Auf dass Altes erneuert und Neues geheiligt
werde
von Rabbiner Michael Goldberger
Der berühmte Meister Awraham Jehoschua Heschel, der
Apter Rebbe, pflegte tagein tagaus seine Anhänger zu beraten. Die
Chassidim schrieben ihre Anliegen auf Zettel, die vom Sekretär des
Ohew Israel, wie der Rebbe liebevoll genannt wurde, in das Studierzimmer
gebracht wurden. Einst fand der Gehilfe seinen Rebben mit strahlendem
Gesicht und glänzenden Augen hinter seinem Tisch. Verwundert fragte
er ihn, worüber er sich derart freue. Der Rebbe deutete auf einen
der zahlreichen Zettel und sagte: "Heute hat mich endlich jemand
gefragt, wie man Gott dienen soll."
Wie gut kann ich dem Apter Rebben nachfühlen, dessen Rat zwar gefragt
war, aber nur selten zu religiösen Angelegenheiten. Als Rabbiner
der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf hatte auch ich mich mehr mit
profanen und politischen Themen zu beschäftigen, als mir lieb war.
Meine meist beachteten Predigten hielt ich anlässlich Gedenkfeiern
in Erinnerung an die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 und nicht
etwa zu religiösen Feiertagen. Prominente Politiker besuchten meine
Synagoge nach antisemitischen Vorfällen, Journalisten interessierten
sich für die neu gegründete Jitzchak-Rabin-Grundschule allenfalls
in Verbindung zum Thema Sicherheit. Mit rabbinischen Themen war ich eher
selten gesegnet. Dieses Vakuum, so beschloss ich, sollte gefüllt
werden. Wann immer ich ein wenig freie Zeit geschenkt bekam, dachte ich
darüber nach, wie ich die ganze Gemeinde mit einer gemeinschaftlichen
religiösen Aktivität begeistern könne. Eines Tages wurde
ich durch das Schrillen meines Telefons aus ziemlich abenteuerlichen und
nicht minder unrealistischen Träumen gerissen. Wieder einmal meldete
sich bei mir jemand, der eine alte Torarolle zum Verkauf feilbot, etwas,
was in meiner zehnjährigen Amtszeit in Düsseldorf etwa ein Dutzend
Mal passierte. Die potentiellen Verkäufer meldeten sich nie mit ihrem
Namen. Sie alle behaupteten, eine alte und sehr wertvolle Tora zu besitzen,
die sie allenfalls einer jüdischen Institution überlassen würden,
je nachdem, ob der Preis stimme. Es gibt in Deutschland diesen abstoßenden
Handel mit jüdischen Schriftrollen, die während der Naziherrschaft
in fremde Hände gelangt waren und nun zu Geld gemacht werden sollten.
Ich erinnere mich an einen Mann, der behauptete, gleich mehrere Torarollen
verkaufen zu wollen. Er zeigte mir Bilder, auf denen zu erkennen war,
wie er zu so vielen Rollen kam. Irgendjemand zerschnitt das Pergament
der Tora und befestigte dann neue Stäbe an die zerstückelten
Teile. Er besaß damit in der Tat "mehrere Rollen". Ich
habe diese widerlichen Versuche, sich durch Diebesgut auch noch zu bereichern,
nie unterstützt. Sie erschütterten mich jeweils aufs Neue und
ich nahm mir immer wieder vor, einst darüber zu schreiben. .Die Überschrift
habe ich schon: "Du hast gemordet und willst auch noch erben?"
(1. Könige 21,19); mit diesen Worten klagte der Prophet Elia die
Königin Isebel an, die ihren Nachbarn ermorden ließ, um an
seine Weinberge zu kommen.) So beendete ich das unerfreuliche Telefongespräch
mit der Aufforderung, die Torarolle unverzüglich einer jüdischen
Gemeinde zukommen zu lassen, wobei mir die Sinnlosigkeit dieses Appells
durchaus bewusst war. Immerhin wurde an jenem Nachmittag eine kühne
Idee geboren: Die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf
kaufen sich gemeinsam eine neue Torarolle. Wenige Wochen später gelangte
ich mit folgendem Schreiben an die 5000 Gemeindemitglieder.
