Israel: Volk - Land - Staat

von Martin Stöhr

I
Theologisch nicht zu vergessen
1. Heilsgeschichte meint: Unheil und Heillosigkeiten auf der Erde sollen nicht sein. Wo sie auftreten, können und sollen sie nicht hingenommen werden Es gibt dagegen eine Orientierung und Gegenbewegung. Der biblische Gott ist weder den Menschen noch gegenüber deren Geschichte gleichgültig. Er hat einen Namen, der ihn zu dem ansprechenden und ansprechbaren Einen Du macht: "Ich werde dasein (für euch) als der ich (für euch) dasein werde": JHWH, der unverwechselbare Eigenname - unaussprechlich, verballhornt, missbraucht - ist weder sinnlos noch inhaltslos. Er ist nach Blaise Pascal der "Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und der Vater Jesu Christi, und nicht der Gott der Philosophen". Im real existierenden Gewimmel von Göttern, Halbgöttern und Autoritäten sowie im Schwarm derer, die vor ihnen kuschen und sich das Rückgrat verbiegen, stellt er sich durch die Israel- und durch die Jesusgeschichte vor. Er ist verlässlich. Er teilt sich mit. Er teilt mit den Menschen, was er ist - gerecht, barmherzig, kritisch, versöhnend, befreiend von Angst, Schuld und Hoffnungslosigkeit.
2. Ohne Israels Heilsgeschichte gibt es weder eine Kirche noch eine Christliche Heilsgeschichte. Jesus ist Jude, verliess seine Gemeinde nie, lebte ebenso streitbar wie selbstverständlich in ihr. Seine Bibel, als Mose und die Profeten, als die Schrift(en), als die Tora im späteren Neuen Testament benannt, reicht ihm vollgültig für seine Botschaft aus (Mt 5,17). Die Autoren des Neuen Testamentes führen das Alte Testament mit der Botschaft von Jesus als dem Messias weiter und bestätigen es. Beide Teile, nicht Vorgeschichte und Verheissung nur das Erste Testament und Erfüllung das Zweite nur - es gibt noch viel zu hoffen und zu tun - werden zu gleichberechtigter Teilen der christlichen Bibel ist.
3. Jesu Sendung wendet sich profetisch nur in Ausnahmefällen an VertreterInnen der nichtjüdischen Völker. Er ist zuerst zu den verlorenen Schafen des Volkes Israel gesandt. Seine Botschaft heisst: Umkehr, denn das Reich Gottes ist nahe herbei gekommen. Die frohe Botschaft wird durch Umkehr zu Gottes Wort und Willen mit Leben erfüllt. Das Evangelium ist Weisung, Tora, Ethos, way of life, Gesetz. Das jüdische Volk kommt her von der aus Pharaos Herrschaft befreienden Erfahrung der Gottesherrschaft. Verheissungen und Tora sind weitere Stationen auf dem Weg in die Freiheit.
4. Jüdinnen und Juden, Christinnen und Christen lesen sowohl die jüdische wie die christliche Bibel verschieden: Die Christenheit glaubt in Jesus den Messsias, der die Vollendung der Welt Gottes und der Menschen in seiner Versöhnungsarbeit angefangen hat. (2Kor5,17: Neues ist geworden). Die neue Schöpfung zeigt sich in der Überwindung des Todes, mit dem die Mächtigen aus Rom ihn aus der Welt schaffen wollen und in den messianischen Zeichen wie Krankenheilungen, Auferweckungen, Hungerbekämpfung, Gerechtigkeit für die Armen, Schuld- und Schuldenerlass etc.
5. Jüdinnen und Juden sehen diese von uns so vertrauend geglaubte und in Israels Glauben an die Gottesherrschaft verankerte Heilsgeschichte nicht: Für sie steht davor und dagegen die Unheilsgeschichte einer unerlösten Welt. Ausgerechnet in den christlich geprägten Ländern erlebten sie das grösste Unheil. Vom Volk Israel zu reden heisst zugleich von der Kirche und ihrer Geschichte zu reden. Der jüdische Glaube enthält die kritischste, weil biblische Anfrage an den christlichen: Wie sieht die Verwirklichung dessen aus, was geglaubt wird von denen, die sich nach den messianischen Hoffnungen der Bibel "die Messianischen = die Christen" nennen?. Deswegen versuchte die Kirche nicht nur diese Anfrage los zu werden, sondern auch die Fragesteller: Sie galten als von Gott verworfen und von der Kirche be- und enterbt. II
Was ist Israel?
