Israel: Volk - Land - Staat
von Martin Stöhr
I
Theologisch nicht zu vergessen
1. Heilsgeschichte meint: Unheil und Heillosigkeiten auf der Erde sollen
nicht sein. Wo sie auftreten, können und sollen sie nicht hingenommen
werden Es gibt dagegen eine Orientierung und Gegenbewegung. Der biblische
Gott ist weder den Menschen noch gegenüber deren Geschichte gleichgültig.
Er hat einen Namen, der ihn zu dem ansprechenden und ansprechbaren Einen
Du macht: "Ich werde dasein (für euch) als der ich (für
euch) dasein werde": JHWH, der unverwechselbare Eigenname - unaussprechlich,
verballhornt, missbraucht - ist weder sinnlos noch inhaltslos. Er ist
nach Blaise Pascal der "Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und der
Vater Jesu Christi, und nicht der Gott der Philosophen". Im real
existierenden Gewimmel von Göttern, Halbgöttern und Autoritäten
sowie im Schwarm derer, die vor ihnen kuschen und sich das Rückgrat
verbiegen, stellt er sich durch die Israel- und durch die Jesusgeschichte
vor. Er ist verlässlich. Er teilt sich mit. Er teilt mit den Menschen,
was er ist - gerecht, barmherzig, kritisch, versöhnend, befreiend
von Angst, Schuld und Hoffnungslosigkeit.
2. Ohne Israels Heilsgeschichte gibt es weder eine Kirche noch eine Christliche
Heilsgeschichte. Jesus ist Jude, verliess seine Gemeinde nie, lebte ebenso
streitbar wie selbstverständlich in ihr. Seine Bibel, als Mose und
die Profeten, als die Schrift(en), als die Tora im späteren Neuen
Testament benannt, reicht ihm vollgültig für seine Botschaft
aus (Mt 5,17). Die Autoren des Neuen Testamentes führen das Alte
Testament mit der Botschaft von Jesus als dem Messias weiter und bestätigen
es. Beide Teile, nicht Vorgeschichte und Verheissung nur das Erste Testament
und Erfüllung das Zweite nur - es gibt noch viel zu hoffen und zu
tun - werden zu gleichberechtigter Teilen der christlichen Bibel ist.
3. Jesu Sendung wendet sich profetisch nur in Ausnahmefällen an VertreterInnen
der nichtjüdischen Völker. Er ist zuerst zu den verlorenen Schafen
des Volkes Israel gesandt. Seine Botschaft heisst: Umkehr, denn das Reich
Gottes ist nahe herbei gekommen. Die frohe Botschaft wird durch Umkehr
zu Gottes Wort und Willen mit Leben erfüllt. Das Evangelium ist Weisung,
Tora, Ethos, way of life, Gesetz. Das jüdische Volk kommt her von
der aus Pharaos Herrschaft befreienden Erfahrung der Gottesherrschaft.
Verheissungen und Tora sind weitere Stationen auf dem Weg in die Freiheit.
4. Jüdinnen und Juden, Christinnen und Christen lesen sowohl die
jüdische wie die christliche Bibel verschieden: Die Christenheit
glaubt in Jesus den Messsias, der die Vollendung der Welt Gottes und der
Menschen in seiner Versöhnungsarbeit angefangen hat. (2Kor5,17: Neues
ist geworden). Die neue Schöpfung zeigt sich in der Überwindung
des Todes, mit dem die Mächtigen aus Rom ihn aus der Welt schaffen
wollen und in den messianischen Zeichen wie Krankenheilungen, Auferweckungen,
Hungerbekämpfung, Gerechtigkeit für die Armen, Schuld- und Schuldenerlass
etc.
5. Jüdinnen und Juden sehen diese von uns so vertrauend geglaubte
und in Israels Glauben an die Gottesherrschaft verankerte Heilsgeschichte
nicht: Für sie steht davor und dagegen die Unheilsgeschichte einer
unerlösten Welt. Ausgerechnet in den christlich geprägten Ländern
erlebten sie das grösste Unheil. Vom Volk Israel zu reden heisst
zugleich von der Kirche und ihrer Geschichte zu reden. Der jüdische
Glaube enthält die kritischste, weil biblische Anfrage an den christlichen:
Wie sieht die Verwirklichung dessen aus, was geglaubt wird von denen,
die sich nach den messianischen Hoffnungen der Bibel "die Messianischen
= die Christen" nennen?. Deswegen versuchte die Kirche nicht nur
diese Anfrage los zu werden, sondern auch die Fragesteller: Sie galten
als von Gott verworfen und von der Kirche be- und enterbt. II
Was ist Israel?
