Die Debatte ist ein Teil des Denkmals
Ein Gespräch mit Wolfgang Thierse


Frankfurter Rundschau: Herr Thierse, das Holocaust-Mahnmal wird weitergebaut, mit Beteiligung der Firma Degussa. Hätte man sich die Debatte nicht ersparen können?

Wolfgang Thierse: Ich glaube nicht. Denn zu keinem Zeitpunkt zuvor hat irgendjemand in der Öffentlichkeit oder im Kuratorium verlangt, dass irgendeine Firma vom Bau des Mahnmals ausgeschlossen wird. Erst jetzt an diesem konkreten Punkt, nämlich der Beteiligung der Firma Degussa, ist die ganze Problematik sichtbar geworden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man diese Debatte irgendwie hätte ersticken können.

Der Architekt Peter Eisenman hat angesichts der neuerlichen Debatte davon gesprochen, man dürfe sich nicht zum Gefangenen der "political correctness" machen. Ist da was dran?

Ein amerikanischer Jude ist freier, so etwas zu sagen, als wir. Was ich jetzt sage, das sage ich ohne Klage: Wir Deutschen haben schon die Pflicht, auf eine besonders sorgsame, ernsthafte Weise mit der Gegenwart der Vergangenheit umzugehen. Wir können uns nicht hemdsärmelig dazu verhalten.

Die Debatte hat aber auch ihren Preis: Es gibt Leute die weniger feinsinnig denken als Sie. Die sagen: "Wir können es nicht mehr hören."

Das ist so. Damit werden wir leben müssen. Diese Stimmen - "Lasst die Vergangenheit ruhen" - hat es immer gegeben, praktisch von 1945 an. Aber: Es gehört zur "raison d'etre" (Selbstverständnis) dieser gelungenen deutschen Demokratie, dass die Erinnerung an den Holocaust existent und Verpflichtung aller Demokraten bleibt. Da wird auch jede neue Generation ihre neuen Formen finden müssen. Insofern ist das Holocaust-Mahnmal nur ein Versuch, beileibe nicht der einzige, geschichtliches Wissen und emphatisches Erinnern weiterzugeben. Ob das dauerhaft gelingt, das können wir heute nicht wissen.

Und Sie haben keine Angst, dass die Leute der Debatten müde werden?

Nicht, wenn wir die Debatten so führen, dass sie nicht mit moralischen Schuldzuweisungen verbunden sind. Es ist doch grundfalsch, den nachfolgenden Generationen ein schlechtes Gewissen machen zu wollen. Erinnerung an ein kollektives Verbrechen hat nur dann einen Sinn, wenn sie eine Mahnung für die Gegenwart ist.

Was bedeutet es, dass sich die Opfer mit dem Mahnmal nicht identifizieren können?

Da muss ich Ihnen in Ihrer Wahrnehmung widersprechen. Es gibt zumindest unterschiedliche Positionen. Ich sehe, dass es Vertreter der Jüdischen Gemeinde gibt, die über die emotionale Barriere, die sich mit der Chiffre Zyklon B verbindet, nicht hinwegkönnen. Aber es gibt auch andere Vertreter der Jüdischen Gemeinde, die andere Positionen vertreten. Mit diesen unterschiedlichen Meinungen müssen wir leben. Ich erinnere im Übrigen daran, dass es von Anfang an wichtige Stimmen aus der Jüdischen Gemeinde gab, die gegen dieses Mahnmal waren. Denken Sie nur an das Wort von Ignatz Bubis: "Wir Juden brauchen dieses Mahnmal nicht." Was heißt das? Das heißt: Wir Deutschen bauen dieses Denkmal in Erinnerung an die Opfer - aber als Mahnung für uns und unsere Zukunft.

Kann man ein solches Mahnmal überhaupt gegen die Emotionen der Opfer bauen?

Wir sollten vor ihnen unbedingt Respekt haben. Ich glaube aber, es würde der jüdischen Gemeinschaft in unserem Land nicht gut tun, wenn wir sie in eine moralische Vetoposition drängen würden. Das will sie auch nicht. Salomon Korn, der Vizepräsident des Zentralrats der Juden, hat gesagt, man soll vom Zentralrat nicht verlangen, dass er die Institution der Moral in Deutschland schlechthin ist. Die jüdische Gemeinschaft ist Teil dieser deutschen Gesellschaft. Ihr Wort hat Gewicht, es hat sogar besonderes Gewicht, wenn es ums Erinnern und Gedenken geht. Aber es ist nicht die Position eines Vetos. Das hat sie nicht verlangt, und das sollten wir ihr auch nicht aufdrängen wollen.

