In Deutschland hat sich eine Kultur des Gedenkens durchgesetzt, die die
Opfer und die geschichtliche Verantwortung in den Mittelpunkt stellt (Holocaust-Mahnmal,
27. Januar). Ein Verzicht auf die Beschäftigung mit der Vergangenheit
wäre politisch gefährlich. Die Psychologie lehrt, dass schmerzhafte
Erinnerung heilsam ist. Darin liegt auch eine seelsorgerliche Aufgabe
für die Kirche: den Menschen beistehen, unangenehme Gewissensfragen
auszuhalten und anzunehmen, statt eine Verdrängungskultur zu unterstützen.
4. Die Blutzeugen
Auch wenn die Unrechtsvergangenheit die Gegenwart belastet, Gedenken soll
nicht niederdrücken, sondern es soll Hoffnung auf Gerechtigkeit,
auf eine humane Gesellschaft eröffnen. Dem dient die Erinnerung an
Blutzeugen, wie D. Bonhoeffer und A. Gordon. Für staatliches Gedenken
hat solche Erinnerung eher eine pädagogische Note. Weil das nicht
ohne Probleme ist, sollte kirchliches Gedenken den Trost und die Hoffnung
betonen, die darin liegen, dass es solche Menschen in Zeiten gegeben hat,
auf die im Rückblick keiner von uns weiß wie er sich verhalten
hätte. Trost, der Hoffnung weckt, weil trotz allem die Menschlichkeit
nicht vollständig besiegt worden ist.
Der Theologische Ausschuss der Kirchenkreissynode Harburg im Oktober 2003
nach einer Vorlage von Klaus-Peter Lehmann
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