1. Unter Israel ist ein Dreifaches zu verstehen: "Volk Israel" (Am Jisrael), Land Israel (Eretz Jisrael) und Staat Israel (Medinat Jisrael). Das Volk Israel lebt seit der assyrischen Deportation (ca 722 vChr) und seit der babylonischen Deportation (ca 586 vChr) bis heute in zwei Lebenszentren: in der Diaspora und im Land Israel, davon die die grösste Zeit seiner Existenz ohne das Schutzgehäuse eines Staates. Die ethnische und religiöse Grösse Israel ist mit christlich-konfessionellen Kategorien falsch bzw nicht erfasst. Jude ist man/frau auch als Atheist/in, agnostisch oder in vielen religiösen Strömungen. Christ/in ist man/frau durch Berufung aus allen Völkern, durch Glauben und Taufe.
2. Land ist unter dem Gebot der Gerechtigkeit des Schöpfers der Welt wie der biblischen Verheissung eine Gabe Gottes an das Volk Gottes, das es - wie alle Völker - vom Eigentümer allen Landes (Ex 19,5; Ps 24,1) als Lebensgrundlage und als Bewährungsraum des göttlichen Konzeptes der Welt- und Lebensgestaltung erhält. Wer die messianischen Verheissungen, die Schöpfungs- und Urelterngeschichten, die Psalmgebete sich in der Christenheit "aneignet", ohne Israel zu enteignen, der kann ohne theologische Unehrlichkeit die Landverheissung nicht selektiv weglassen. Über die Grösse oder die Grenzen dieses Landes werden in der Bibel verschiedene Angaben gemacht - darin zeigen sich Träume und Realitäten. Entscheidend für Israel ist - wie für alle nomadischen oder versklavten Völker - dass es an Gottes Erde einen Anteil hat. Die Grenzen des staatlichen Israel nach der Bibel festzulegen ist ebenso religiöser Missbrauch wie ähnliche Versuche anderer Völker, ihre Staatlichkeit oder Grenzen religiös zu begründen. Es kann nicht davon abgesehen werden, dass zu dem konkreten Volk Israel (es sind nicht das deutsche, das russische oder das us-amerikanische Volk erwählt, sondern das jüdische Volk!) auch ein konkretes Stück Land, nämlich im Umfeld von und mit Jerusalem als Lebens- und Bewährungsraum bestimmt ist.
3. Nicht zu vergessen ist, dass die Bibel in Israels Schulen und Hochschulen (wie der Talmud) als historisches Dokument der Geschichte Israels gelesen und gelernt wird: Das heisst, es gibt neben dem religiösen auch einen völlig säkularen Gebrauch (und damit möglichen Missbrauch!) dieses Geschichts- und Geschichtenbuches Israels.
4. Die Erwählung dieses "kleinsten" (Dt 7,7) und "halsstarrigen" (Ex 32,9) Volkes verdankt sich nicht einem elitären Bewusstsein oder Leistungsstand, sondern der Freiheit und Liebe Gottes. Diese zeigen sich in Bundesschlüssen - wie mit den Völkern seit Noah - mit Abraham und seinen Nachkommen, die, da Ethik nicht genetisch festgelegt ist, Wort und Willen Gottes als Gaben und Aufgaben als way of life der Menschen offenbaren. Wie Menschen später aus den Völkern in der Kirche erwählt oder berufen sind, so ist vorher und bleibend Israel erwählt, Zeuge und Mitarbeiterin des biblischen Gottes zu sein. (Jes43,10: "Ihr seid meine Zeugen!"; 43,12; 44,8; von der Kirche heisst es Apg 1,8: "Ihr seid meine Zeugen, in Jerusalem und ganz Judäa und Samaria und bis an die Enden der Erde"). Zeuge Gottes zu sein heisst in den ebenso jüdischen wie christlichen Worten des Vaterunsers: Seinen Namen zu heiligen, mit der Gegenwart und dem Kommen seines Reiches zu rechnen und daran mitzuarbeiten und seinen Willen zu tun.