1. Unter Israel ist ein Dreifaches zu verstehen: "Volk Israel"
(Am Jisrael), Land Israel (Eretz Jisrael) und Staat Israel (Medinat Jisrael).
Das Volk Israel lebt seit der assyrischen Deportation (ca 722 vChr) und
seit der babylonischen Deportation (ca 586 vChr) bis heute in zwei Lebenszentren:
in der Diaspora und im Land Israel, davon die die grösste Zeit seiner
Existenz ohne das Schutzgehäuse eines Staates. Die ethnische und
religiöse Grösse Israel ist mit christlich-konfessionellen Kategorien
falsch bzw nicht erfasst. Jude ist man/frau auch als Atheist/in, agnostisch
oder in vielen religiösen Strömungen. Christ/in ist man/frau
durch Berufung aus allen Völkern, durch Glauben und Taufe.
2. Land ist unter dem Gebot der Gerechtigkeit des Schöpfers der Welt
wie der biblischen Verheissung eine Gabe Gottes an das Volk Gottes, das
es - wie alle Völker - vom Eigentümer allen Landes (Ex 19,5;
Ps 24,1) als Lebensgrundlage und als Bewährungsraum des göttlichen
Konzeptes der Welt- und Lebensgestaltung erhält. Wer die messianischen
Verheissungen, die Schöpfungs- und Urelterngeschichten, die Psalmgebete
sich in der Christenheit "aneignet", ohne Israel zu enteignen,
der kann ohne theologische Unehrlichkeit die Landverheissung nicht selektiv
weglassen. Über die Grösse oder die Grenzen dieses Landes werden
in der Bibel verschiedene Angaben gemacht - darin zeigen sich Träume
und Realitäten. Entscheidend für Israel ist - wie für alle
nomadischen oder versklavten Völker - dass es an Gottes Erde einen
Anteil hat. Die Grenzen des staatlichen Israel nach der Bibel festzulegen
ist ebenso religiöser Missbrauch wie ähnliche Versuche anderer
Völker, ihre Staatlichkeit oder Grenzen religiös zu begründen.
Es kann nicht davon abgesehen werden, dass zu dem konkreten Volk Israel
(es sind nicht das deutsche, das russische oder das us-amerikanische Volk
erwählt, sondern das jüdische Volk!) auch ein konkretes Stück
Land, nämlich im Umfeld von und mit Jerusalem als Lebens- und Bewährungsraum
bestimmt ist.
3. Nicht zu vergessen ist, dass die Bibel in Israels Schulen und Hochschulen
(wie der Talmud) als historisches Dokument der Geschichte Israels gelesen
und gelernt wird: Das heisst, es gibt neben dem religiösen auch einen
völlig säkularen Gebrauch (und damit möglichen Missbrauch!)
dieses Geschichts- und Geschichtenbuches Israels.
4. Die Erwählung dieses "kleinsten" (Dt 7,7) und "halsstarrigen"
(Ex 32,9) Volkes verdankt sich nicht einem elitären Bewusstsein oder
Leistungsstand, sondern der Freiheit und Liebe Gottes. Diese zeigen sich
in Bundesschlüssen - wie mit den Völkern seit Noah - mit Abraham
und seinen Nachkommen, die, da Ethik nicht genetisch festgelegt ist, Wort
und Willen Gottes als Gaben und Aufgaben als way of life der Menschen
offenbaren. Wie Menschen später aus den Völkern in der Kirche
erwählt oder berufen sind, so ist vorher und bleibend Israel erwählt,
Zeuge und Mitarbeiterin des biblischen Gottes zu sein. (Jes43,10: "Ihr
seid meine Zeugen!"; 43,12; 44,8; von der Kirche heisst es Apg 1,8:
"Ihr seid meine Zeugen, in Jerusalem und ganz Judäa und Samaria
und bis an die Enden der Erde"). Zeuge Gottes zu sein heisst in den
ebenso jüdischen wie christlichen Worten des Vaterunsers: Seinen
Namen zu heiligen, mit der Gegenwart und dem Kommen seines Reiches zu
rechnen und daran mitzuarbeiten und seinen Willen zu tun.