Eine neue Sefer Tora für unsere Gemeinde
Die Tora ist dem Judentum das Heiligste dieser Welt.
Sie umfasst die Fünf Bücher Mose und somit die Schriftliche
Lehre, welche Gott dem jüdischen Volk vor 3500 Jahren am Berge Sinai
offenbarte. Eine Sefer Tora (Torarolle) ist das kostbarste, was ein Jude
oder eine Jüdische Gemeinde besitzen kann.
Das letzte der 613 Gebote der Tora verlangt von jedem Juden, einmal in
seinem Leben eine eigene Sefer Tora zu schreiben. Dieses religiöse
Gebot können nur wenige erfüllen, da jede Rolle von einem dazu
ausgebildeten Schreiber von Hand geschrieben werden muss. Er benutzt dazu
das Pergament eines koscheren Tieres, einen Federkiel und schwarze Tinte.
Um die 248 Kolumnen á 42 Zeilen fehlerfrei und kunstvoll verziert
anzufertigen, benötigt er etwa ein Jahr. Die Weisen lehren, dass
ein integraler Aspekt dieses Gebotes die Verbreitung von Tora ist. So
kam es zu einer jahrhundertealten schönen Tradition: Juden spendeten
das Geld, um eine Torarolle schreiben zu lassen, und schenkten diese dann
ihrer Synagoge.
Eine neue Torarolle kostet allerdings ein kleines Vermögen, welches
sich die wenigsten leisten können.
Nun aber haben auch Sie die vielleicht einmalige Chance, sich an einem
großen Vorhaben zu beteiligen. Mit Ihrer Hilfe wollen wir für
unsere Gemeinde eine neue Sefer Tora schreiben lassen, eine richtige Gemeindetora,
welche allen gehört. Diese Gemeindetora wird in Jerusalem geschrieben,
womit wir auch die prophetische Verheissung erfüllen: "Die Tora
wird von Zion ausgehen und das Wort des Ewigen von Jerusalem." (Jesaja
2:3)
Im September 1998 soll die neue Gemeindetora anlässlich der Jubiläumsfeier
des 40. Jahrestages seit der Einweihung unserer neuen Synagoge feierlich
eingeführt werden.
Und so geht's: Sie können für diesen heiligen und noblen Zweck
eine Spende in beliebiger Höhe leisten. Ein ganzer Vers kostet jeweils
DM 25,-. Sie bekommen dann eine eigens von einem Künstler für
die Jüdische Gemeinde Düsseldorf angefertigte Urkunde. Für
Spenden ab DM 100,- wird die Urkunde namentlich ausgestellt. Auf ihr werden
die Worte der Tora, die in Ihrem Namen oder in Erinnerung an ein freudiges
Ereignis oder an einen verstorbenen Verwandten geschrieben wurden, ausgedruckt.
Sollten Sie einen speziellen Text kaufen wollen, z.B. den Abschnitt Ihrer
Bar-Mizwa, so ist dies ebenfalls möglich.
Ich hoffe von ganzem Herzen, dass jedes einzelne Gemeindemitglied von
diesem Projekt genauso begeistert ist wie der Gemeinderat und der Vorstand,
und dass Sie es großzügig unterstützen werden. Möge
es uns so vergönnt sein, im kommenden Jahr eine neue Torarolle feierlich
einzuweihen.
Die Reaktion der Gemeindemitglieder war überwältigend.
Innerhalb kürzester Zeit hatten wir die erforderliche Summe von über
30.000 Dollar zusammen und ich durfte mir ernsthaft Gedanken darüber
machen, wofür ich das übrige Geld verwenden würde. Das
Rabbinische Gesetz verbietet nämlich, Geldspenden, die für eine
Torarolle gegeben wurden, für einen anderen Zweck zu benutzen. Ich
begann bereits ernsthaft über eine zweite Torarolle nachzudenken,
vielleicht zuhanden einer kleinen jüdischen Gemeinde, die sich eine
eigene Rolle nicht leisten konnte.