5. Den Staat wie das Überleben und die Rückkehr nach Erez Jisrael als "Zeichen der Treue Gottes" (so nach K. Barth die Rheinische Synode 1980) heisst nicht von einem Beweis, sondern von einem Hinweis zu sprechen, der über sich hinausweist auf die Bewahrung des Volkes in der Schoa und auf den Neuanfang. Wie Wunder im Neuen Testament Zeichen sind, über die gespottet und gelacht, sich verwundert und gleich gültig hinweggegangen werden kann, sind sie auch Wegweiser zu neuen Glaubenseinsichten.
6. Abraham und sein erstgeborener Sohn Ismael, die benachbarten arabischen Völker und später die Muslime, stehen nach der Hebräischen Bibel auch unter Gottes Segen und Verheissung (Gen 16,10f21,13ff) wie Isaak und die Stammeltern Israels. Die Bibel berichtet sowohl von Koexistenzen wie von Kriegen zwischen Israel und seinen Nachbarvölkern. Religiöse Überhöhungen wie nüchterne Historiendarstellung gehören dazu. Das gilt gerade in Zeiten der Völkerwanderung, in der etwa zu gleichen Zeit Israels Stämme und die Philister ins Land einwanderten. Auf den Glauben an Gottes Wirken in der Geschichte Israels und der Völker wird nie verzichtet, auch da nicht wo er in Protest- oder Klagepsalmen, bei Hiob oder den Jüngern auf dem Weg nach Emmaus eingeklagt wird. Israel versteht seine Existenz in der universalen Perspektive der Schöpfung der ganzen Welt und der Hoffnung auf einen "Neuen Himmel und eine Neue Erde" für alle Kreaturen. Ein zentraler Punkt ist dabei die Würdigung eines jeden Menschen als Ebenbild des einen Gottes, und nicht nur des Königs wie im orientalischen Kontext. Von daher stammen wesentliche Impulse zur Entwicklung der universalen Menschenrechte.
7. Keine andere Religion hat wie die biblische so etwas wie Profetie, was nicht Wahrsagerei bedeutet, sondern die Wahrheit sagen, in der schonungslosen Analyse der Situation, im Aufweis der Folgen eines scharf kritisierten falschen Verhaltens und im Zuspruch von Trost und Mut in hoffnungslos erscheinenden Lagen. Profetie ist kritisch und selbstkritisch, tröstend und Hoffnung stiftend.III
Kirche und Israel
1. Die christliche Interpretation der Geschichte Israel geschah ohne Berücksichtigung der jüdischen Selbstverständnisse und schob so Israel in die Vergangenheit ab als christliche, aber überholte Vorgeschichte der Kirche, benutzte es als dunkle Folie, vor der sich das Christentum strahlend abhob und beschuldigte es des "Gottesmordes". Eine Überbietungsstrategie setzte zB einen Gott der Rache gegen einen angeblich neutestamentlichen Gott der Liebe, tötenden Buchstaben gegen lebendigen Geist, fromme Leistung forderndes Gesetz gegen die frohe Botschaft der Rechtfertigung - als ob es nicht im Neuen Testament (Rö 12,19, 1Petr 2,14) eine Rede von Gottes "Rache" gebe (genauer von seinem Recht, Recht zu sprechen), als ob nicht die christliche Botschaft toter Buchstabe, fromme Gesetzlichkeit oder "billige Gnade" (D. Bonhoeffer) werden könnte. Weder das "Gesetz" noch das " Evangelium" sind dagegen gefeit, in der Hand der Menschen ver-kehrt zu werden.
