Mord oder Mizwa: Darf Israel potentielle Attentäter
liquidieren?
PRO: Töten um des Lebens willen
von Rabbiner Yuval Cherlow
Die Tora lehrt uns an zahlreichen Stellen die Grundsätze
"Der sich da erhebt, um dich zu töten, dem komm zuvor und töte
ihn" sowie "Dein Leben hat Vorrang vor dem Leben des Anderen".
Hier liegt ein an keine Bedingungen geknüpftes, nach der Halacha
gegebenes Recht vor.
Möglicherweise handelt es sich sogar um eine halachische
Pflicht, eine Pflicht zum Schutz des Lebens. "Daß er lebe durch
sie" ist ein allgemeiner Grundsatz der Tora, ein Grundsatz der uns
lehrt, daß jeder Mensch verpflichtet ist, ein Leben nach dem Glauben
und nach der Tora zu führen. Auf sein Leben darf er nicht verzichten.
Dies ist der halachische Ausgangspunkt für die Pflicht, um des Lebens
willen gezielte, auch tödliche, Vereitelungsmaßnahmen zu treffen.
Die halachische Quelle für diese Haltung ist die
von der von der Tora ausdrücklich aufgeführte Erlaubnis, einen
heimlich kommenden Dieb oder "Angreifer" zu töten. Sie
rührt von der Annahme her, er werde dich töten, wenn du ihn
nicht tötest. Daraus ergibt sich die grundsätzliche halachische
Einstellung, daß man solchen Dieben zuvorkommen muß. Und es
fällt schwer, Terroristenanführer nicht zumindest als Diebe
anzusehen.
Nicht nur das. Vielmehr übten unsere Weisen scharfe
Kritik an denjenigen, die falsche moralische Überlegungen gelten
ließen. Sehr scharfe Kritik richtet sich etwa gegen Schaul, der
über das Gebot zur Tötung Amaleks gestritten hatte. Die Gemara
erzählt, daß sich eine Stimme mit den Worten vernehmen ließ:
"Sei kein großer Gerechter". Auch im Tanach finden wir
keine Unterlassung der Tötung eines Feindes als Teil des Krieges.
Aber: Jede halachische Beurteilung beginnt mit einer parahalachischen
Annahme, auf deren Grundlage die Ausnahmefälle zu prüfen sind.
Wie bei jedem Ausgangspunkt dürfen deshalb auch bei die- sem die
Gefahren nicht ignoriert werden, die sich aus einer übertriebenen
und schrankenlosen Berufung auf das Grundprinzip ergeben können.
Im vorliegenden Fall besteht die Hauptgefahr darin, daß man sich
auf das moralische Prinzip beruft, um unterschiedslose Tötung zu
rechtfertigen, bei der das gesamte palästinensische Volk als "Potential
für Terrorismus" definiert wird, mit der Schlußfolgerung,
praktisch jeder dürfe vorbeugend getötet werden.
Deshalb ist es eine moralische und halachische Pflicht,
alles Erforderliche zu tun, um die Anwendung des genannten moralischen
Grundsatzes in Fällen zu verhindern, in denen dies nicht statthaft
ist. Außerdem ist es unbedingt erforderlich, bis zur Grenze des
Möglichen sicherzustellen, daß es sich um jemanden handelt,
der eine konkrete und nahe Mordgefahr darstellt. Das ist die Bedingung,
um gegen ihn vorzugehen.
Ein komplizierterer und tiefgehenderer Fall liegt vor,
wenn der Betreffende sich bewußt in Gesellschaft von Kindern oder
Hilflosen befindet, die er als menschliche Schutzschilde benutzt. Hier
sind weitaus strengere Definitionen vonnöten, um ihn trotz der Gefährdung
seiner unmittelbaren Umgebung anzugreifen: Die von ihm dargestellte Gefahr
muß konkret und mit sofortiger Wirkung gegeben sein. Es darf theoretisch
keine andere Möglichkeit geben, ihn zu treffen. Und: Diejenigen,
die ihn umgeben, wurden dazu nicht gezwungen, sondern tun es aus eigenem
Willen oder auf Grund einer Entscheidung ihres Vormundes und so weiter.
Wie bei jedem moralischen Dilemma ist auch die Trennlinie
zwischen Mord und Mizwa sehr dünn, schwer zu definieren und schwer
auszumachen. Gerade deshalb ist den Entscheidungsträgern die große
Verantwortung auferlegt, einerseits niemanden zu treffen, dem dies nicht
zukommt, aber andereseits Bürger des Staates Israel nicht zu gefähren,
indem sie es unterlassen, Übeltäter zu töten.
Rabbiner Yuval Cherlow arbeitet an der Jeschiwat-Hesder,
der militärischen Talmudschule in Petach Tikwa, Israel.
CONTRA: Akt der Barbarei
von Rabbiner Michael Lerner
Die israelische Regierung läßt Menschen töten,
die sie als "Terroristen" beschreibt. Ein "Terrorist"
ist jeder, den Israels Regierung als solchen bezeichnet. Und es ist kein
Gericht und kein Verteidigungsverfahren für diesen Menschen zu erreichen.
Wer einer Organisation angehört, die Gewalttaten verübt, fällt
unter diese Rubrik, ohne daß dieser Mensch irgendwo die Chance bekäme,
Beweise vorzubringen, die zeigen, daß sie persönlich an Gewalttaten
nie beteiligt war und auch keine Beteiligung geplant hatte. Genausowenig
gibt es ein Gericht oder auch nur einen Ausschuß, dem der Betreffende
erklären könnte, inwiefern die Aktionen, an denen er beteiligt
war oder ist, auf Grund bestimmter Umstände auch als Selbstverteidigung
oder Verteidigung der Familie angesehen werden könnte. Wenn die Israelischen
Streitkräfte einmal entschieden haben, daß jemand ein Terrorist
ist, dann kann dieser ohne Widerspruchsmöglichkeit zur Liquidierung
anvisiert werden.
