Gedenk-Gottesdienst zum 9. November 2003
von Peter Remy, Alsfeld
Text: Psalm74
Gedenke an deine Gemeinde in Israel, die du vorzeiten erworben und dir
zum Erbteil erlöst hast, an den Berg Zion, den du zur Wohnstatt erwählt
hast. Richte doch deine Schritte zu dem, was so lange wüst liegt.
Der Feind hat alles verheert im Heiligtum. Deine Widersacher brüllen
in deinem Hause und stellen ihre Zeichen darin auf. Hoch sieht man Äxte
sich heben wie im Dickicht des Waldes. Sie zerschlagen all das Schnitzwerk
mit Beilen und Hacken. Sie verbrennen dein Heiligtum, bis auf den Grund
entweihen sie die Wohnung deines Namens. Sie sprechen in ihrem Herzen:
Wir zerstören alles! Sie verbrennen alle Gotteshäuser im Lande.
Unsere Zeichen sehen wir nicht, kein Prophet ist mehr da, und keiner ist
mehr bei uns, der etwas weiß.
Wie wäre das gewesen, liebe Gemeinde, wenn am 9.
November 1938 diese Worte aus dem 74.Psalm in den christlichen Kirchen
gelesen worden wären? Nur diese Worte allein, und sonst nichts! Wie
wäre das gewesen, wenn am 9. November 1938 auch nur eine Handvoll
Christen zusammengekommen wäre, hier in unserer Stadt, um miteinander
diese Worte zu lesen? Wie wäre das gewesen, wenn an diesem Tage heute
vor 65 Jahren, die Glocken der Walpurgiskirche geläutet hätten?
Nichts von alledem geschah, als die prächtige Synagoge in der Lutherstrasse
an jenem Mittwochabend, dem 9.November 1938, in Flammen aufging. So wie
tausende anderer Gotteshäuser im Lande. Sie verbrennen alle Gotteshäuser
im Lande. Unsere Zeichen sehen wir nicht, kein Prophet ist mehr da, und
keiner ist mehr bei uns, der etwas weiß. Nein, wahrlich: nicht nur
Propheten waren keine da, Propheten, die ihres Amtes gewaltet hätten
und die Wahrheit gesagt, sodass es alle hören. Denn das ist ja die
Aufgabe von Propheten: nicht die Zukunft vorherzusagen, sondern die Wahrheit
"hervorzusagen", jene Wahrheit, die alle verschweigen! Doch
Propheten waren da keine. Und auch das andere war nur all zu wahr: Keiner
ist mehr bei uns, der etwas weiß! Keiner! Wie oft war es zu hören,
wie oft ist es bis heute zu hören: "Wir wussten nichts davon!"
Nichts gewusst - oder vielleicht doch eher nichts wissen wollen, nichts
wissen dürfen? Lieber Gott, mach mich stumm, dass ich nicht nach
Dachau kumm, so hieß es doch damals. "Wir wussten nichts davon?"
Heute jedenfalls kann man wissen, ja heute muss man wissen, und - Gott
sei dank - heute darf man wissen! Heute kann und muss und darf man auch
wissen, dass man ja damals schon gewusst hat!
Dass die Synagogenbrände nicht durch Kurzschlüsse ausgelöst
waren, das stand vor aller Augen. "Kurzschlüsse" waren
es auch nicht in einem anderen Sinne dieses Wortes. Es war nicht "die
spontane Empörung des Volkes", von der Joseph Goebbels sprach,
die hier am Werke war, sondern es war eine über Jahrhunderte gewachsene
antisemitische Gesinnung, die sich hier austobte.
In der Lutherstrasse stand sie, die neue Alsfelder Synagoge, die am 31.
Dezember 1905 eingeweiht wurde. In der Alsfelder Presse stand damals,
im Januar 1906 folgendes zu lesen (1):
"Zu einem feierlichen Akt gestaltete sich am Freitag, dem 31. Dezember
1905, die offizielle Feier der Weihe der neuen Synagoge. Der Schlüssel
wurde übergeben an den Vorsteher der israelitischen Religionsgemeinde,
Herrn Abraham Rothschild, mit dem Wunsche, dass das neue Gotteshaus eine
segensreiche Stätte religiöser Erbauung werden möge, eine
Pflanzstätte bürgerlicher und menschlicher Tugenden
. In
feierlicher Form vollzog sich sodann der erste Gottesdienst, das Anzünden
des ewigen Lichtes, das Verbringen der Thorarollen in die heilige Lade.