2. Der antike, vorchristliche Judenhass ("Atheisten", "Feinde Gottes und der Menschen") und der neuzeitliche ökonomische, völkische, rassistische und vulgäre Judenhass erfuhren durch den christlich-religiösen Judenhass eine vorbereitende und legitimierende Vertiefung und zugleich eine Demotivation zum Widerstand gegen antijüdischen Inhumanitäten. Die Kirche muss sich entscheiden, ob sie - nach einer antijüdischen Unheilsgeschichte Joh 4,22 ("Das Heil kommt von den Juden") oder Joh 8,44 (Juden als "Teufelskinder"), ob sie den ersten Brief des Paulus (1Thess2,13ff. Die Juden haben Jesus und die Profeten getötet, sind Gottes- und Menschenfeinde) oder ob sie den letzten Brief des Paulus nach Rom (Kap. 9 - 11, (Ölbaumgleichnis; Gott bereut seine Gnadenverheissungen und seine Berufung Israels nicht 11,29) ernst nehmen will. Die antijüdische Wirkungsgeschichte bestimmter neutestamentlicher Stellen, die aus einer innerjüdischen, polemischen Debatte stammen und bei einer Benutzung im paganen Raum gegen ihren Sinn verwandt werden, ist auch ein "Sitz im Leben" der biblischen Botschaft.
3. Die Christenheit aller Richtungen ist von diesem Gift durchzogen, das erst langsam einer Neuorientierung weicht, deren ökumenischer Konsens von der bleibenden Erwählung Israels spricht, von Jesu Judesein, von dem gemeinsamen Gottesglauben, dem gemeinsamen Auftrag für Recht und Gerechtigkeit, Frieden und Befreiung, Wahrheit und Menschenwürde zu arbeiten, der gemeinsamen Hoffnung und einer Geschichtsauffassung, die Herkunft und Zukunft, also Sinn und Ziel von Gott empfängt. Erst in Teilen der Christenheit wird von einer christlichen Verantwortung für Volk und Staat Israel gesprochen. Diese ist angesichts der christlichen und deutschen Geschichte von besonderem Gewicht, ist aber nur wahrzunehmen in einer gleichzeitigen Verantwortung für das palästinensiche Volk.
4. Im christlichen Spektrum gibt es in evangelikalen Zirkeln christliche Zionisten, für die - wie früher die Zerstörung Jerusalems - ein Gross-Israel, das alle Stämme in Eretz Jisrael vereint, die Vorbedingung für das baldige Kommen des Messias und die Endschlacht um Harmaggedon ist. Kalkulation und historischer Materialismus verbinden sich mit einem Freund-Feind-Denken, das den vertrauenden Glauben entleibt und die Nachfolge Christi sich erspart. IV
Der Staat Israel
1. Der Staat Israel ist - wie die Staaten anderer Völker - seit dem Aufkommen moderner Nationalstaaten das übliche Schutzgehäuse eines Volkes oder eines Völkerbündnisses. Das Volk Israel war seit 135 n. Chr. und der dann beginnenden Entjudung Palästinas durch Rom ohne dieses Schutzgehäuse und unterlag seitdem einem fremdbestimmten Druck zur Anpassung oder durch Verfolgung, vor allem in christlichen Europa. Sein staatliches Gehäuse ist bis heute nicht gesichert, dieses Schutzhaus fehlt bis heute zB den armenischen, kurdischen, tibetischen, indianischen, saraouischen, tamilischen und palästinensischen Völkern ganz. In Israel leben zusammen die schon immer im Lande lebenden Juden, Araber, Armenier, Drusen und Beduinen, die Überlebenden der Schoa, die aus vielen Ländern, vor Judenverachtung oder -verfolgung Geflohenen, die aus islamischen Ländern Vertriebenen oder Ausgewanderten und die, die aus politischen oder religiösen Gründen einem jüdisch bestimmten Staat leben wollen. Antisemitismus ist in vielen Ländern ein Grund für jüdische Familien, nach Israel auszuwandern.
2. Die entscheidende Zielsetzung und Praxis aller dieser (und anderer) Völker heisst: Selbstbestimmung. .Ohne Partizipation des ganzen Volkes und ohne Minderheitenschutz und Menschenrechte wird Selbstbestimmung schnell zum Raub eines Nationalismus. Dann wechselt die Unterdrückung nur den Gegenstand. Die Geschichte des "Heiligen Landes" ist seit assyrischer und babylonischer Fremdherrschaft bis heute voll von verweigerter Partizpation der dort lebenden Menschen an der Gestaltung ihrer eigenen Geschichte: Die türkische Fremdherrschaft (von 1518 - 1918) wurde durch die britische und französische Kolonialherrschaft im Nahen Osten abgelöst.