Das Projekt "Gemeindetora" muss mich verändert haben. Immer
wieder sprachen mich meine Mitarbeiter an, worüber ich mich ständig
freute. Endlich hatte ich das Gefühl, ich würde mich zusammen
mit meiner Gemeinde mit Gottesdienst beschäftigen. Mehr noch: Meines
Wissens war es das erste Mal überhaupt, dass eine jüdische Gemeinde
nach dem Zweiten Weltkrieg für sich selbst eine eigene Tora schreiben
ließ. Die Torarollen, die für die Gottesdienste verwendet wurden,
waren Leihgaben von Gemeinden außerhalb Deutschlands oder von Privatpersonen.
Ich freute mich bereits auf die Einführung der Torarolle, die zu
einem Spektakel werden sollte. Traditionellerweise wird eine neue Torarolle
unter einem Traubaldachin durch die Straßen getragen und von Musik
und Tanz begleitet in die Synagoge gebracht. Die ganze Gemeinde sollte
natürlich anwesend sein, dazu die Würdenträger der Stadt
und des Landes. Ich wurde sogar so verwegen, den amtierenden aschkenasischen
Oberrabbiner Israels, Meir Lau, als Festredner einzuladen. Das Unheimliche
an dieser Idee: Er sagte zu! Voller Freude machte ich mich mit meinen
Mitarbeitern daran, ein Programm für die feierliche Einführung
zu entwerfen. Wir wollten einen Kantor und einen Synagogenchor, den Schreiber
der Torarolle, der in der Synagoge die letzten Buchstaben in die Rolle
malen sollte, und noch vieles mehr. Entscheidend aber war das Datum. Wir
bestimmten den 8. November 1998 und hatten damit folgendes Szenario im
Sinn. Am 9. November würden die deutschen Fernsehsender nicht nur
über die 50. Wiederkehr der Reichspogromnacht berichten, und damit
über Synagogen, die während der Nazizeit von Verbrecherhand
gebrandschatzt wurden, sondern auch über die Düsseldorfer Gemeinde,
deren Mitgliederzahl innerhalb von knapp zehn Jahren durch den Zuzug von
Juden aus der ehemaligen Sowjetunion sprunghaft von rund 1500 auf weit
über 6000 gestiegen ist. Die Zeitungen würden nicht nur über
zerstörte Gemeinden schreiben, sondern über eine aufstrebende
jüdische Gemeinschaft in Düsseldorf, die lebt und in die Zukunft
investiert und durch die Einführung einer neuen Torarolle beweist,
dass deren Mitglieder nicht zufällig in Deutschland gestrandet oder
steckengeblieben sind, sondern dort ein religiöses jüdisches
Leben aufbauen wollen.
Die Vorbereitung auf die Feier geriet immer mehr auch zu einer zentralen
Erfahrung in meiner persönlichen Biographie. Meine Mutter überlebte
als einzige ihrer Familie die Vernichtungsmaschinerie der Nazis, überlebte
gar Auschwitz und konnte sich mit meinem Entschluss, als Rabbiner gerade
in Deutschland zu amtieren, nie richtig anfreunden. Die Einführung
einer neuen Torarolle in meiner Gemeinde würde sie wohl versöhnlich
stimmen. Noch war kaum ein Drittel der 248 Kolumnen der neuen Torarolle
geschrieben, da stellte sich immer deutlicher heraus, dass das Projekt
einer neuen Tora für die Jüdische Gemeinde Düsseldorf das
Potential besaß, Wunden zu heilen und Zukunft zu gestalten. Dabei
sollte uns die grösste Überraschung erst noch bevorstehen.
Per E-Mail meldete sich eines Tages ein uns unbekannter
Mann namens Avrum Goodblatt aus Boston mit einer schier unglaublichen
Geschichte. Er bot uns eine alte Torarolle an, die vor dem Krieg Eigentum
der Jüdischen Gemeinde in Wuppertal war und auf zahlreichen Umwegen
in seinen Besitz gelangte. Als einzige Gegenleistung erwartete er eine
Bestätigung über seine Spende, die ihm in Amerika eine geringfügige
Steuerreduktion einbrächte. Meine Adresse erhielt er von meinem Lehrer
und Mentor, Rabbiner Professor Zalman Schachter. Ihm erzählte er
während einer zufälligen Begegnung im Flugzeug, dass er im Besitze
einer alten Torarolle aus Deutschland sei und beabsichtige, diese der
Forschungs- und Gedenkstätte zum Holocaust in Israel, Jad Waschem,
zu vermachen. Reb Zalman, wie mein Rabbiner von seinen Schülern und
Anhängern liebevoll genannt wird, selber Überlebender der Schoa,
gab Avrum Goodblatt zu bedenken, dass jene Torarolle, wie Hunderte andere
wieder aufgetauchte Torarollen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, in
der Versenkung einer der Archive von Jad Waschem verschwinden würde.