Sind nun alle Klippen umschifft?

Nein, das glaube ich nicht. Diese Diskussion ist ausdrücklich ein Teil des Denkmalprojekts geworden. Es ging nicht um absolut gut oder absolut böse, sondern um das moralisch und politisch etwas konsequentere. Wenn es moralisch eindeutig klar gewesen wäre, dass man sich nur für einen Ausschluss von Degussa hätte entscheiden können - dann hätten wir im Stiftungskuratorium diese Entscheidung getroffen, egal, wie viel das gekostet hätte. Aber in dem Moment, wo man weiß, dieses Denkmal ist schon "unheilbar kontaminiert", dann geht es nur noch um die Frage: Das Denkmal ganz oder gar nicht. Ein bisschen Degussa, ein bisschen Bayer AG darf sein, aber alles andere nicht - das hätte ich weder politisch noch intellektuell noch moralisch für vertretbar gehalten.

Hat der Fall Hohmann, der Antisemitismus-Streit in der Union, die Debatte über Degussa und das Holocaust-Mahnmal beeinflusst?

Ich glaube nicht. Natürlich macht der Fall Hohmann betroffen. Ich bin froh über die Entscheidung der CDU/CSU-Fraktion. Aber wir wissen doch, dass es einen Anteil von etwa 10 Prozent der Bevölkerung gibt, der mehr oder weniger antisemitische oder rassistische Vorstellungen hat. Diese menschenverachtenden Mentalitäten entstehen sich immer neu. Martin Hohmann ist zu einer Personifizierung dieses Milieus geworden. Aber es ist gut, dass sich diese Gesellschaft immer noch darüber erregt. Wir dürfen moralisch nicht müde werden.

Hohmann bekommt jede Menge Solidaritätsbekundungen. Zeigt sich darin nicht, wie sehr sich die politischen Eliten von der Stimmung an der Basis entfernt haben?

Soll die Politik dieser Stimmung etwa nach dem Munde reden? Die Stimmung aufnehmen und zum Gegenstand der Politik machen? Das wäre höchst riskant, weil es sie bestärkt. Nein, ich sage, das Gegenteil ist notwendig.

Aber an den Stammtischen heißt es jetzt wieder "die Juden bestimmen alles", wie begegnet man diesem antisemitischen Klischee?

Wir dürfen uns davon nicht beirren lassen. Oder sollen wir anfangen zu schweigen, weil wir Angst haben, dass die antisemitische Suppe in unserem Land hochkocht?

Kann eine Gesellschaft auf Dauer auf ein positives Nationalgefühl verzichten, und sich für seine Identität nur auf die Geschichte berufen und die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus?

Natürlich brauchen wir ein positives Nationalgefühl. Es ist auch möglich, dieses zu entwickeln. Aber vernünftigerweise schließt dies die eigene Geschichte ein. Kollektive nationale Identität gibt es nicht ohne Geschichte. Sie ist eine Summe gemeinschaftlicher Erfahrungen aus Geschichte, Kultur und Sprache.

Was ist dann die positive deutsche Identität?

Dafür ist es sinnvoll, daran zu erinnern, was positive geschichtliche Erinnerungen sein können. Das Besondere unserer Identität, in der Mitte des europäischen Kontinents, macht aus, dass wir es in den glücklichen Phasen unserer Geschichte immer vermocht haben, unterschiedlichste Einflüsse von Nord und Süd, von Ost und West aufzunehmen und daraus das zu machen, was unsere Kultur ist. Daraus kann man Selbstbewusstsein gewinnen. In den entsetzlichen Zeiten der Geschichte aber war das Kollektiv namens Deutsche damit beschäftigt, abzustoßen, abzuwehren. Das haben unsere Nachbarn bitter bezahlen müssen, aber am Ende auch wir selber.

Identität braucht Symbole, das Holocaust-Mahnmal ist ein Symbol für eine entsetzliche Periode der deutschen Geschichte. Wie aber schafft man ein positives nationales Symbol?

Ein einziges Symbol muss man dafür ja nicht schaffen, wir müssen dafür mehrere Symbole finden. Wie wir selber, wie unsere parlamentarische Demokratie mit Geschichte umgeht, daraus kann sich ein positives Symbol für nationale Identität entwickeln. Selbst der Streit um das Holocaust-Mahnmal kann ein Teil davon sein. Wir tun das fair miteinander, mit Respekt vor unterschiedlichen Positionen und ohne moralische Scharfrichterpositionen. Das ist eine große Leistung.

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse ist Vorsitzender des Kuratoriums für das Holocaust-Mahnmal
Frankfurter Rundschau, 15.11.2003

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