Nah dran und doch weit weg
Der Nahost-Konflikt spaltet bisweilen die Jüdische Oberschule in Berlin
Von Jeannette Goddar

Miriam war 17, als ihr eine Lektion erteilt wurde, die keine Schule auf der Welt ihr jemals hätte vermitteln können. Im Sommer 2001 hatte sie sich vorzeitig zum Dienstantritt bei der israelischen Armee gemeldet. Aus Prinzip, weil sie als überzeugte Israelin auch die Verteidigung des Landes als ihre Aufgabe ansieht, aber auch, weil sie glaubte, mehr Mitspracherecht bei der Gestaltung ihrer Armeezeit zu haben, wenn sie sich freiwillig meldet. Also verlängerte sie nach der 11. Klasse ihre Sommerferien und flog für vier Monate nach Israel.

Dort angekommen, schickte man sie nach einem gründlichen Check-up in eine Combat Unit, eine im Westjordanland stationierte Kampfeinheit. In ihren ersten Monaten als Soldatin erlebte sie, was in Israel fast Alltag ist. Sie verlor Freunde, die kurz nachdem sie sie beim Wachwechsel verlassen hatte, einem Handgranatenanschlag zum Opfer fielen. Sie räumte nach einem palästinensischen Selbstmordanschlag die Leichen weg, übergab sich anschließend, heulte die halbe Nacht und erschien trotzdem am nächsten Morgen wieder zum Dienst an der Waffe.

Nach vier Monaten kam sie zurück nach Berlin und ging zurück in ihre Klasse. Zurück auf die Schulbank, zurück zu den Mitschülern, die ganz normal weitergelebt hatten. "Das war eine harte Zeit", sagt sie heute, "ich fand, dass ich erwachsen geworden war, hatte keine Lust mehr, mir von meinen Lehrern überall reinreden zu lassen." Und vor allem: "Plötzlich saß ich wieder im Politik-Unterricht und sollte mir etwas über den Nahost-Konflikt erzählen und mich dafür benoten lassen."
Die heute 19-Jährige, die in Israel, Köln und Berlin groß geworden ist, hatte das Glück, eine Schule zu besuchen, auf der man dem Erlebten immerhin mehr Verständnis entgegenbrachte als anderswo: Bis sie im Juli Abitur machte, war sie eine von etwa 300 Schülern der Jüdischen Oberschule in Berlin-Mitte. Die Schule ist die einzige jüdische Privatschule in Deutschland, an der man sein Abitur ablegen kann. Besucht wird sie etwa zur Hälfte von jüdischen und nichtjüdischen Schülern; unter den jüdischen sind viele russischstämmige Schüler, aber auch viele mit israelischer Staatsbürgerschaft, die sämtlich eine dreijährige Armeezeit absolvieren müssen.

An diesem Sonntag begeht die Jüdische Oberschule in der Großen Hamburger Straße ihr zehnjähriges Bestehen. Es wird ein großes Fest geben, mit vielen Gästen und mit Sicherheit, so ist das bei jüdischen Festen in Deutschland, werden sich auch ein paar deutsche Politiker nicht nehmen lassen, vorbeizuschauen. Die Gäste werden kommen und feststellen, dass zumindest hier, in ein paar Straßen jener Gegend, die bis 1933 das Zentrum des jüdischen Berlins bildete, jüdisches Leben wieder sichtbar Einzug gehalten hat. Ganz in der Nähe stehen ein jüdisches Altersheim sowie ein jüdisches Krankenhaus. Geschäfte und Restaurants bieten koschere Küche an; auch die große Synagoge ist nicht weit.

Dennoch führt der erste Gedanke, den der Besucher beim Anblick der Schule hat, wieder weit weg von Normalität: Hier zur Schule gehen, das muss man wirklich wollen. Ein meterhoher Metallzaun trennt das Gelände von der Straße. Vor dem schweren Tor wacht die Polizei; hinter dem Tor israelische Sicherheitsbeamte, die jeden, den sie nicht kennen, gründlich durchsuchen. Auch zum Sportunterricht ein paar Straßen weiter gehen die Schüler nur in Begleitung der Sicherheitsleute.

Das ist der Normalzustand. Erhöhte Alarmbereitschaft besteht immer dann, wenn im Nahen Osten etwas passiert oder Al Qaeda sich tatsächlich oder vermeintlich zu Wort meldet oder ein israelischer Geheimdienst Hinweise auf Anschläge hat. Dann werden falsch geparkte Autos vor der Tür auch schon mal abgeschleppt; die Handfeuerwaffen gegen Maschinenpistolen getauscht. Auch Evakuierungen hat es schon gegeben.

Damit kein Chaos ausbricht, wird der Ernstfall regelmäßig geprobt. Ausgerechnet einen Tag vor dem Einmarsch der US-Truppen im Irak schrillte das Terroralarm-Signal durch das Gebäude. In Sekundenschnelle öffneten die Schüler die Fenster, schlossen die Türen und duckten sich unter ihren Tischen. Sicherheitsbeamte donnerten gegen die Türen. Ein Lehrer öffnete, obwohl er das nur nach Nennung eines Codewortes darf und wurde abgemahnt.