3. Zionismus ist, wie die Entkolonialisierungs-, Arbeiter- und Frauenbewegung eine Befreiungsbewegung ( Moses Hess 1862: Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätenfrage; Leon Pinsker 1882: Auto-Emanzipation; Theodor Herzl 1896. Der Judenstaat). Wie alle Bewegungen ist sie nicht gegen Versteinerung gefeit sind. Unter den vielen Zionismen heisst Zionismus immer (nach Uri Avnery): "Ich will als Jude leben". Im Verständnis nationalistischer oder religiöser Fundamentalisten geschieht das auf Kosten anderer. Die arabische Befreiungsbewegung läuft als arabische Renaissance parallel mit der zionistischen. Sie war ganz stark durch christlich-arabische Intellektuelle geprägt. Auch sie ist nicht, wie zB die Entwicklung der säkularen Baath-Partei zeigt, nicht von einer Versteinerung verschont geblieben.
4. Israel hat eine bleibende raison d'etre als Zuflucht für vom Antisemitismus verfolgte Juden. Die Einwanderung aus Argentinien oder aus der früheren Sowjetunion und dem dort grassierenden Antisemitismus zeigt die Notwendigkeit einer Zufluchtsstätte.
5. Unter dem Deckmantel des Antizionismus werden antisemitische Grundmuster reaktiviert. Die (1905 von der zaristischen Geheimpolizei gefälschten und in Umlauf gebrachten), "Protokolle der Weisen von Zion" werden massenhaft in Osteuropa und in den arabischen Ländern übersetzt, nachgedruckt und verbreitet. Sie gelten als historische Dokumente für ein Streben nach jüdischer Weltherrschaft. Eine aufklärende Information über diese Fälschung fehlt.
6. Der moderne Staat Israel ist ein säkularer Staat und zugleich die einzige Demokratie im Nahen Osten, gefährdet wie alle Demokratien durch eine überdimensionale Vorordnung der (inneren und äusseren) Sicherheit auf Kosten von Gerechtigkeit und Menschenrechten. Die EKD Denkschrift von 1975 erklärt: "Der heutige Staat Israel ist eine politische Grösse; er stellt sich zugleich aber in den Rahmen der Geschichte des erwählten Volkes". Israel ist keine Theokratie, gibt aber zu Recht nicht auf, was auch säkulare StaatsbürgerInnen zu seiner Identität rechnen: Seine religiöse Dimension. Demokratie und Säkularität schützen nicht vor einer falschen Regierungspolitik. Entscheidend ist, ob Kritik und Alternativen zu vertreten erlaubt ist.V
Israel und Deutschland
1. Die Geschichte Deutschlands ist durch die wissenschaftlich untermauerte, in Medien und Institutionen propagierte, von der Bevölkerung mehrheitlich hingenommene und industriell durchgeführte Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden mit dem jüdischen Volk verknüpft. Aus dieser singulären Schuld erwächst eine singuläre Verantwortung. Obwohl es Judenverachtung und -feindschaft in allen Gesellschaften gab und gibt, ist nur in Deutschland Antisemitismus als Regierungsprogramm und -praxis gewählt und fast widerspruchslos exekutiert worden. Die nach dem 2. Weltkrieg aufgewachsenen Generationen sind weder schuldig noch sind ihnen Schuldgefühle abzuverlangen, wohl aber eine Haftung für das, was geschah und eine Verantwortung dafür, dass dergleichen nicht wieder geschieht. Die Nachkommen von Kain können sich einer besonderen Verantwortung für Abels Nachkommen nicht entziehen. Deutschland hat eine besondere Verantwortung für das Leben und Überleben des jüdischen Volkes.