Nebenbei läßt sich feststellen, daß gezielte
Liquidierungen der Armee regelmäßig in Orten und Situationen
stattgefunden haben, die den Tod von unbeteiligten Umstehenden geradezu
garantieren. Diese anderen Toten sind eine sichere und vorhersehbare Konsequenz
der Liquidierungspolitik der Armee.
Es gibt keine jüdische Tradition, keine Gesetze zivilisierter
Völker, keine Abkommen über die universalen Menschenrechte und
keinen gesunden Menschenverstand, die diese Art von Politik gutheißen.
Die Tora erlaubt ein begrenztes Recht auf Selbstverteidigung.
Wenn jemand sich uns nähert, mit der Absicht, uns zu töten,
ein "Angreifer" (hebr.: rodef), der uns jagt, mit einer Waffe
in der Hand, dann dürfen wir uns verteidigen, auch, wenn dies bedeutet,
den anderen zu töten. Die Tora hat dabei eine ganz spezielle Realität
im Auge. Sie bezieht sich auf eine Welt, in der Morde von Angesicht zu
Angesicht verübt wurden. Nicht aus der Distanz, sondern mit handgreiflicher
Gewalt. Unter diesen Umständen und nur unter diesen Umständen,
in denen unbestreitbar die Notwendigkeit besteht, den anderen zu töten,
um das eigene Leben zu retten, ist es erlaubt, tödliche Gewalt anzuwenden.
Die Rabbiner, die den Talmud schrieben, waren selbst über
diese kleine Ausnahme tief besorgt. Es war klar, daß es eine drastische
Tat war, einem anderen das Leben zu nehmen, und daß die Gesellschaft
vorsichtig gegenüber jeder Form der Todesstrafe sein muß, außer
unter diesen sehr eingeschränkten Bedingungen eines direkten, jemand-ist-dabei-mich-zu-töten-Moments.
Wenn also jemand verhaftet wurde und wegen Mordes vor Gericht kam, verlangten
die Rabbiner, daß es zwei Zeugen gibt und daß diese Zeugen
den Delinquenten vor seiner Tat davor gewarnt haben, etwas zu tun, das
mit dem Tode bestraft wird.
Nichts in den Gesetzen oder in Prozessen gibt dem jüdischen
Volk das Recht, die Taten anderer ganz frei als mögliche Beteiligung
oder Unterstützung bei Gewaltakten zu interpretieren und eine Person
auf Grund dieser freien Interpretation als "An- greifer" zu
beschuldigen.
Nun ist eine weniger enge Interpretation des Begriffs
"Angreifer" aufgetaucht. Danach trifft dies auf jeden zu, der
in einer Organisation mitarbeitet, die Aktionen sponsert, die zum Tod
unschuldiger Menschen führen, egal, ob die spezielle Person in diesem
Moment am Mord beteiligt ist oder jemals zuvor direkt beteiligt war. Damit
ist das Prinzip der Selbstverteidigung so weit ausgedehnt worden, daß
es von Israels Armee auf große Gruppen von Palästinensern anwendbar
erscheint. Aber wenn es zuträfe, könnte dieses Prinzip auch
von den Palästinensern auf eine große Zahl israelischer Zivilisten
bezogen werden, die mithelfen, die Besatzung aufrechtzuerhalten. Praktisch
wird so jeder zum Ziel.
Das ist der direkte Weg in die Barbarei. Diesen Weg mit
der Tora, dem Judentum, dem Koran oder irgendeiner anderen Tradition zu
legitimieren, ist obszön.
Jeder auf der Welt, außer ein paar rechtsgerichteten
jüdischen Fanatikern, weiß das. Die Welt ist Zeuge von Israels
Abstieg in die Barbarei. Seine unermüdlichen Verteidiger versuchen
dies als post-traumatisches Streßsymptom des Holocausts zu erklären.
Mag sein. Es ist möglich, daß unser Volk massiv psychologische
Behandlung benötigt. Aber was es nicht braucht, ist eine Gruppe von
Verteidigern, die moralisch ekelerregendes Verhalten als akzeptabel bezeichnet.
Außerdem ist dieses Verhalten kontraproduktiv. Die
Liquidierungen und das Töten unschuldiger Zivilisten, das diese Liquidierungen
begleitet, führen zu einer logischen Konsequenz: mehr Terror gegen
unschuldige Israelis, verübt von empörten Familienmitgliedern
derjenigen Unschuldigen, die ermordet wurden. Israel wird unsicherer und
immer mehr israelische Soldaten äußern ihren Unwillen, in einer
Armee zu dienen, die diese Art Aktionen durchführt. Mehr und mehr
Juden auf der Welt schämen sich, mit Israel identifiziert zu werden.
Denn dieser Staat behauptet, im Namen aller Juden zu handeln. In Wirklichkeit
handelt er auf eine Weise, die Gott, die Tora und die heiligen Traditionen
unseres Volkes verunglimpft.
Rabbiner Michael Lerner lebt in Kalifornien. Er ist Autor
verschiedener Bücher und Vorsitzender der "Tikkun"-Organisation,
einem Zusammenschluß linker jüdischer Gruppen in den USA.
Jüdische Allgemeine Wochenzeitung, 6. November 2003
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