Eine Torarolle habe aber das Recht, wieder an ihren ursprünglichen
Ort zurückgebracht zu werden, entsprechend dem biblischen Prinzip,
dass die Krone wieder in ihren früheren Stand eingesetzt werden soll.
Die einzige in Deutschland wohnhafte Person, deren Adresse Reb Zalman
angeben konnte, war ich. So gelangte Avrum Goodblatt zu mir. Nachdem der
Vorstand der Jüdischen Gemeinde Wuppertal mir gegenüber versichert
hatte, dass er derzeit keine Verwendung für eine alte Torarolle hätte,
die nicht mehr in einem perfekten Zustand war und deswegen für den
Gottesdienst nicht benutzt werden konnte, begann ich, mich mit Avrum Goodblatts
Offerte zu beschäftigen. Mir eröffnete sich dabei einer der
ergreifendsten Geschichten, deren indirekter Zeuge ich während meiner
zehnjährigen Amtszeit in Düsseldorf werden durfte.
Als im November des Jahres 1938 die Synagogen in Deutschland
brannten, wurden mit ihnen alle heiligen Gegenstände zerstört.
Mancherorts gelangten jedoch Torarollen in die Hände von nichtjüdischen
Deutschen. Sie wurden von ihnen entweder geraubt, gerettet oder gar Gemeindemitgliedern
anvertraut. Einige dieser Torarollen sind später wieder aufgetaucht.
Sie werden, wie wir gesehen haben, zuweilen jüdischen Institutionen
anonym zu horrenden Preisen zum Kauf angeboten oder an Museen verschenkt.
Eine besonders wertvolle Torarolle wurde während der Reichspogromnacht
von christlichen Nachbarn aus der brennenden Synagoge in Wuppertal gerettet.
Sie vergruben sie zusammen mit dem Vorhang des Toraschreins in der Absicht,
sie zu einem späteren Zeitpunkt dem ursprünglichen Besitzer
zurückzugeben. Niemand konnte damals ahnen, dass in dieser Nacht
nicht nur die Synagogen brannten, sondern dass dies der blutige Auftakt
zur völligen Zerstörung der Jüdischen Gemeinschaft in Wuppertal
mit seinen 2500 Juden sein würde.
Im Herbst 1945 gründete Gustav Brück die neue jüdische
Gemeinde Wuppertal. Sie bestand aus etwa 150 Juden, die nach Wuppertal
zurückgekehrt sind. Einer der ersten unter ihnen war ein ehemaliger
Wuppertaler namens Hermann Levy, wohnhaft in Elberfeld. Er war in den
Besitz der geretteten Torarolle gelangt, wobei sich nicht mehr genau nachvollziehen
lässt, auf welche Weise. Es lässt sich nur vermuten, dass diejenigen
Personen, welche die Torarolle Jahre zuvor gerettet und behütet hatten,
ihm diese übergeben haben. Hermann Levy war Überlebender eines
Lagers und kam nach der Befreiung in der Hoffnung nach Wuppertal, dort
Mitglieder seiner Familie zu finden. Auf alle Fälle bot er die ihm
übertragene Torarolle aus heute unbekannten Gründen in einer
Zeitung zum Verkauf an. Die Annonce wurde von einem Rechtsanwalt in Nürnberg
gelesen, der sich an den einzigen Juden wandte, der ihm persönlich
bekannt war: Chaplain Pincus L. Goodblatt aus Cleveland, der als Militärrabbiner
der US-Armee in Fürth stationiert war. Rabbiner Goodblatt entschloss
sich, die Torarolle für seine Gemeinde in Cleveland zu erstehen.