5. Den Staat wie das Überleben und die Rückkehr nach Erez Jisrael
als "Zeichen der Treue Gottes" (so nach K. Barth die Rheinische
Synode 1980) heisst nicht von einem Beweis, sondern von einem Hinweis
zu sprechen, der über sich hinausweist auf die Bewahrung des Volkes
in der Schoa und auf den Neuanfang. Wie Wunder im Neuen Testament Zeichen
sind, über die gespottet und gelacht, sich verwundert und gleich
gültig hinweggegangen werden kann, sind sie auch Wegweiser zu neuen
Glaubenseinsichten.
6. Abraham und sein erstgeborener Sohn Ismael, die benachbarten arabischen
Völker und später die Muslime, stehen nach der Hebräischen
Bibel auch unter Gottes Segen und Verheissung (Gen 16,10f21,13ff) wie
Isaak und die Stammeltern Israels. Die Bibel berichtet sowohl von Koexistenzen
wie von Kriegen zwischen Israel und seinen Nachbarvölkern. Religiöse
Überhöhungen wie nüchterne Historiendarstellung gehören
dazu. Das gilt gerade in Zeiten der Völkerwanderung, in der etwa
zu gleichen Zeit Israels Stämme und die Philister ins Land einwanderten.
Auf den Glauben an Gottes Wirken in der Geschichte Israels und der Völker
wird nie verzichtet, auch da nicht wo er in Protest- oder Klagepsalmen,
bei Hiob oder den Jüngern auf dem Weg nach Emmaus eingeklagt wird.
Israel versteht seine Existenz in der universalen Perspektive der Schöpfung
der ganzen Welt und der Hoffnung auf einen "Neuen Himmel und eine
Neue Erde" für alle Kreaturen. Ein zentraler Punkt ist dabei
die Würdigung eines jeden Menschen als Ebenbild des einen Gottes,
und nicht nur des Königs wie im orientalischen Kontext. Von daher
stammen wesentliche Impulse zur Entwicklung der universalen Menschenrechte.
7. Keine andere Religion hat wie die biblische so etwas wie Profetie,
was nicht Wahrsagerei bedeutet, sondern die Wahrheit sagen, in der schonungslosen
Analyse der Situation, im Aufweis der Folgen eines scharf kritisierten
falschen Verhaltens und im Zuspruch von Trost und Mut in hoffnungslos
erscheinenden Lagen. Profetie ist kritisch und selbstkritisch, tröstend
und Hoffnung stiftend.III
Kirche und Israel
1. Die christliche Interpretation der Geschichte Israel geschah ohne Berücksichtigung
der jüdischen Selbstverständnisse und schob so Israel in die
Vergangenheit ab als christliche, aber überholte Vorgeschichte der
Kirche, benutzte es als dunkle Folie, vor der sich das Christentum strahlend
abhob und beschuldigte es des "Gottesmordes". Eine Überbietungsstrategie
setzte zB einen Gott der Rache gegen einen angeblich neutestamentlichen
Gott der Liebe, tötenden Buchstaben gegen lebendigen Geist, fromme
Leistung forderndes Gesetz gegen die frohe Botschaft der Rechtfertigung
- als ob es nicht im Neuen Testament (Rö 12,19, 1Petr 2,14) eine
Rede von Gottes "Rache" gebe (genauer von seinem Recht, Recht
zu sprechen), als ob nicht die christliche Botschaft toter Buchstabe,
fromme Gesetzlichkeit oder "billige Gnade" (D. Bonhoeffer) werden
könnte. Weder das "Gesetz" noch das " Evangelium"
sind dagegen gefeit, in der Hand der Menschen ver-kehrt zu werden.