Gebete des Provinzialrabbiners, Gesänge des Kantors Herrn Lehrer
Spier und Chorgesänge begleiteten diese Handlungen. Zu Beginn der
Festpredigt begrüßte der Rabbiner die festliche Versammlung,
insbesondere die Vertreter der Behörden sowie der anderen Konfessionen.
Er sprach tiefernste und begeisterte Worte über die Bedeutung der
Synagoge und über unser Verhältnis zu dem gemeinsamen großen
Gott, den wir alle anbeten
. Die neue Synagoge präsentiert sich
von außen als ein stilvolles, imponierendes Bauwerk mit geschmackvollen
Formen, das unserer Stadt zur Zierde gereicht."
So die Worte der Presse. 33 Jahre später, am 9. November 1938 gegen
21.15 Uhr wurde der Innenraum der Synagoge in Brand gesetzt und nahezu
alle Fensterscheiben eingeworfen. Im Innenraum verbrannten ein Teil der
Bänke, der Vorbeterpult, der Vorlesepult und die Vorhänge, die
Frauenempore wurde stark verkohlt. Eine große Menschenmenge sah
meist schweigend zu, wie die Flammen aus dem Inneren leuchteten. Die Feuerwehr
war angewiesen, nur einzugreifen, wenn Nachbargebäude in Gefahr gerieten.
Später am Abend folgte ein Raubzug durch die Stadt: in den meisten
jüdischen Häusern - es lebten noch ca. 100 Juden in der Stadt
- wurden die Fensterscheiben eingeworfen, die Geschäfte wurden verwüstet
und die Waren auf die Straße geworfen. In der Landgraf-Hermann-Straße
lagen die Würste aus der Metzgerei Speier, in der Untergasse die
Schuhe und Lederwaren der Firmen Katz und Goldschmidt. Mehrere Juden wurden
in sog. "Schutzhaft" genommen und in einem Keller in der Hersfelder
Straße eingesperrt.
Der Feind hat alles verheert im Heiligtum. Deine Widersacher brüllen
in deinem Hause und stellen ihre Zeichen darin auf. Sie sprechen in ihrem
Herzen: Wir zerstören alles! Sie verbrennen alle Gotteshäuser
im Lande. Unsere Zeichen sehen wir nicht, kein Prophet ist mehr da, und
keiner ist bei uns, der etwas weiß.
"Unsere Zeichen sehen wir nicht": Die Zeichen, liebe Gemeinde
standen schon so lange an der Wand. Jahrzehnte schon, ja bei Lichte besehen,
sogar schon Jahrhunderte lang stand die Schrift an der Wand.
Im Jahre 1543 etwa schrieb ein gewisser Dr. Martin Luther - ja, unser
Luther! - ein umfangreiches Werk mit dem Titel "Von den Juden und
ihren Lügen". Darin sagt er: Was wollen wir Christen nun tun
mit diesem verworfenen, verdammten Volk der Juden? Wir können das
unauslöschliche Feuer des göttlichen Zornes nicht löschen
noch die Juden bekehren
Ich will also meinen treuen Rat geben: Erstlich,
dass man ihre Synagogen und Schulen mit Feuer anstecke
Zum andern,
dass man ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre, denn
sie treiben eben dasselbe darin, das sie in ihren Schulen treiben. Dafür
mag man sie unter ein Dach oder Stall tun wie die Zigeuner, damit sie
wissen, sie seien nicht Herren in unserm Lande, wie sie rühmen, sondern
elend und gefangen
. Zum dritten, dass man ihnen nehme die Betbüchlein
und Talmudisten
. Zum vierten, dass man ihren Rabbinen bei Leib
und Leben verbiete, hinfort zu lehren; zum sechsten, dass man ihnen das
Wuchern verbiete, ihnen alle Barschaft an Silber und Gold nehme und es
beiseite lege und verwahre, denn alles, was sie haben, haben sie uns gestohlen
. Zum siebenten soll man den jungen, starken Juden und Jüdinnen in
die Hand geben Flegel, Axt, Spaten und Spindel und sie lassen ihr Brot
verdienen im Schweiße, wie Adams Kindern auferlegt ist." Und
wenn dies alles nichts nütze, so meinte Luther, dann solle man die
Juden aus dem Lande jagen.