Merkwürdigerweise scheint das Entsetzen über die Sicherheitsvorkehrungen ein den Besuchern vorbehaltenes Phänomen zu sein. Hinter dem Zaun trifft man auf eine fast idyllische Atmosphäre. Der altehrwürdige Bau ist in warmes Licht gehüllt und mit zahllosen Schautafeln der vergangenen Reisen und Projekttage geschmückt. Schülerclub wie Bibliothek, Computer- und Kunsträume werden liebevoll gepflegt und betreut. Im Speisesaal grüßen sich alle freundlich. Jeder kennt jeden; niemand macht den Eindruck, sich von dem Drumherum beeindrucken zu lassen. "Völlig normal" sei die Bewachung, sagt Rafael. "Wir nehmen das gar nicht mehr wahr", sagt Claudia. Miriam findet es "sehr beruhigend, dass wir so gut geschützt werden". Anstrengend finden viele vielmehr, dass der Nahost-Konflikt auch im Unterricht ständig präsent ist. Dass das in einer Schule, in der jeder Zweite Verwandte in Israel hat, so ist, kann kaum überraschen. Dass die meisten dazu neigen, die größere Schuld am Nicht-Zustandekommen eines Friedens den Palästinensern zuzuschreiben, ist auch wenig verwunderlich.

Tatsächlich aber ist der Nahost-Konflikt zuweilen kurz davor, die Schule zu spalten. Das mag daran liegen, dass jeder Anschlag in Haifa oder Netanja sich unmittelbar auf die Gefährdungslage der Schule auswirkt. Das liegt aber auch daran, dass auch hier die Fronten verhärtet sind. Da kommen die einen schon mal mit Palästinenser-Tuch zur Schule, die anderen bezichtigen sie daraufhin, Terroristen zu sein. Manche Lehrer, erzählen die Schüler, hätten gar keine Lust mehr, Nahost-Themen im Unterricht zu behandeln. "Es gibt fast immer Streit", sagt Jakob, "während des Irak-Kriegs wäre es fast zu Handgreiflichkeiten gekommen."

Jakob ist einer der nichtjüdischen Schüler. 1995 besuchte er eher zufällig den Tag der Offenen Tür - und war beeindruckt. Nicht nur, weil am Tag zuvor ein geistesgestörter Israeli in Jerusalem den damaligen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin erschossen hatte und die Schule ein trauernder Ort war, der ihn sehr bewegte. Sondern auch, weil er das Gefühl hatte, an eine hervorragende Schule geraten zu sein. "Ich wollte nicht auf ein beliebiges Berliner Gymnasium mit übervollen Kursen und katastrophaler Ausstattung", sagt er, "und hier bin ich auf einer richtig guten Privatschule mit guten Bedingungen."

Dass auch Nichtjuden die Schule besuchen, ist ausdrücklich Teil des Konzepts. "Wir wollen kein Nischendasein führen, sondern den Dialog fördern", sagt die Schulleiterin Elke Witting. Dass das so ist, finden auch praktizierende jüdische Schüler wie Miriam völlig in Ordnung. Sie findet aber auch, dass jeder an der Schule die jüdischen Regeln achten sollte. "Wer nicht einmal weiß, was koscheres Essen ist, gehört hier nicht hin", sagt sie.

Noch mehr aber ärgert sie sich zuweilen über die Schülergruppen, die regelmäßig ins Haus kommen. Natürlich ist die einzige jüdische Oberschule der Republik fast 60 Jahre nach dem Holocaust ein gefragtes Ziel für Exkursionen. Manchmal, sagt Miriam, verliefen die Debatten mit den Gleichaltrigen aber geradezu gespenstisch. "Manche denken offenbar immer noch, wir sind alle reich und haben lange Nasen", sagt sie, "und auch das Klischee: Mensch, ihr Juden seid doch sicher alle supergut in Mathe und Physik, hören wir immer wieder."

Und so gibt es noch ein Thema, ohne das an der Jüdischen Oberschule keine Woche vergeht: der offene oder latente Antisemitismus. Dass es den gibt, sagt Miriam, sei ihr immer bewusst gewesen, in Köln wie in Berlin. Seit dem vergangenen Jahr aber fühle sie sich in Deutschland, das sie genau wie Israel immer als ihre Heimat begriffen hat, unwohler als zuvor. Damals, als der FDP-Politiker Jürgen W. Möllemann antisemitische Ressentiments bediente, bezog sie in einer Fernsehsendung Stellung gegen ihn. Über Wochen erhielt sie danach Hetz- und Drohbriefe. In Schreiben wurde beispielsweise gefordert, auch Juden müssten einsehen, dass Israel kritisiert werden dürfe. Dass Antisemiten in Deutschland wieder Interviews gäben und ihre Briefe namentlich unterzeichneten, sagt Miriam, das sei gerade für sie als Jüngere wie ein Schock gewesen. "Ich gehöre zu einer Generation, die ihren Eltern immer gesagt hat, dass das hier ein ganz normales Land ist. Und jetzt leben wir wieder in einer Umgebung, in der Antisemiten Namen und Gesichter haben."

Frankfurter Rundschau, 4.09.2003

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