2. Der antike, vorchristliche Judenhass ("Atheisten", "Feinde
Gottes und der Menschen") und der neuzeitliche ökonomische,
völkische, rassistische und vulgäre Judenhass erfuhren durch
den christlich-religiösen Judenhass eine vorbereitende und legitimierende
Vertiefung und zugleich eine Demotivation zum Widerstand gegen antijüdischen
Inhumanitäten. Die Kirche muss sich entscheiden, ob sie - nach einer
antijüdischen Unheilsgeschichte Joh 4,22 ("Das Heil kommt von
den Juden") oder Joh 8,44 (Juden als "Teufelskinder"),
ob sie den ersten Brief des Paulus (1Thess2,13ff. Die Juden haben Jesus
und die Profeten getötet, sind Gottes- und Menschenfeinde) oder ob
sie den letzten Brief des Paulus nach Rom (Kap. 9 - 11, (Ölbaumgleichnis;
Gott bereut seine Gnadenverheissungen und seine Berufung Israels nicht
11,29) ernst nehmen will. Die antijüdische Wirkungsgeschichte bestimmter
neutestamentlicher Stellen, die aus einer innerjüdischen, polemischen
Debatte stammen und bei einer Benutzung im paganen Raum gegen ihren Sinn
verwandt werden, ist auch ein "Sitz im Leben" der biblischen
Botschaft.
3. Die Christenheit aller Richtungen ist von diesem Gift durchzogen, das
erst langsam einer Neuorientierung weicht, deren ökumenischer Konsens
von der bleibenden Erwählung Israels spricht, von Jesu Judesein,
von dem gemeinsamen Gottesglauben, dem gemeinsamen Auftrag für Recht
und Gerechtigkeit, Frieden und Befreiung, Wahrheit und Menschenwürde
zu arbeiten, der gemeinsamen Hoffnung und einer Geschichtsauffassung,
die Herkunft und Zukunft, also Sinn und Ziel von Gott empfängt. Erst
in Teilen der Christenheit wird von einer christlichen Verantwortung für
Volk und Staat Israel gesprochen. Diese ist angesichts der christlichen
und deutschen Geschichte von besonderem Gewicht, ist aber nur wahrzunehmen
in einer gleichzeitigen Verantwortung für das palästinensiche
Volk.
4. Im christlichen Spektrum gibt es in evangelikalen Zirkeln christliche
Zionisten, für die - wie früher die Zerstörung Jerusalems
- ein Gross-Israel, das alle Stämme in Eretz Jisrael vereint, die
Vorbedingung für das baldige Kommen des Messias und die Endschlacht
um Harmaggedon ist. Kalkulation und historischer Materialismus verbinden
sich mit einem Freund-Feind-Denken, das den vertrauenden Glauben entleibt
und die Nachfolge Christi sich erspart. IV
Der Staat Israel
1. Der Staat Israel ist - wie die Staaten anderer Völker - seit dem
Aufkommen moderner Nationalstaaten das übliche Schutzgehäuse
eines Volkes oder eines Völkerbündnisses. Das Volk Israel war
seit 135 n. Chr. und der dann beginnenden Entjudung Palästinas durch
Rom ohne dieses Schutzgehäuse und unterlag seitdem einem fremdbestimmten
Druck zur Anpassung oder durch Verfolgung, vor allem in christlichen Europa.
Sein staatliches Gehäuse ist bis heute nicht gesichert, dieses Schutzhaus
fehlt bis heute zB den armenischen, kurdischen, tibetischen, indianischen,
saraouischen, tamilischen und palästinensischen Völkern ganz.
In Israel leben zusammen die schon immer im Lande lebenden Juden, Araber,
Armenier, Drusen und Beduinen, die Überlebenden der Schoa, die aus
vielen Ländern, vor Judenverachtung oder -verfolgung Geflohenen,
die aus islamischen Ländern Vertriebenen oder Ausgewanderten und
die, die aus politischen oder religiösen Gründen einem jüdisch
bestimmten Staat leben wollen. Antisemitismus ist in vielen Ländern
ein Grund für jüdische Familien, nach Israel auszuwandern.
2. Die entscheidende Zielsetzung und Praxis aller dieser (und anderer)
Völker heisst: Selbstbestimmung. .Ohne Partizipation des ganzen Volkes
und ohne Minderheitenschutz und Menschenrechte wird Selbstbestimmung schnell
zum Raub eines Nationalismus. Dann wechselt die Unterdrückung nur
den Gegenstand. Die Geschichte des "Heiligen Landes" ist seit
assyrischer und babylonischer Fremdherrschaft bis heute voll von verweigerter
Partizpation der dort lebenden Menschen an der Gestaltung ihrer eigenen
Geschichte: Die türkische Fremdherrschaft (von 1518 - 1918) wurde
durch die britische und französische Kolonialherrschaft im Nahen
Osten abgelöst.