2. Innenpolitisch führt das zu der Konsequenz, jeder völkischen, rassistischen oder antisemitischen Haltung öffentlich und eindeutig zu widersprechen, die so tut, als dürfe man Juden oder Israel nicht kritisieren, als koste es Mut, das zu tun oder als seien die Juden oder Israel selbst schuld daran, dass sie verachtet oder gehasst werden. Karsli, Möllemann, Walser, Hohmann, Günzel etc stehen in ihren Thesen und Spielen mit Antisemitismen für diese Gefahr, mit der dumpfe Stimmungen der Bevölkerung von rechts bis links, vor allem aber in der Mitte, angesprochen werden. Ziel dieser "Spielereien" mit der Verachtung eines Volkes ist die Selbstentlastung des deutschen Volkes auf Kosten anderer Völker (zB der "jüdisch-bolschewistischen Untermenschen", der Juden, der Schwarzafrikaner etc) und die Relativierung der einzigartigen, industriell perfekt organisierten Ermordung des jüdischen Volkes.
3. Aussenpolitisch hat diese Mitverantwortung für das Leben und Überleben des jüdischen Volkes zur Konsequenz, nichts zu unternehmen oder zu dulden, was Israels Existenz gefährdet. Die EKD-Denkschrift von 1975 sagt: "Es haben Christen sich nachdrücklich für einen sachgemässen Ausgleich zwischen den berechtigten Ansprüchen beider, der palästinensischen Araber und der Juden, einzusetzen. Weder dürfen allein den palästinensischen Arabern die Folgen des Konfliktes auferlegt sein noch darf allein Israel allein für die Auseinandersetzungen verantwortlich gemacht werden."VI
Palästina
1. "palestinian" stand als Staatsangehörigkeit in den Pässen von Juden, Christen, Muslimen, Drusen, waren sie Araber oder Juden, Alteingesessene oder Neueinwanderer bis 1948. Nach 1967 erhielt der Name eine neue inhaltliche Bestimmung. Er meint seitdem die Araber, die weder israelische Staatsbürger noch solche der arabischen Nachbarstaaten waren, sondern in dem 1950 von Jordanien besetzten Westjordanland und Gazastreifen leben, die als Flüchtlinge oder Vertriebene aus dem Israel der Waffenstillstandsgrenzen (bis 1967) dort oder in den arabischen Nachbarländern, meistens in Flüchtlingslagern, Zuflucht fanden. Sie entdeckten - wie einst Theodor Herzl - die politisch stimulierende Tatsache: "Wir sind ein Volk, ein Volk!". Sie verweigerten mit den arabischen Staaten bis 1988 die Anerkennung Israels, das zu den vielen Staaten gehört, die nach 1945 durch Grenzverschiebung, Teilung, Niederlagen wieder oder anders das Licht der Völkerwelt erblickten (Polen, die baltischen Staaten, Indien, Pakistan, Bangla-Desh, die meisten afrikanischen Staaten). Israel akzeptierte 1948 einen durch das Völkerrecht der UNO (Beschluss vom November 1947) legitimierten jüdischen und einen arabischen Staat an seiner Seite.
2. Die Führung des palästinensischen Volkes setzte die Politik der arabischen Staaten - Ausnahme Ägypten 1977 - fort, die Existenz Israels zu leugnen, zu bedrohen oder beenden zu wollen. Damit wurde die UNO und ihr Beschluss von 1947, der einen arabischen und einen jüdischen Staat vorsah, negiert, was wiederum die eigene Position schwächte, sich später auf die UNO-Resolutionen 242 und 338 zu berufen. Besonderes Misstrauen erweckte Arafats double speak, seine Friedensreden auf englisch und seine Aufrufe nach zwei Millionen "Märtyrern"(!), die zum Marsch auf Jerusalem bereit sein sollen.VII
Palästina und Israel
1. Die Flüchtlingslager als schwärende Wunde an Israels Grenzen, das Desinteresse der arabischen Staaten an einer Konfliktlösung sowie das Interesse der Grossmächte im Kalten Krieg, jeweils Bundesgenossen fürs eigene Lager zu finden, verunsicherten die Existenz sowohl des jüdischen wie des palästinensischen Volkes, und zwar durch Instrumentalisierungen.
2. Das Ende der Ost-West-Konfrontation eröffnete neue Chancen für einen Friedensprozess, der mit dem Oslo-Abkommen von 1993 nicht nur eine euphorische Stimmung brachte, sondern auch Hoffnungen auf beiden Seiten hervorrief. Vor allem erkannte die eine Seite die jeweils andere endlich an.
