Wo der Himmel der Historie begegnet

Was sieht man? Mitten in Berlin, auf dem Bebelplatz, erinnert Micha Ullmans "Bibliothek" an die hier im Mai 1933 von den Nationalsozialisten verbrannten Bücher. Eine Glasplatte bedeckt den unter dem Niveau des Platzes liegenden Raum mit leeren weißen Regalen. Die Bücher sind nicht da. Man sieht die Leere, begreift das Fehlen der Bücher. Unter den vielen Denkmälern und Gedenkstätten, die in Deutschland und den ehemals von ihm besetzten Gebieten an die Geschichte des Dritten Reichs erinnern, an seine Opfer oder Überlebenden, nimmt Micha Ullmans Bibliothek eine Sonderstellung ein. Denn wie kein anderes Denkmal setzt sie das Materielle und das Immaterielle im Prozess des Gedenkens in ein neues Verhältnis.
Was heißt das? Zunächst einmal: Ullmans auch in technologischer und architektonischer Hinsicht bemerkenswertes Bauwerk ist unsichtbar. Jedenfalls sieht, wer den Platz von der Straße Unter den Linden aus betritt, nichts von der Bibliothek. Wer näher tritt, dessen Blick fällt auf die reflektierende gläserne Bedeckung. Was er sieht, ist der Himmel über der Stadt. Wolken ziehen, und mit der Bewegung des Betrachters verändert sich der Blickwinkel. Und damit der gespiegelte Ausschnitt des Himmels. So zeigt das Denkmal nicht sich selber, sondern konstruiert erst einmal einen Blick auf ein anderes. Schon das ist ungewöhnlich, da in der Regel das Objekt als solches Gegenstand des Blickes wird. Das Erste, was Ullmans Bibliothek erzeugt, ist eine Verunsicherung der gängigen Perspektiven.
Beim Denkmal angekommen, fokussiert man den Blick nicht mehr nur auf die Reflexionen in der Scheibe. Wer nach unten schaut, erblickt die leere Bibliothek, das Mahnmal einer großen Abwesenheit. Etwa 20 000 Bände, heißt es, passten in die leeren Regale unter dem Glas, und sofort stellt man sich vor, wie die Bücher damals hier verbrannt wurden, die Werke Brechts, Heines, Kästners, Tucholskys. Man kennt die alten Schwarzweißaufnahmen mit den tobenden Studenten von 1933. Die Bibliothek lebt auch von der Aura des authentischen Ortes.
Das Seltsame ist, wie genau die abwesenden Bücher an den Prozess ihrer Vernichtung erinnern. Sie gemahnen an die fatale Politik der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der Intellektuellen in den dreißiger und vierziger Jahren. Sie rufen in Erinnerung, wie sich im Objekt "Buch" materielle und immaterielle Dimensionen unlösbar verbinden. Das Buch ist mehr als sein Inhalt, wie auch der Autor mehr ist als die Summe seiner Ideen. "Das war ein Vorspiel nur", schrieb Heinrich Heine 1820: "Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen." Ullmans Denkmal beschwört und symbolisiert die Essenz dieses prophetischen Wortes.
Es fällt schwer, auf die Scheibe über der Bibliothek zu treten. Viele zögern, wohl auch aus Gründen einer Art von Pietät. Erfordert nicht ein Denkmal Abstand, Distanz, um zu funktionieren? Dennoch wagen immer wieder einzelne Besucher den Tritt auf die gläserne Fläche. Wer es versucht, steht über der Leere, scheinbar schwebend, und fühlt sich verunsichert. Denn der Blick nach unten zeigt auch den Himmel; wo sonst Dunkel ist, ist hier Licht. So offen sie daliegt, so deutlich entzieht sich die Bibliothek dem suchenden Blick. Mehr als ein Objekt, ist dieses Denkmal ein Generator einer Imagination, die nicht nur in die Vergangenheit gerichtet ist, sondern auch die Zukunft und die Gegenwart umgreift. Was sieht man, wenn man dies sieht?
Rheinischer Merkur, 28.8.2003

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