Der Kaufpreis betrug 500,- DM, die in drei Raten überwiesen wurden.
Am 25. Juni 1955 bestätigte Hermann Levy den Eingang des letzten
Teilbetrages und teilte Rabbiner Goodblatt mit, dass er die Tora zusammen
mit einigen Büchern, einer Ester-Rolle und Gebetsriemen nach Fürth
geschickt habe. Als Rabbiner Goodblatt die Torarolle öffnete, fand
er sie voller Erde. Die Schrift war verblasst, womit sie aus religiöser
Hinsicht unbrauchbar wurde. Aus einer Torarolle darf nur dann vorgetragen
werden, wenn sie völlig fehlerfrei ist. Bei seiner Rückkehr
aus Deutschland nahm er sie dennoch mit nach Cleveland. Ein Toraschreiber
restaurierte die alte Rolle, indem er jeden einzelnen verblichenen oder
abgeblätterten Buchstaben nachmalte. Die Tora wurde über viele
Jahre in verschiedenen jüdischen Kleingemeinden in Amerika benutzt.
Als die Schrift erneut verblasste, nahm sie Rabbiner Goodblatt wieder
zu sich und vererbte sie schließlich seinem Sohn Avrum. Dieser ließ
sie mehrfach von Experten prüfen. Die Schrift war jedoch endgültig
nicht mehr reparabel. So deponierte er sie im Safe eines Toraschreibers
in Jerusalem. Von dort hätte sie dann eigentlich nach Jad Waschem
gebracht werden sollen. Auf dem Weg nach Jerusalem jedoch traf Avrum Goodblatt
Reb Zalman, der für die alte Wuppertaler Tora etwas anderes vorschlug.
Und so kam es dazu, dass ich im Sommer 1998 nach Jerusalem flog, um von
der Heiligen Stadt, von der die Lehre und Gottes Wort ausgeht, zwei Torarollen
abzuholen. Eine alte Tora, die nie wieder in einem Gottesdienst Verwendung
finden würde und auch bloß einen minimalen antiquarischen Wert
darstellte, deren ideeller Wert jedoch ungleich höher war und deren
Rückkehr nach Deutschland ein noch wertvolleres Symbol darstellte,
und eine neue Tora, welche die Mitglieder einer sich erneuernden jüdischen
Gemeinde in Deutschland sich selbst und ihrer neuen Heimatstadt Düsseldorf
zum Geschenk machten.
Wie bereits erwähnt, wird eine neue Torarolle unter
einem Traubaldachin durch die Straßen getragen und erst dann in
die Synagoge gebracht. Dort wird sie von zwei anderen Torarollen empfangen,
die zu diesem Zweck aus dem Toraschrein genommen werden und von den ältesten
Gemeindemitgliedern gehalten werden. Wir entschlossen uns, diese alte
Tradition weiter zu entwickeln. In unserem Fall sollten drei Torarollen
die neue Gemeindetora in die Synagoge geleiten, zwei aus dem Toraschrein
und die Wuppertaler Tora. Alt und neu würden sich so begegnen. Die
Verbindung von alt und neu - über die Zerstörung hinweg - würde
deutlich machen, dass das Alte, obwohl verblasst und zerstört, die
Wurzel des jüdischen Lebens ist und bleibt und dass sich dieses jüdische
Leben auch in Deutschland neu entwickelt. Das jüdische Leben ist
kein Museum, sondern eine lebendige Tradition bis heute.
Die Einweihungszeremonie wurde zu einem wahren Fest. Sie fand wie geplant
am 8. November 1998 in der Synagoge zu Düsseldorf statt, fast auf
den Tag genau 40 Jahre, nachdem diese eingeweiht worden war. Es schien,
als ginge eine 40-jährige Wüstenwanderung zu Ende. Die Düsseldorfer
Gemeinde brach zu neuen Ufern auf. Eines ihrer Mitglieder drückte
anschließend seine Gefühle so aus:
Danke, danke, danke!
