"In wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit" (Eph. 4,22-32)
Predigt von Klaus-Peter Lehmann

Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit. Darum legt die Lüge ab und redet Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind. Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen, und gebt nicht Raum dem Teufel. Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern arbeite und schaffe mit eigenen Händen das nötige Gut, damit er dem Bedürftigen abgeben kann. Lasst kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Segen bringe denen, die es hören. Und betrübt nicht den heiligen Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt seid für den Tag der Erlösung. Alle Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung seien fern von euch samt aller Bosheit. Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus (Eph. 4,22-32).

Liebe Gemeinde! Liebe Gäste!

Gerechtigkeit und Heiligkeit, sind das nicht groß tönende Worte für unsere Ohren?
Wenn Sie den Brief des ehemaligen Harburger Rabbiners Alfred Gordon vom 10. April 1933 an seine hiesige jüdische Gemeinde - die schlimme NS-Boykottwoche gegen jüdische Läden war soeben vorüber - wenn Sie diesen Brief hier in diesem Heft lesen, überkommt Sie vielleicht noch ein anderes Gefühl. Ich lese aus ihm vor.
"Unsere Geschichte lehrt uns zu glauben, dass aus allen Erschütterungen des historischen Geschehens, in welches auch wir eingespannt sind, der Finger Gottes sichtbar werden soll. Jeder von uns hat die eiserne Pflicht, in dieser Notzeit vor allem sich zu fragen, ob er stets und ständig, dem Gebote unserer Thora treu, in höchster Redlichkeit und unter Einsatz jedes Opfers der Gemeinschaft gedient hat; denn darauf kommt es wesentlich an, dass wir unter Zurückdrängung allen Egoismus, der engeren und weiteren Gemeinschaft dienen...Gar oft hörte ich in diesen Notlagen die Klage: ´Warum muss uns solch herbes Schicksal überfallen?` Es fällt mir nicht leicht, darauf eine Antwort zu geben, denn die Antwort ist für den Einzelnen weder ein Trost, noch vermag sie die Problematik zu lösen. An den Füßen des Sinai wurde uns zugerufen: ´Ihr seid auserwählt von allen Völkern`...Das ist das große Erziehungsproblem, das uns auferlegt ist, unter dessen Joch wir deutschen Juden heute zusammenzubrechen drohen."
Hier spricht jemand aus großer Not mit Worten verständnisvoller Güte und gleichzeitig mit einem heiligen Ernst. Halten wir uns das vor Augen: Die Presse des Reiches geifert gegen alles Jüdische, es kommt zu zahllosen tätlichen Übergriffen gegen Juden, eine brutale Einschüchterungsaktion. Reichsweite NS-Willkür und reichsweite jüdische Hilflosigkeit.
Und der Rabbiner Gordon warnt seine Gemeinde, die Harburger Juden, vor "unbegründetem Hochmut." Er spricht von der Erwählung des jüdischen Volkes: Ihr seid erwählt! Da werden die Juden reichsweit von verbrecherischen Banden bösartig malträtiert, und der Rabbiner spricht vom großen Erziehungsproblem, das den jüdischen Menschen - nicht etwa den nazideutschen - auferlegt ist, "das Gute zu tun und ehrlich und redlich in jeder Regung unseres Lebens zu wandeln."
Wie sollen wir das verstehen, dieses Gegenüber von willkürlicher Bosheit dort, und hier die Predigt von Güte und reinem Lebenswandel - sozusagen nur an sich selbst. Welcher Zorn und Grimm wäre da nicht zumindest versteckt angebracht? Und welches Schreien über zugefügtes Unrecht nicht gerechtfertigt, zumindest verklausuliert? Oder wenigstens Bitterkeit könnte doch zu spüren sein, wenn ersteres zu gefährlich erscheint? Von alledem hören wir nichts.