3. Zionismus ist, wie die Entkolonialisierungs-, Arbeiter- und Frauenbewegung
eine Befreiungsbewegung ( Moses Hess 1862: Rom und Jerusalem, die letzte
Nationalitätenfrage; Leon Pinsker 1882: Auto-Emanzipation; Theodor
Herzl 1896. Der Judenstaat). Wie alle Bewegungen ist sie nicht gegen Versteinerung
gefeit sind. Unter den vielen Zionismen heisst Zionismus immer (nach Uri
Avnery): "Ich will als Jude leben". Im Verständnis nationalistischer
oder religiöser Fundamentalisten geschieht das auf Kosten anderer.
Die arabische Befreiungsbewegung läuft als arabische Renaissance
parallel mit der zionistischen. Sie war ganz stark durch christlich-arabische
Intellektuelle geprägt. Auch sie ist nicht, wie zB die Entwicklung
der säkularen Baath-Partei zeigt, nicht von einer Versteinerung verschont
geblieben.
4. Israel hat eine bleibende raison d'etre als Zuflucht für vom Antisemitismus
verfolgte Juden. Die Einwanderung aus Argentinien oder aus der früheren
Sowjetunion und dem dort grassierenden Antisemitismus zeigt die Notwendigkeit
einer Zufluchtsstätte.
5. Unter dem Deckmantel des Antizionismus werden antisemitische Grundmuster
reaktiviert. Die (1905 von der zaristischen Geheimpolizei gefälschten
und in Umlauf gebrachten), "Protokolle der Weisen von Zion"
werden massenhaft in Osteuropa und in den arabischen Ländern übersetzt,
nachgedruckt und verbreitet. Sie gelten als historische Dokumente für
ein Streben nach jüdischer Weltherrschaft. Eine aufklärende
Information über diese Fälschung fehlt.
6. Der moderne Staat Israel ist ein säkularer Staat und zugleich
die einzige Demokratie im Nahen Osten, gefährdet wie alle Demokratien
durch eine überdimensionale Vorordnung der (inneren und äusseren)
Sicherheit auf Kosten von Gerechtigkeit und Menschenrechten. Die EKD Denkschrift
von 1975 erklärt: "Der heutige Staat Israel ist eine politische
Grösse; er stellt sich zugleich aber in den Rahmen der Geschichte
des erwählten Volkes". Israel ist keine Theokratie, gibt aber
zu Recht nicht auf, was auch säkulare StaatsbürgerInnen zu seiner
Identität rechnen: Seine religiöse Dimension. Demokratie und
Säkularität schützen nicht vor einer falschen Regierungspolitik.
Entscheidend ist, ob Kritik und Alternativen zu vertreten erlaubt ist.V
Israel und Deutschland
1. Die Geschichte Deutschlands ist durch die wissenschaftlich untermauerte,
in Medien und Institutionen propagierte, von der Bevölkerung mehrheitlich
hingenommene und industriell durchgeführte Ermordung von sechs Millionen
Jüdinnen und Juden mit dem jüdischen Volk verknüpft. Aus
dieser singulären Schuld erwächst eine singuläre Verantwortung.
Obwohl es Judenverachtung und -feindschaft in allen Gesellschaften gab
und gibt, ist nur in Deutschland Antisemitismus als Regierungsprogramm
und -praxis gewählt und fast widerspruchslos exekutiert worden. Die
nach dem 2. Weltkrieg aufgewachsenen Generationen sind weder schuldig
noch sind ihnen Schuldgefühle abzuverlangen, wohl aber eine Haftung
für das, was geschah und eine Verantwortung dafür, dass dergleichen
nicht wieder geschieht. Die Nachkommen von Kain können sich einer
besonderen Verantwortung für Abels Nachkommen nicht entziehen. Deutschland
hat eine besondere Verantwortung für das Leben und Überleben
des jüdischen Volkes.