In erster Linie Gott, dass er mir geholfen hat, die schweren Zeiten unter
der Schoa zu überleben, und dass ich in meinem Leben diese wunderschöne
Thoraeinweihung erleben konnte. Das Aufleben des Judentums in Deutschland
ist ein Beweis dafür, dass wir es richtig gemacht haben, hier neu
anzufangen, und jüdisches Leben und unsere Tradition zum Blühen
gebracht wurden - trotz mancher Kritik, wieso Juden in Deutschland leben.
Das ist der Beweis, warum Juden in Deutschland leben: um das Judentum
hier nicht zum Erlöschen zu bringen, wie Hitler es vorhatte, sondern
um zu zeigen, dass unsere Religion durch unseren Willen nie untergehen
wird und wir immer ein Beispiel für unsere Kinder und Enkel sein
werden und stolz darauf bleiben, dass wir Juden sind.
Es ist üblich, dass bei der Einweihung einer Torarolle
einige Verse aus ihr vorgelesen werden. Gewöhnlich wählt man
den letzten Abschnitt der Bibel. Diese Stelle, die vom Tod Moses handelt,
schien mir für diese Gelegenheit denkbar ungeeignet, so dass wir
uns entschlossen, stattdessen folgende Verse aus dem 5. Buch Mose vorzutragen:
Ihr alle steht heute vor dem Ewigen eurem Gott, die
Häupter eurer Stämme, eure Ältesten und eure Beamten, ganz
Israel. Eure Kinder, eure Frauen und die Gäste, die mit dir wohnen,
von deinem Holzhacker bis zu deinem Wasserschöpfer, damit du in den
Bund des Ewigen, deines Gottes und in den Eid, den der Ewige dein Gott
heute mit dir besiegelt, eintrittst. Auf dass er dich heute zum Volk aufrichte
und dir zum Gott wird, wie es deinen Urvätern Abraham, Isaak und
Jakob verheißen wurde. Aber nicht mit euch alleine schließe
ich diesen Bund und Eid, sondern sowohl mit denjenigen, die hier heute
mit uns vor dem Ewigen unserem Gott sind, als auch mit denen, die heute
hier nicht mit uns sind (5. Mose 29,9-15).
Die Einführung der neuen Torarolle wurde zu einem
überwältigenden Fest, das am Tag darauf einen weiteren Höhepunkt
erfuhr. Zahlreiche Fernsehstationen zeigten die Bilder von Menschen, die
in der Düsseldorfer Synagoge ausgelassen mit ihren alten und neuen
Torarollen tanzten. Der Tag wurde zu einem wahren Simchat Tora, einem
Torafreudenfest, wobei es für einmal keine Rolle spielte, dass die
eine Tora technisch unbrauchbar war, die andere gerade neu fertiggestellt
und in einem perfekten Zustand. Im Gegenteil: Mir schien, dass die neue
Tora angesichts ihrer alten Schwester erst richtig glänzte.
Die Geschichte der alten Wuppertaler Tora, die genau 60
Jahre nach der Reichspogromnacht symbolisch eine neue Torarolle der Düsseldorfer
Gemeinde empfing, erhielt vier Jahre später noch ein Postskriptum.
Der Vorstand der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf schenkte der
Jüdischen Kultusgemeinde Wuppertal zur Einweihung ihrer neuen Synagoge
die alte Wuppertaler Tora. Sie ist jetzt eingehüllt in einen Mantel,
in den der Name des mittlerweile verstorbenen Militärrabbiners Pincus
L. Goodblatt eingewoben wurde. Das Licht, welches in dieser Tora verborgen
ist, leuchtet nun von dort, für den sie ursprünglich geschrieben
wurde. Es konnte auch in der dunkelsten Episode jüdischer Geschichte
nicht ausgelöscht, sondern nur verborgen werden. Nun erwärmt
es wieder Herzen und leuchtet über alle Grenzen hinweg.
aus: Emporfliegende Buchstaben. Das Zeugnis der Tora im
Nationalsozialismus und die Suche nach einem europäischen Gewissen.
Ein Arbeitsbuch für Schule und Gemeinde mit Dias, Folien und Texten
zum Vorlesen, Erev-Rav
Verlag 2003, ISBN 3-932810-20-1
zur Titelseite
zum Seitenanfang
|
|