Das Ende der Sommerfrische
Schon lange vor 1933 rühmten sich zahlreiche deutsche Seebäder,
"judenfrei" zu sein
von Sirku Plötner
Gibt es einen Weg, der "Borkum" und "Auschwitz" miteinander
verbindet? Auschwitz steht heute symbolisch für den Massenmord an
Millionen von Juden. Borkum dagegen ist ein kleines ostfriesisches Inselidyll.
Von Reiseführern 1880 als "deutsches Inselbad" angepriesen,
entwickelte sich Borkum bereits im Kaiserreich zu einem Anziehungspunkt
antisemitischer und deutschnationaler Gäste, die mit Liedern wie
"Bewacht den Strand auch künftig fein, Lasst keinen Jud in eure
Mitte, Lebt wohl, es muss geschieden sein" ihrer aggressiven Gesinnung
Ausdruck gaben. Borkum repräsentiert in seinem extremen und früh
einsetzenden antisemitischen Gebaren seiner Gäste eine spezifische
Ausdrucksform des Antisemitismus, für den sich der Begriff des "Bäder-Antisemitismus"
eingebürgert hat.Bisher hat dieses Phänomen offener Feindschaft
gegen jüdische Gäste in deutschen Seebädern und Kurorten
in der Forschung nicht als eigenständiges Thema Beachtung gefunden.
Einzelne Aufsätze sind erschienen. Eine Monographie, hat aber nun
erst der Hamburger Historiker Frank Bajohr mit seiner Studie "Unser
Hotel ist judenfrei" vorgelegt. Damit bleibt der Autor auf der Linie
seiner bisherigen Forschungen, die versuchen, den Nationalsozialismus
von seiner gesellschaftlichen Praxis her zu fassen: Bücher zur Arisierung
in Hamburg, dem Nationalsozialismus in Norddeutschland und der Korruption
im "Dritten Reich" sind bisher von ihm erschienen.Mit seinem
Aufriss des Bäder-Antisemitismus, seiner Ausdrucksformen und seiner
Ausbreitung in Deutschland und einem Vergleich mit anderen europäischen
Ländern sowie den Vereinigten Staaten will Bajohr Perspektiven auf
größere Zusammenhänge eröffnen: Fragen nach der Kontinuität
des Antisemitismus vom Kaiserreich bis ins "Dritte Reich", nach
der Verankerung des Antisemitismus in der Bevölkerung und schließlich
dem Zusammenwirken dieses gesellschaftlichen Antisemitismus mit organisierter
Vernichtungspolitik, sollen beantwortet werden.Die Studie kommt hinsichtlich
vieler Aspekte zu interessanten Einsichten. Der Bäder-Antisemitismus
beleuchtet so die spezifischen soziokulturellen Hintergründe des
Antisemitismus: Vor dem ersten Weltkrieg gab es eine deutliche Trennung
zwischen reichen "Judenbädern" wie Bad Kissingen und Norderney,
in denen gerade jüdische Gäste aus großbürgerlichem
Milieu wohl gelitten waren oder sogar die Mehrzahl der Gäste ausmachten,
und mittelständischen "Nachzügler-Bädern" wie
Borkum oder Heringsdorf, von deren Gästen ein penetranter Antisemitismus
ausging, der sich in antisemitischen Liedern wie dem "Borkum-Lied",
antisemitischen Postkarten oder Schmähschriften manifestierte. Toni
Cassirer, die Frau des Philosophen Ernst Cassirer, zeigte sich 1906 nach
einem Bäderaufenthalt entsetzt über die "deutsche Mittelstandsmasse",
deren Auffassungen sie als "fremdes, feindliches Weltbild" und
"geistigen Kannibalismus" begriff.Gerade weil die Bäder
Orte der individuellen Repräsentation, des Sehens und Gesehen-Werdens
waren, waren sie anfällig für Sozialneid und Exklusionstendenzen.
Meistens wurde hier das klassische Stereotyp des "reichen jüdischen
Parvenüs" bemüht, erst später trat das Klischee des
"schmutzigen Ostjuden" hinzu, mit dem die Ausgrenzung der Juden
auch aus den mondänen "Judenbädern" begann. Ging der
Antisemitismus vor 1933 vor allem von den Gästen aus, wurde er nach
1933 langsam in einen politischen Antisemitismus überführt:
Lokale NS-Machthaber initiierten antijüdische Maßnahmen, die
Juden einen Bäderaufenthalt verwehrten. Wie für Struktur und
Dynamik des nationalsozialistischen Systems typisch, wurden schließlich
diese lokalen Initiativen 1937 in einer reichseinheitlichen Regelung,
die Kurbesuche für Juden verbot, gebündelt. 1938 waren faktisch
Apartheitsbedingungen in allen deutschen Bädern geschaffen.Die zentrale
Frage Bajohrs ist die der Relevanz des gesellschaftlichen BäderAntisemitismus
für die Entwicklung der Judenverfolgung nach 1933. Die Frage also,
ob "es einen Weg gibt, der Borkum mit Auschwitz verbindet".
Hinreichend kann Bajohr die Frage, wie er selbst zugibt, nicht beantworten:
Auf der einen Seite zeigt sich für ihn im Bäder-Antisemitismus
eine tiefe, gesellschaftlich verankerte Judenfeindschaft, die zwar nicht
wie Goldhagen mit seiner These von den willigen Vollstreckern Hitlers
behauptet auf Vernichtung abzielte, jedoch eine Ausgrenzung "von
unten" als soziale Praxis durchsetzte.Auf der anderen Seite will
Bajohr in einem internationalen Vergleich zeigen, dass der Bäder-Antisemitismus
auch in anderen europäischen Ländern, wie in Österreich
und vor allem auch in den Vereinigten Staaten nach dem Ersten Weltkrieg,
eine besondere Radikalität erhielt. Überraschend ist das Ergebnis,
dass gerade in Amerika der "Resort Antisemitism" verbreiterter
war als in Deutschland und noch bis weit in die fünfziger Jahre fortbestand.
Gesellschaftlicher Antisemitismus kann nach Bajohr also nicht als zentrales
Movens der Judenverfolgung nach 1933 gesehen werden. Zumindest erkläre
er nicht, warum gerade in Deutschland der Holocaust geschehen konnte.Hilfreicher
wäre es allerdings gewesen, hätte Bajohr seine Vergleiche stärker
differenziert. Dass nämlich in Amerika ein Bäder-Antisemitismus
bestand, muss nicht zu den gleichen Schlüssen führen wie die
Existenz eines radikalen Antisemitismus in Österreich und anderen
europäischen Ländern. Schon längst ist in der Forschung
anerkannt, dass der Antisemitismus ein europäisches Phänomen
war. Gerade in den osteuropäischen Ländern konnten die Nationalsozialisten
auf einen radikalen Antisemitismus zurückgreifen, und nicht selten
kamen ihnen Pogrome von Seiten der Bevölkerung in ihren Vernichtungsabsichten
zuvor. Die von Bajohr festgestellte Verbreitung des gesellschaftlichen
Antisemitismus in Europa lässt auch eine andere Schlussfolgerung
zu: Vielleicht erklärt gerade sie, dass der große "Zivilisationsbruch"
stattfinden und der Vernichtungsapparat der Nationalsozialisten in großen
Teilen Europas aufgebaut werden konnte.
Frank Bajohr: "Unser Hotel ist judenfrei."
Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Fischer Taschenbuch
Verlag, Frankfurt / Main 2003, 232 Seiten, 12,90 €.
Text: Frankfurter Rundschau, 4.7.2003
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