2. Innenpolitisch führt das zu der Konsequenz, jeder völkischen,
rassistischen oder antisemitischen Haltung öffentlich und eindeutig
zu widersprechen, die so tut, als dürfe man Juden oder Israel nicht
kritisieren, als koste es Mut, das zu tun oder als seien die Juden oder
Israel selbst schuld daran, dass sie verachtet oder gehasst werden. Karsli,
Möllemann, Walser, Hohmann, Günzel etc stehen in ihren Thesen
und Spielen mit Antisemitismen für diese Gefahr, mit der dumpfe Stimmungen
der Bevölkerung von rechts bis links, vor allem aber in der Mitte,
angesprochen werden. Ziel dieser "Spielereien" mit der Verachtung
eines Volkes ist die Selbstentlastung des deutschen Volkes auf Kosten
anderer Völker (zB der "jüdisch-bolschewistischen Untermenschen",
der Juden, der Schwarzafrikaner etc) und die Relativierung der einzigartigen,
industriell perfekt organisierten Ermordung des jüdischen Volkes.
3. Aussenpolitisch hat diese Mitverantwortung für das Leben und Überleben
des jüdischen Volkes zur Konsequenz, nichts zu unternehmen oder zu
dulden, was Israels Existenz gefährdet. Die EKD-Denkschrift von 1975
sagt: "Es haben Christen sich nachdrücklich für einen sachgemässen
Ausgleich zwischen den berechtigten Ansprüchen beider, der palästinensischen
Araber und der Juden, einzusetzen. Weder dürfen allein den palästinensischen
Arabern die Folgen des Konfliktes auferlegt sein noch darf allein Israel
allein für die Auseinandersetzungen verantwortlich gemacht werden."VI
Palästina
1. "palestinian" stand als Staatsangehörigkeit in den Pässen
von Juden, Christen, Muslimen, Drusen, waren sie Araber oder Juden, Alteingesessene
oder Neueinwanderer bis 1948. Nach 1967 erhielt der Name eine neue inhaltliche
Bestimmung. Er meint seitdem die Araber, die weder israelische Staatsbürger
noch solche der arabischen Nachbarstaaten waren, sondern in dem 1950 von
Jordanien besetzten Westjordanland und Gazastreifen leben, die als Flüchtlinge
oder Vertriebene aus dem Israel der Waffenstillstandsgrenzen (bis 1967)
dort oder in den arabischen Nachbarländern, meistens in Flüchtlingslagern,
Zuflucht fanden. Sie entdeckten - wie einst Theodor Herzl - die politisch
stimulierende Tatsache: "Wir sind ein Volk, ein Volk!". Sie
verweigerten mit den arabischen Staaten bis 1988 die Anerkennung Israels,
das zu den vielen Staaten gehört, die nach 1945 durch Grenzverschiebung,
Teilung, Niederlagen wieder oder anders das Licht der Völkerwelt
erblickten (Polen, die baltischen Staaten, Indien, Pakistan, Bangla-Desh,
die meisten afrikanischen Staaten). Israel akzeptierte 1948 einen durch
das Völkerrecht der UNO (Beschluss vom November 1947) legitimierten
jüdischen und einen arabischen Staat an seiner Seite.
2. Die Führung des palästinensischen Volkes setzte die Politik
der arabischen Staaten - Ausnahme Ägypten 1977 - fort, die Existenz
Israels zu leugnen, zu bedrohen oder beenden zu wollen. Damit wurde die
UNO und ihr Beschluss von 1947, der einen arabischen und einen jüdischen
Staat vorsah, negiert, was wiederum die eigene Position schwächte,
sich später auf die UNO-Resolutionen 242 und 338 zu berufen. Besonderes
Misstrauen erweckte Arafats double speak, seine Friedensreden auf englisch
und seine Aufrufe nach zwei Millionen "Märtyrern"(!), die
zum Marsch auf Jerusalem bereit sein sollen.VII
Palästina und Israel
1. Die Flüchtlingslager als schwärende Wunde an Israels Grenzen,
das Desinteresse der arabischen Staaten an einer Konfliktlösung sowie
das Interesse der Grossmächte im Kalten Krieg, jeweils Bundesgenossen
fürs eigene Lager zu finden, verunsicherten die Existenz sowohl des
jüdischen wie des palästinensischen Volkes, und zwar durch Instrumentalisierungen.
2. Das Ende der Ost-West-Konfrontation eröffnete neue Chancen für
einen Friedensprozess, der mit dem Oslo-Abkommen von 1993 nicht nur eine
euphorische Stimmung brachte, sondern auch Hoffnungen auf beiden Seiten
hervorrief. Vor allem erkannte die eine Seite die jeweils andere endlich
an.
