In einer fremden Welt
Wie die Organisation "Hillel" Ultraorthodoxen beim Ausstieg
hilft
von Ayala Goldmann
Es ist ihm heute nicht mehr anzusehen, aber Asaph Philipp
war einmal Lehrer in einem ultraorthodoxen Cheder. Die Pejes hat er sich
vor drei Jahren abgeschnitten, die klassische schwarze Tracht in die Ecke
geworfen. Heute trägt Asaph Jeans und einen Ohrring und bereitet
sich auf sein Abitur vor. Unterstützt bei seiner Entscheidung hat
ihn Hillel. Die Organisation mit Zweigstellen in Jerusalem und Tel Aviv
hilft Haredim, die aus ihrem Milieu ausbrechen möchten, aber nicht
wissen, wie.
Beim Jahrestreffen der Ex-Haredim in Tel Aviv erzählt
der junge Mann von seinen ersten Schritten in der säkularen Welt
- und muß im Nachhinein über sich selbst lachen. "Mein
Bruder und ich haben die Religion beide gleichzeitig verlassen, doch wir
wußten das nicht voneinander. Bis einmal der eine den anderen am
Schabbat gefragt hat, ob er mit zum Strand fahren wolle. Und dann sind
wir gefahren, es war das erste Mal, daß wir am Schabbat Auto gefahren
sind. Das war wirklich beängstigend. Weil wir sicher waren, daß
uns gleich zu Beginn ein Lastwagen überfahren würde, als Strafe."
Bis dahin war Asaphs Leben in geordneten und vorbestimmten
Bahnen verlaufen. Er wuchs in Petach Tikwa auf, studierte in mehreren
Jeschiwot der Litauer, wurde Lehrer für Vorschüler in einem
Cheder. Seine spätere Frau lernte er wie jeder gute ultraorthodoxe
Junge über einen Heiratsvermittler kennen. Ein Jahr nach der Hochzeit
kam das erste Kind. Aber die Ehe war nicht glücklich. "Vor der
Hochzeit haben wir uns nur einmal wenige Stunden lang gesehen. Auf so
einer Basis kann man keine Entscheidung fällen. Aber als ich mich
scheiden lassen wollte, hat man mir gesagt: 'Dann kannst du nicht weiter
unterrichten.' Die ultraorthodoxe Gemeinschaft verdammt Menschen, die
sich scheiden lassen. Und deshalb leiden die Leute lieber jahrelang, als
diese schreckliche gesellschaftliche Demütigung zu erdulden",
sagt der Achtundzwanzigjährige. Er ging den schweren Weg trotzdem,
ließ sich sogar zur Armee einziehen und zog damit den Schlußstrich
unter sein Leben als Haredi.
Geschichten wie die von Asaph hört Rina Ofir fast
jeden Tag. Die Fünfundvierzigjährige ist Leiterin der telefonischen
Hotline von Hillel in Jerusalem. Die Organisation residiert in einer geräumigen
Wohnung im Stadtzentrum. An der Tür steht kein Name. Manchmal finden
die Aussteiger hier eine erste Zuflucht. Sie sollen geschützt bleiben.
Nicht, daß es je ernsthafte Drohungen von ultraorthodoxer Seite
gegeben hat. "Sie wünschen uns regelmäßig am Telefon
in die Hölle. Na gut, damit kann ich leben", erzählt Rina
Ofir.
Hillel wurde vor elf Jahren von Aussteigern gegründet.
Alle Mitarbeiter der Organisation sind Freiwillige. Vom Staat gibt es
keine Unterstützung. Mittlerweile schaltet die Organisation Werbespots
im Rundfunk, um auf ihre Arbeit aufmerksam zu machen. In Jerusalem und
Tel Aviv, sagt Rina Ofir, rufen jeden Monat jeweils etwa sechzig Hilfesuchende
an. "Wenn der Anrufer will, vereinbaren wir ein Treffen und sprechen
mit ihm offen über den schweren Weg, den er vor sich hat. Viele ultraorthodoxe
Eltern brechen den Kontakt völlig ab oder machen ihren Kindern Schuldgefühle.
Die Aussteiger verlassen ihre Freunde, ihr Studium, ihre gesamte Umgebung."
Racheli und Chaim Meier können davon ein Lied singen.
Rachelis Eltern sind Chabadniks, die Eltern ihres Mannes Litauer. Das
junge Paar hat sich bei einem Treffen von Hillel kennengelernt. Die vierundzwanzigjährige
Racheli, eine lebhafte junge Frau, studiert inzwischen Religionsgeschichte.
Dank geschickter Taktik hat sie es geschafft, den Kontakt zum Elternhaus
nicht abreißen zu lassen. "Am Anfang war es mit der Familie
sehr schwierig. Aber wir sind ihnen ein großes Stück entgegengekommen:
Wir haben ihnen erlaubt, die Hochzeit zu organisieren. Frauen und Männer
getrennt - wir haben dort ziemliches Theater gespielt. Und deshalb hat
sich die Beziehung zu meiner Familie normalisiert." Ihr Mann hat
es schwerer - für seine Eltern ist er ein verlorener Sohn. "Sie
akzeptieren uns überhaupt nicht. Wir haben sie öfters am Schabbat
besucht und uns extra für sie verkleidet. Ich bin im schwarzen Anzug
und mit Kippa erschienen. Aber sie achten uns nicht und behandeln uns
nicht freundlich. Also haben wir beschlossen, sie nicht mehr zu besuchen."
Viele Aussteiger brauchen aber nicht nur moralische Unterstützung,
sondern Hilfe bei ganz alltäglichen Dingen. "Im weltlichen Israel
sind sie wie Neueinwanderer", sagt Rina Ofir. Wie schreibt man einen
Lebenslauf, wie eröffnet man ein Konto, wie führt man einen
Haushalt? Hilflos stehen die Aussteiger vor diesen Fragen - das gilt vor
allem für die Männer. Orthodoxe Frauen, sagt Rina Ofir, finden
sich im weltlichen Leben besser zurecht. "Die meisten frommen jungen
Männer haben ein großes Problem auf dem Arbeitsmarkt. Sie haben
von nichts eine Ahnung. Sie sind großartig darin, Gemara zu lernen
- und das war es. Manche Aussteiger kennen nicht einmal den Unterschied
zwischen einem Supermarkt, einer Apotheke und einer Bank."
Asaph Phillipp hat das am eigenen Leib erfahren. Der ehemalige
Lehrer ist jetzt achtundzwanzig. Er möchte gerne studieren - aber
zuerst muß er sein Abitur nachmachen. Was ihn am meisten bekümmert,
ist die Erziehung, die sein inzwischen sechseinhalbjähriger Sohn
bekommt, der weiter bei der Mutter im Haredi-Milieu lebt. "Er studiert
nur Gemara, also Talmud", sagt Asaph. "Vielleicht wird man davon
klug, aber man lernt nichts. Ich habe kein Problem damit, daß mein
Sohn religiös ist. Ich habe keinen Problem mit dem Glauben. Aber
ich habe ein großes Problem damit, daß mein Sohn sehr, sehr
viel lernt - und am Ende wird er nichts wissen. Und ich möchte nicht,
daß mein Sohn das durchmachen muß, was ich im Alter von achtundzwanzig
durchmache."
Jüdische Allgemeine, 23. Oktober 2003
zur Titelseite
zum Seitenanfang
|
|