3. Israels Besetzung der Westbank und des Gazastreifens wurde mit drei verschiedenen Argumenten vertreten: a) man wolle Verhandlungsmasse haben, b) nationalreligiöse Beanspruchung des "biblischen Kernlandes" c) homeland- Politik gegenüber den Palästinensern. Rabins Konzept ("Frieden macht man mit Feinden") wurde fehlerhaft, weil ohne demokratische Rückendeckung von Ehud Barak fortgesetzt, aber bis zu den entscheidenden Fragen (Ende der Besatzung, Räumung der Siedlungen, Palästinenserstaat, Jerusalem und Flüchtlingsfrage) vorangetrieben, aber von Arafat in Taba als Ausgangspunkt für weitere Verhandlungen abgelehnt. Arafat hoffte auf Neuwahlen in den USA und in Israel, die Ihm "bequemere" Partner einbringen sollten, eine irreale Lageeinschätzung.
4. Scharon versprach gegen den nicht unterbrochenen Terror islamistischer Gruppen gegen die Besatzung, gegen die Zivilbevölkerung im Kernland Israel und gegen jüdische Einrichtungen in aller Welt "Sicherheit und Frieden" und erreichte das Gegenteil. Beide Seiten reduzierten Politik zu einem Reiz - Reaktions - Schema, dh sie beendeten die Politik zugunsten von Gewalt. Die Terroristen setzten das Gesetz des Handelns. Damit sind in einer durch Öl- und Waffenmärkte interessanten und gefährlichen Region Krieg und Gewalt wieder zum Mittel der Politik geworden, einschliesslich ihrer rücksichtslosen Praxis, Unschuldige zu töten (Selbstmordattentate und preemtive strikes) und ihre Lebensgrundlagen zu zerstören.
5. Angst, Hass und Misstrauen bestimmen auf beiden Seiten die Haltung gegenüber der jeweils anderen Seite. Was Ziel ist, das Ende der Gewalt, wird zur Voraussetzung - zu liefern von der jeweils anderen Seite! - gemacht. Die Angst auf beiden Seiten voreinander ist berechtigt. Die Mittel, ihr zu begegnen, sind umstritten.
6. Entscheidend wird sein, dass die israelische Seite das Leiden und die demütigende Ohnmachtserfahrung des palästinensichen Volkes anerkennt und die palästinensiche das Leiden und die Ohnmachtserfahrung (nicht nur der Schoa, sondern auch der Existenzbedrohung und der verweigerten Anerkennung!) des jüdischen Volkes anerkennt.
7. Wie im ersten Kalten Krieg sind beide Volker auch wieder Instrumente geworden: einmal im Kampf gegen den "internationalen Terrorismus" oder im Kampf gegen den global seine Interessen (die nicht immer die von Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit bestimmt sind) vertretenden "Westen". Die arabischen Länder müssen sich scharf fragen lassen, ob sie selbstkritisch und genau über sich und über Israel informieren und einige, ob sie Israel als Staat leben lassen wollen; Israel muss sich fragen lassen, ob es ein Staat im Nahen Osten sein will. Das war die zentrale Frage Martin Bubers, der einen Kulturzionismus vertrat und mit vielen Freunden (Berit Schalom) auf einen Ausgleich mit den arabischen Nachbarn setzte. Seine Lösungen sind überholt, die damit gesetzten Aufgaben bis heute ungelöst - von beiden Seiten.
8. Beide haben keine andere Chance als zusammen zu überleben. Daraus folgert eine Kompromissnotwendigkeit und -bereitschaft sowie ein die Staaten des Nahen Ostens übergreifendes Sicherheitssystem, das weder mit der pax americana noch der Vorherrschaft Syriens, Iraks oder Libyens gleichzusetzen ist, VIII
Notwendigkeiten
1. Präzise Information über Haftung und Verantwortung im Feld der deutschen und der christlichen Geschichte. Die Erneuerung beider Beziehungen hat gerade erst angefangen.