In der "Lutherstrasse" stand sie, die Alsfelder Synagoge. Geschändet
und zerstört in der Nacht am 9. November 1938, am Vorabend von Martin
Luthers 455. Geburtstag.
Luthers Worte, die wir gehört haben, geschrieben drei Jahre vor seinem
Tode, waren keine "Entgleisungen". Nein, es waren Gedanken -
man muss es leider so deutlich sagen - die aus der Mitte seiner Theologie
kamen. Es waren Worte eines irregehenden missionarischen Eiferers, der
als er die Juden nicht bekehren konnte, sich zum Richter über sie
aufwarf: "Taufe oder Tod", so hieß einst schon die mörderische
Parole der katholischen Inquisition in Spanien. Und Martin Luther, der
dem Volk aufs Maul schaute, sprach auch hier aus der Mitte des Volkes
heraus.
Als deutsche Kirchenmänner 1936 persönlich bei Hitler gegen
die Misshandlung der Juden protestierten, - immerhin! - unter ihnen auch
Martin Niemöller, wurden sie kurz abgefertigt mit den Worten: "Was
beschwert ihr euch? Ich befolge doch nur, was ihr Jahrhunderte lang gelehrt
habt!" Und Julius Streicher, der wohl schlimmste Judenhetzer des
Dritten Reiches, sagte bei seinem Prozess vor dem internationalen Gerichtshof
in Nürnberg: "Dr. Martin Luther säße heute an meiner
Stelle auf der Anklagebank, wenn sein Buch Die Juden und ihre Lügen
in Betracht gezogen würde. Ihre Synagogen solle man niederbrennen,
man solle sie vernichten
Genau das haben wir getan!"
Ach, Gott, wie lange soll der Widersacher noch schmähen und der Feind
deinen Namen immerfort lästern?
Das so genannte "Tausendjährige Reich" war nach 12 Jahren
zu Ende. Und mit ihm das Leben vieler Millionen Menschen, die es auf seinen
teuflischen Altären geopfert hat. Das Schmähen aber, von dem
der Psalmbeter spricht, das Schmähen hat noch immer kein Ende, auch
nicht unter uns. Und die Zeichen an der Wand, sehen wir sie denn heute?
Ein Bundestagsabgeordneter, der die Juden in die Nähe eines "Tätervolkes"
rückt. Ein hoher Bundeswehrgeneral, der ihm applaudiert. Und schlimmer
noch: Sind beide mit dem, was sie sagen, nicht wirklich Repräsentanten
unseres Volkes? Haben sie nicht nur das ausgesprochen, was viele, vielleicht
die meisten mittlerweile wieder denken? Etwa dann, wenn sie von ihrer
Sorge um den "Nahen Osten" reden. Ist es eigentlich auch die
Sorge um das Überleben des jüdischen Volkes, ist es auch die
Sorge um das Überleben des jüdischen Staates, die sich hinter
solchen Redensarten verbirgt? Oder ist es nicht eher - klammheimlich -
das Gegenteil: Schaut nur hin! Die Juden als Täter! Da haben wir`s.
Was haben sie gelernt aus Auschwitz? - Ja, liebe Gemeinde, was soll man
lernen aus Konzentrationslagern, wenn man sie überlebt hat? Die Sorge
um das Leben anderer oder die Sorge um das eigene Leben und Überleben?
Die dunklen Winkel des Landes sind voller Frevel, klagt der Psalmbeter.
Was ist mit den dunklen Winkeln unserer Seelen, was mit den Abgründen
unserer Gedanken? Welche Gedanken verbergen sich in Wahrheit bei vielen
Zeitgenossen hinter der so oft beschworenen Frage nach dem "Nahen
Osten"? Ist es die aufrechte Sorge um den Frieden in der Welt? Oder
ist es eine neue "Judenfrage", nach deren "Lösung"
in unserem Lande schon einmal ein ganzes Volk verlangt hat?