Ich glaube: Jemand, der Gordons Brief in 500 Jahren liest, wird außer am Datum nur schwer erkennen können, dass er eine Antwort auf jenes erlittene NS-Unrecht und den beginnenden Holocaust war. Der Leser müsste wohl extra ein Kapitel Geschichte des 20. Jahrhunderts studieren. Und doch ist er eine deutliche Antwort darauf. Als hätte er die Worte des Paulus gehört: Alle Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung seien fern von euch, samt aller Bosheit.
Aber was ist die Antwort? Es ist das Harren und Dulden dessen, der das Erziehungsproblem der Menschheit vom eigenen persönlichen Verhalten nicht trennen kann. Das heißt erwählt sein: bedingungsloses Harren. Egal, was geschieht, ich halte an der Güte des Menschen, der Menschheit, dadurch fest, dass ich, egal was mir geschieht, unter allen Umständen selber gut und mitmenschlich bleibe. Gegen die übermächtige organisierte Bosheit mache ich mich selber zum Zeugnis, quasi zum Beweis für die Menschlichkeit des Menschen, für die Menschenfreundlichkeit Gottes. Durch mich soll die Güte von der Erdoberfläche nicht verschwinden.
Ist das nicht ein völlig uneigennütziger Widerstand, der in aller Bedrängnis den todbringenden Feind schon unerkannt besiegt hat, weil er in allem an die Ewigkeit, an die Zeit der Menschheit nach dem eigenen Tod denkt. Auch wenn keine Aussicht auf irdische Gerechtigkeit besteht und der Horizont sich so verdüstert, dass nur das Gefühl der Hilflosigkeit bleibt und Hoffnung auf bessere Zeiten geradezu närrisch erscheint: Durch mich soll die Güte von der Erdoberfläche nicht verschwinden. Das meinte Alfred Gordon, als er davon sprach: "Jeder von uns hat die eiserne Pflicht, in dieser Notzeit vor allem sich zu fragen, ob er stets und ständig dem Gebot unserer Thora treu gewesen ist."
Wer wusste von dieser unscheinbaren inneren Größe vieler Juden während des NS-Terrors? Wir finden sie bei Leo Baeck, dem Rabbiner in Theresienstadt, bei Joseph Carlebach, der damals Rabbiner in Hamburg war und mit dem Alfred Gordon bekannt war. Ich will damit sagen, eine Haltung der bedingungslosen menschlichen Integrität, war unter den Juden damals verbreitet. Sie ist all denen bis heute unbekannt geblieben, die keine jüdischen Selbstzeugnisse gelesen haben. Stattdessen fragten viele blind drauflos, wie es denn angehen konnte, dass die Juden sich haben abführen lassen statt sich zu wehren. Diese verständnislose Frage ist leider auch noch irgendwie grausam.
Die Juden waren damals allein, 500.000 von 70 Millionen Deutschen. Sie waren absolut allein. Diese herzzerreißende Einsamkeit, diese absolute Verlassenheit ist eine der furchtbarsten Seiten ihres Leidensweges. Es gab noch keine Vereinten Nationen, keine internationale Solidarität. Die Presse war judenfeindlich. Die Kirche feierte Hitler. Roosevelt wusste Bescheid, doch er schwieg, um die Boys nicht zu demoralisieren. Die Polen haben den Tod sein teuflisches Handwerk unter ihren Augen ausführen lassen. Quasi alle wurden damals mehr oder weniger schuldig der unterlassenen Hilfeleistung an einem Volk, das in Todesgefahr schwebte.
Wie soll sich jemand wehren, der in eine dunkle Hausecke gedrängt und gequält wird, während die unbeteiligt Beteiligten interessiert zu- oder desinteressiert wegschauen? Was heißt wehrlos? Kann ich was dafür, dass ich nackt bin und Kleider brauche? Der Mensch wird wehrlos, wenn der Mitmensch es zulässt und so zum Unmenschen wird. Deshalb ist die erstaunte Frage nach der jüdischen Wehrlosigkeit grausam.
Die Aufforderung aber, den Weg der Thora zu gehen und unter allen Umständen moralisch integer zu bleiben, das ist der Stolz der Gedemütigten, das Wunder des aufrechten Ganges, das Wunder eines neuen Wandels durch die Reihen der Gaffer, Spucker, Treter und Totschläger. Daniel in der Löwengrube?