3. Israels Besetzung der Westbank und des Gazastreifens wurde mit drei
verschiedenen Argumenten vertreten: a) man wolle Verhandlungsmasse haben,
b) nationalreligiöse Beanspruchung des "biblischen Kernlandes"
c) homeland- Politik gegenüber den Palästinensern. Rabins Konzept
("Frieden macht man mit Feinden") wurde fehlerhaft, weil ohne
demokratische Rückendeckung von Ehud Barak fortgesetzt, aber bis
zu den entscheidenden Fragen (Ende der Besatzung, Räumung der Siedlungen,
Palästinenserstaat, Jerusalem und Flüchtlingsfrage) vorangetrieben,
aber von Arafat in Taba als Ausgangspunkt für weitere Verhandlungen
abgelehnt. Arafat hoffte auf Neuwahlen in den USA und in Israel, die Ihm
"bequemere" Partner einbringen sollten, eine irreale Lageeinschätzung.
4. Scharon versprach gegen den nicht unterbrochenen Terror islamistischer
Gruppen gegen die Besatzung, gegen die Zivilbevölkerung im Kernland
Israel und gegen jüdische Einrichtungen in aller Welt "Sicherheit
und Frieden" und erreichte das Gegenteil. Beide Seiten reduzierten
Politik zu einem Reiz - Reaktions - Schema, dh sie beendeten die Politik
zugunsten von Gewalt. Die Terroristen setzten das Gesetz des Handelns.
Damit sind in einer durch Öl- und Waffenmärkte interessanten
und gefährlichen Region Krieg und Gewalt wieder zum Mittel der Politik
geworden, einschliesslich ihrer rücksichtslosen Praxis, Unschuldige
zu töten (Selbstmordattentate und preemtive strikes) und ihre Lebensgrundlagen
zu zerstören.
5. Angst, Hass und Misstrauen bestimmen auf beiden Seiten die Haltung
gegenüber der jeweils anderen Seite. Was Ziel ist, das Ende der Gewalt,
wird zur Voraussetzung - zu liefern von der jeweils anderen Seite! - gemacht.
Die Angst auf beiden Seiten voreinander ist berechtigt. Die Mittel, ihr
zu begegnen, sind umstritten.
6. Entscheidend wird sein, dass die israelische Seite das Leiden und die
demütigende Ohnmachtserfahrung des palästinensichen Volkes anerkennt
und die palästinensiche das Leiden und die Ohnmachtserfahrung (nicht
nur der Schoa, sondern auch der Existenzbedrohung und der verweigerten
Anerkennung!) des jüdischen Volkes anerkennt.
7. Wie im ersten Kalten Krieg sind beide Volker auch wieder Instrumente
geworden: einmal im Kampf gegen den "internationalen Terrorismus"
oder im Kampf gegen den global seine Interessen (die nicht immer die von
Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit bestimmt sind) vertretenden "Westen".
Die arabischen Länder müssen sich scharf fragen lassen, ob sie
selbstkritisch und genau über sich und über Israel informieren
und einige, ob sie Israel als Staat leben lassen wollen; Israel muss sich
fragen lassen, ob es ein Staat im Nahen Osten sein will. Das war die zentrale
Frage Martin Bubers, der einen Kulturzionismus vertrat und mit vielen
Freunden (Berit Schalom) auf einen Ausgleich mit den arabischen Nachbarn
setzte. Seine Lösungen sind überholt, die damit gesetzten Aufgaben
bis heute ungelöst - von beiden Seiten.
8. Beide haben keine andere Chance als zusammen zu überleben. Daraus
folgert eine Kompromissnotwendigkeit und -bereitschaft sowie ein die Staaten
des Nahen Ostens übergreifendes Sicherheitssystem, das weder mit
der pax americana noch der Vorherrschaft Syriens, Iraks oder Libyens gleichzusetzen
ist, VIII
Notwendigkeiten
1. Präzise Information über Haftung und Verantwortung im Feld
der deutschen und der christlichen Geschichte. Die Erneuerung beider Beziehungen
hat gerade erst angefangen.