2. Nicht vergessen: Wir leben nicht in der Konfliktregion, wir sind Teil des Problems (durch unsere christliche und deutsche Geschichte) und nicht Ratgeber oder Lösung der Probleme, was die leidenschaftliche Anteilnahme an der öffentlichen Debatte, die auch Position bezieht, nicht verbietet, sondern notwendig macht.
3. Widerspruch gegen jede Form von und jedes Spiel mit Antizionismen und Antisemitismen hierzulande. Kritik an der israelischen Regierung ist natürlich erlaubt. Wer sich in die Pose des angeblichen "Tabubrechers" wirft ("Man wird doch noch sagen dürfen...") lügt oder betreibt die marktkonforme Quotenhörigkeit bzw PR-Arbeit in eigener Sache. Niemand verbietet solche Kritik. Sie muss aber konkret sein, darf also nicht von den Juden, den Israelis, den Palästinensern oder den Amerikanern reden..
4. Keine historischen Vergleiche an die Stelle von Analysen und Fragen setzen (zB "Opfer der Opfer", Arafat = Hitler, Scharon = Hitler, "Vernichtungskrieg", N. Blüm etc).
5. Beteiligung hierzulande an der Entmilitarisierung unserer Aussen- und Wirtschaftspolitik zugunsten von mehr globaler Gerechtigkeit und Partizipation.
6. Stärkung des Rechts, besonders des Völkerrechts und der Menschenrechte als Alternativen zum Krieg. Stärkung der vor allem der UNO, des Völkerrechts und der individuellen und sozialen Menschenrechte.
7. Einübung von Selbstkritik in jeder Religion und in jedem politischen System. Keine Kritik an anderen ohne selbstkritische Sicht der eigenen Bedingtheiten und Positionen. Widerspruch gegen jede Benutzung von Religion als Waffe, zur Überhöhung oder Begründung von Feindbildern, zur Verschärfung statt zur Entschärfung von Konflikten. Was hier von der Religion gesagt ist gilt auch von der "Nation".
8. Klar sehen, dass es einen unterschiedlich gewalttätigen islamischen (jüdischen, christlichen, nationalistischen oder ökonomischen) Fundamentalismus auch ohne den Nahostkonflikt gibt. Er erwächst auch aus der Weigerung der reichen Gesellschaften oder Gesellschaftsteile, die Frage der Gerechtigkeit, der Partizipation und der Menschenrechte als Konfliktursache zu sehen und anzupacken. Ungelöste soziale Probleme in den islamischen Staaten legitimieren nicht eine dort häufig praktizierte und zu Morden an Juden in aller Welt führenden Suche nach "den jüdischen" oder "den zionistischen" Sündenböcken, wie es islamistische Propaganda in Massenmedien, Freitagspredigten oder Stellungnahmen zB des malaysischen Premiers Mahathir (am 16. 10.2003 bei der Eröffnung der Gipfelkonferenz der "Organisation Islamische Konferenz) belegt.
9. Jedem Ansatz von Fundamentalismus entgegentreten. Fundamentalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er a) Alternativen zu denken und zu leben nicht erlaubt, b) die Menschen in Gute und Böse einteilt, also Feindbilder braucht c) Gewalt der "Guten" gegen die "Bösen" rechtfertigt und d) in seinen Organisationsformen autoritär, dh menschenverachtend ist.
10. Unterstützung der israelischen Menschenrechts- und Friedensbewegung, die zu Recht die entscheidenden Hauptforderungen an die eigene Gesellschaft formuliert: Ende der Besatzung und der Siedlungen sowie Ermöglichung eines palästinensischen Staates.
11. Unterstützung der palästinensischen bzw arabischen Menschenrechts- und Friedensgruppen und ihrer kritischen Position gegen Demokratieverweigerung, Korruption, Selbstmordattentäter und der Nichtanerkennung Israels als Nachbar.
12. Keinen Antislamismus als Feindbild und Vorurteilsersatz dulden.

Überarbeitete Thesen zur Gesprächseröffnung beim
Studientag der Evangelischen Arbeitsstelle Kirche, Bildung und Gesellschaft
am 15. November 2003 in der Friedenskirche Kaiserslautern

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Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau
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