Wer hat diese Passion der Juden überhaupt wahrgenommen? Ich bin geneigt zu sagen, nur sie selber. Das wäre der Gipfel der Einsamkeit. Alfred Gordon hatte seine Gemeinde vor diesem Gipfel gesehen: " In diesen derben Notzeiten, da wird vielleicht manchem von Euch das Wort des Psalmendichters auf den Lippen gelegen haben: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bleibst fern meiner Hilfe, meines Schreiens Wort; mein Gott, des Tages rufe ich, aber Antwort wird mir nicht, des nachts schreie ich, aber ich finde keine Beschwichtigung." Alfred Gordon zitiert zu Anfang seines Briefes diese Psalmworte, die uns bekannt sind aus dem Mund des gekreuzigten Christus, und die für uns Christen so etwas geworden sind wie der Schrei tiefster Verlassenheit, von Gott und von der Welt. Sollten wir dieses Zitat nicht verstehen? Sollten wir nicht hören, was der Rabbiner damit nicht nur seiner jüdischen Gemeinde, sondern auch im Blick auf uns Christen damals sagte und was wir erst heute hören? Sollte es so sein, dass die Kirche, die von der Gottverlassenheit des leidenden Jesus predigt, gleichzeitig die Menschen- und Gottverlassenheit des leidenden Gottesvolkes nicht wahrnimmt oder ignoriert? Alfred Gordon hatte sicher davon gewusst, dass der Dachverband der jüdischen Gemeinden in Deutschland vor Beginn der NS-Boykottwoche gegen die jüdischen Läden einen Hilferuf an die evangelische und an die katholische Kirche gesandt hatte, der niemals beantwortet wurde. Seine Antwort war: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Kein Vorwurf, keine Kritik, keine Selbstgerechtigkeit. Wieder als hätte der Rabbiner Gordon den Rabbiner Paulus gehört: Aus eurem Munde komme kein faules Wort, sondern eins, das gut ist zur Erbauung, wo es not tut, damit es wohltuend sei für die, welche es hören."
Womit konnte der Rabbiner seine Gemeinde auch noch aufbauen? Da ist noch dieser Satz in seinem Brief, aus dem ich den Titel für dieses Heft nahm: "...dass Moses sich vor die Fluten des Meeres stellte...welch Vertrauen auf Gott, nicht zusammenzubrechen in der Not unserer Zeit...im Dienste des Göttlichen - das wird die Fluten des Hasses teilen und nach harten Wanderungen durch die Wüste von Vorurteilen uns bringen in das gelobte Land einer anderen und besseren Zeit."
Die Hoffnung baut auf. Eine Hoffnung, die sich für Alfred Gordon und seine Gemeinde nicht erfüllte. Hatten sie also vergeblich gehofft? Im Gelobten Land sind wir heute noch nicht. Das Entscheidende und froh Machende am Brief Alfred Gordons für uns ist doch: wir erfahren wie einer in einer furchtbaren und für uns unausdenkbaren Notsituation Worte der Hoffnung zuspricht, Hoffnung bewahrt, ja menschliche Hoffnung bewährt im Angesicht des Todes. Dass es solche Menschen gegeben hat, die innerlich nicht aufgegeben haben, die in solcher Situation sich dazu erwählt wussten, für andere Spender von Hoffnung zu sein, dass es eben in einer Welt von Unmenschen doch Menschen gegeben hat, ist es nicht das, was unser Herz aufatmen lässt und weshalb auch wir keinen Grund haben die Hoffnung auf Gerechtigkeit aufzugeben?
Egal, wie weit entfernt wir uns vom Gelobten Land noch dünken, vielleicht verstehen wir die Ermutigung des Paulus an uns mit Alfred Gordon nun besser: Legt ab den alten Menschen, der sich durch betrügerische Begierden zugrunde richtet...Zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist, in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.
Amen.


Gottesdienst zum Gedenken an Alfred Gordon, den letzten Rabbiner Harburgs, und die am 25. 10. 1941 aus Hamburg deportierten Juden am 26. 10. 2003 in der St. Johannis-Kirche in Harburg. Im Anschluss an den Gottesdienst wurde die Broschüre "Die Fluten des Hasses teilen", die von den Juden in Harburg und vom Gedenken handelt, verteilt. Außerdem wurde vor der letzten Wohnung Alfred Gordons unweit der Kirche in der Hastedtstr. 42 ein Gedenkstein verlegt.

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