2. Nicht vergessen: Wir leben nicht in der Konfliktregion, wir sind Teil
des Problems (durch unsere christliche und deutsche Geschichte) und nicht
Ratgeber oder Lösung der Probleme, was die leidenschaftliche Anteilnahme
an der öffentlichen Debatte, die auch Position bezieht, nicht verbietet,
sondern notwendig macht.
3. Widerspruch gegen jede Form von und jedes Spiel mit Antizionismen und
Antisemitismen hierzulande. Kritik an der israelischen Regierung ist natürlich
erlaubt. Wer sich in die Pose des angeblichen "Tabubrechers"
wirft ("Man wird doch noch sagen dürfen...") lügt
oder betreibt die marktkonforme Quotenhörigkeit bzw PR-Arbeit in
eigener Sache. Niemand verbietet solche Kritik. Sie muss aber konkret
sein, darf also nicht von den Juden, den Israelis, den Palästinensern
oder den Amerikanern reden..
4. Keine historischen Vergleiche an die Stelle von Analysen und Fragen
setzen (zB "Opfer der Opfer", Arafat = Hitler, Scharon = Hitler,
"Vernichtungskrieg", N. Blüm etc).
5. Beteiligung hierzulande an der Entmilitarisierung unserer Aussen- und
Wirtschaftspolitik zugunsten von mehr globaler Gerechtigkeit und Partizipation.
6. Stärkung des Rechts, besonders des Völkerrechts und der Menschenrechte
als Alternativen zum Krieg. Stärkung der vor allem der UNO, des Völkerrechts
und der individuellen und sozialen Menschenrechte.
7. Einübung von Selbstkritik in jeder Religion und in jedem politischen
System. Keine Kritik an anderen ohne selbstkritische Sicht der eigenen
Bedingtheiten und Positionen. Widerspruch gegen jede Benutzung von Religion
als Waffe, zur Überhöhung oder Begründung von Feindbildern,
zur Verschärfung statt zur Entschärfung von Konflikten. Was
hier von der Religion gesagt ist gilt auch von der "Nation".
8. Klar sehen, dass es einen unterschiedlich gewalttätigen islamischen
(jüdischen, christlichen, nationalistischen oder ökonomischen)
Fundamentalismus auch ohne den Nahostkonflikt gibt. Er erwächst auch
aus der Weigerung der reichen Gesellschaften oder Gesellschaftsteile,
die Frage der Gerechtigkeit, der Partizipation und der Menschenrechte
als Konfliktursache zu sehen und anzupacken. Ungelöste soziale Probleme
in den islamischen Staaten legitimieren nicht eine dort häufig praktizierte
und zu Morden an Juden in aller Welt führenden Suche nach "den
jüdischen" oder "den zionistischen" Sündenböcken,
wie es islamistische Propaganda in Massenmedien, Freitagspredigten oder
Stellungnahmen zB des malaysischen Premiers Mahathir (am 16. 10.2003 bei
der Eröffnung der Gipfelkonferenz der "Organisation Islamische
Konferenz) belegt.
9. Jedem Ansatz von Fundamentalismus entgegentreten. Fundamentalismus
zeichnet sich dadurch aus, dass er a) Alternativen zu denken und zu leben
nicht erlaubt, b) die Menschen in Gute und Böse einteilt, also Feindbilder
braucht c) Gewalt der "Guten" gegen die "Bösen"
rechtfertigt und d) in seinen Organisationsformen autoritär, dh menschenverachtend
ist.
10. Unterstützung der israelischen Menschenrechts- und Friedensbewegung,
die zu Recht die entscheidenden Hauptforderungen an die eigene Gesellschaft
formuliert: Ende der Besatzung und der Siedlungen sowie Ermöglichung
eines palästinensischen Staates.
11. Unterstützung der palästinensischen bzw arabischen Menschenrechts-
und Friedensgruppen und ihrer kritischen Position gegen Demokratieverweigerung,
Korruption, Selbstmordattentäter und der Nichtanerkennung Israels
als Nachbar.
12. Keinen Antislamismus als Feindbild und Vorurteilsersatz dulden.
Überarbeitete Thesen zur Gesprächseröffnung
beim
Studientag der Evangelischen Arbeitsstelle Kirche, Bildung und Gesellschaft
am 15. November 2003 in der Friedenskirche Kaiserslautern
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