Eine "jüdische Frage", die gibt es wohl, und vielleicht
ist das die Frage, die Christen den Juden verübeln. Es ist die Frage,
die Juden uns stellen durch ihre bloße Existenz. Einfach dadurch,
dass sie da waren und immer noch da sind als Juden - als Menschen, die
sich, wenn sie religiöse Juden sind, an den verborgenen, unbegreiflichen
Gott der Bibel halten; als Menschen, die trotz aller Schmach und Schande,
die sie erlitten, auf die ausstehende Erlösung warten und die sich
also weigern, Christen zu werden. Dies war die jüdische Frage seit
den Anfängen des Christentums - eine sehr ärgerliche Frage.
Ich bin kein Jude, sondern ich bin Christ, und ich bin es aus Überzeugung.
Aber ich will die jüdische Frage an uns einmal stellen, wie viele
gläubige Juden sie stellen könnten. Sie lautete vielleicht so:
"Seid ihr Christen denn wirklich so sicher, dass euer Glaube jetzt
schon die Erlösung bringt, nicht nur euch selber, sondern der Menschheit
und der ganzen Welt? Soweit wir sehen, ist bei euch Christen und durch
euch das Reich Gottes, auf das unsere Väter uns warten und hoffen
lehrten, noch nicht angebrochen. Oder wollt ihr das bestreiten? Ihr sagt,
wir Juden seien blind. An den Portalen eurer Kathedralen bildet ihr die
Synagoge ab als gebrochene Frau mit einem Tuch vor den Augen. Und daneben
stellt ihr die triumphierend lächelnde Kirche. Wenn euch doch wenigstens
dieses überlegene Lächeln verginge! Das Lächeln derer,
die über Gott genau Bescheid zu wissen meinen. Diese Sicherheit,
auf dem einzig richtigen Weg zu sein. Wenn ihr es doch verstündet,
warum wir es vorziehen, Juden zu bleiben, Menschen, denen vieles nicht
so klar ist, denen auch Gott oft nur als Verborgener erscheint - und die
doch mit ihm kämpfen und auf ihn warten! Sind wir Juden darin nicht
dem Juden nahe, den ihr den Heiland nennt? Hat Er nicht am Ende seines
Weges die Verborgenheit seines Gottes erfahren wie so viele von uns?"
(2)
Warum ziehst du deine Hand zurück, Herr? Gedenke an deinen Bund;
lass den bedrückten nicht beschämt von dir weggehen. Erhebe
dich Gott, und führe deine Sache!
Dietrich Bonhoeffer schrieb in seiner Bibel an den Rand des 74. Psalms,
den wir gehört haben, nur ein Datum: 9.11.38. Und ein Alsfelder Unternehmer
nahm die Ereignisse des 9. November 1938 zum Anlass, den etwa 20 jüdischen
Familien, die es damals noch gab in unserer Stadt, auf seiner Visitenkarte
am Tage danach folgendes mitzuteilen: "Als Christ und Deutscher schäme
ich mich wegen der Missetat, die man Ihnen mit der Schändung und
der Verbrennung Ihrer Synagoge angetan hat." Eine dieser Karten existiert
noch bei einer jüdischen Familie in Israel. Es ist die wichtigste
"Visitenkarte" der Stadt Alsfeld bis zum heutigen Tag. Möge
Gott das Andenken dessen segnen, der sie einst schrieb. Und möge
ER uns allen gnädig sein, auch um jenes einen Gerechten willen.
AMEN.
Anmerkung:
(1) Die erzählenden Passagen über die Ereignisse des 9.11.1938
in Alsfeld sind entnommen aus: Heinrich Dittmar / Herbert Jäkel,
Geschichte der Juden in Alsfeld, Alsfeld 1988
(2) Friedrich Gölz, Gehören die Christen zu Gottes Volk, Stuttgart
1996, 92
© Pfarrer Peter Remy, Kirchplatz 4, 36304 Alsfeld
zur
Titelseite
zum Seitenanfang
|
|