Hat der Antisemitismus die Mitte erreicht?
von Axel Vornbäumen

Bricht da etwas auf? Etwas, das lange und mühevoll unter der Decke gehalten werden konnte? Etwas, das auf offener Bühne als unaussprechlich galt - und das deshalb, und nur deshalb, in seinen Ausmaßen so nicht wahrgenommen wurde: Kommt der Antisemitismus in den Deutschen (wieder) hoch?

Berlin, Donnerstagmorgen, Parlamentarische Gesellschaft, in Sichtweite des Reichstags: In einer Stunde wird dort der Bundestag die interfraktionell vereinbarte Debatte mit dem Titel "Antisemitismus bekämpfen" führen, ausgelöst durch den Fall des inzwischen aus der Unionsfraktion ausgeschlossenen ehemaligen CDU-Abgeordneten Martin Hohmann, einen nach parteiübergreifender Diktion "unsäglichen" Feiertagsredner, der "Tätervolk"-Vergleiche zwischen den Deutschen und Juden angestellt hatte.

Das Thema "Entschuldung"

Wilhelm Heitmeyer, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, präsentiert ausgewählte Ergebnisse seiner Studie "Deutsche Zustände" - es ist die zweite Folge der auf zehn Jahre angesetzten Beobachtung von jenen Phänomenen, die der Sozialwissenschaftler zur "Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit" zählt: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Heterophobie, Islamphobie, Sexismus. Und Heitmeyer legt eine Folie zum Antisemitismus auf, die es in sich hat. Zwar bleibt der Anteil derer, die sich auf Grund der Befragung zu Menschen mit antisemitischer Einstellung zählen lassen mit 14,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr (12,7 Prozent) fast annähernd stabil. Doch weisen die Balkendiagramme für Fragen, die den so genannten "sekundären Antisemitismus" betreffen, erschreckend hohe Werte auf. Der erschreckendste: 69,9 Prozent der Befragten stimmen der Äußerung zu: "Ich ärgere mich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden." Was den Bielefelder Sozialwissenschaftler besonders alarmiert: Diese Einstellung ist beileibe nicht nur am rechten Rand populär, sie hat die Mitte erreicht.

So "ärgern" sich 70,8 Prozent derer, die sich selbst politisch als "Mitte" einstufen. Selbst links (57,1 Prozent) und eher links (61,7 Prozent) ist eine Mehrheit vom Thema genervt. Heitmeyers Fazit: "Das Thema Entschuldung ist in allen Schattierungen dieser Gesellschaft angekommen und kann die Basis eines neuen "unverkrampften", ja entschuldeten Antisemitismus bilden, weil man die Mehrheit hinter sich glaubt.

War Martin Hohmann dann also doch nur der Lautsprecher für das unterdrückte Bauchgefühl der Deutschen? Die Sozialwissenschaftler Werner Bergmann und Rainer Erb haben für den Antisemitismus das Konzept der "Kommunikationslatenz" entwickelt. Kurz gesagt bedeutet dies: In Deutschland ist über die Jahre hinweg ein Meinungsklima geschaffen worden, das bewirkt hat, dass antisemitische Äußerungen in der Öffentlichkeit bewusst gemieden werden. Mit dem Effekt, wie Heitmeyer nun schlussfolgert, "dass der manifeste Antisemitismus von einer politischen Ideologie zu einem privaten Massenvorurteil rückentwickelt worden ist". Das Ergebnis, siehe wieder Hohmann: Zwar gibt es Antisemitismus in der Politik, aber keinen politischen Antisemitismus.

Und wie sieht es im Volk aus? Wilhelm Heitmeyer ist sich mittlerweile nicht mehr sicher, wie lange es noch gelingen kann, dass politische Eliten immer wieder neu die "Normgrenzen" in Bezug auf den Antisemitismus festlegen können. Für den Wissenschaftler greift hier derzeit noch das in der Sozialwissenschaft altbekannte Phänomen der Schweigespirale: Wenn Menschen den Eindruck haben, sie gehörten zu einer Mehrheit, sind sie in der Regel bereit, ihre Positionen in der Öffentlichkeit vehementer zu vertreten, als wenn sie sich subjektiv in einer Minderheit wähnen. Anders ausgedrückt: (Noch) wissen die meisten gar nicht, wie viele Brüder im Geiste sie haben, wenn sie Ansichten äußern wie: "Juden haben in Deutschland zu viel Einfluss" (23,4 Prozent) oder "Viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen" (54,5 Prozent).

"Diffuse Gefühlslagen"

Deutsche Zustände. Demnächst in brauneren Grundtönen zu zeichnen? Noch sind die Konturen nicht so deutlich zu ziehen. Denn immerhin 65,4 Prozent (2002: 67,7 Prozent) der Befragten stimmen dem Satz zu: "Ich finde es gut, dass wieder mehr Juden in Deutschland leben." Und so konstatiert denn auch etwa Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, der bei der Präsentation der Ergebnisse anwesend und zunächst "erschreckt" war, eine gewisse gesellschaftliche "Labilität". Anlass zur Wachsamkeit - sicher. Anlass zur Besorgnis - nur dann, wenn jene in der Gesellschaft existierenden "diffusen Gefühlslagen", wie Thierse es nennt, tatsächlich ins Anti-Semitische wegbrächen.

Deutsche Zustände. Gibt es Analogien? Heitmeyer und sein Forschungsteam sind in ihrer Untersuchung auch der Islamphobie der Deutschen auf der Spur. Auch hier haben die Sozialwissenschaftler mit ihren Zahlenkolonnen "erhebliche Abwehrhaltung" und "breites Unbehagen" gegenüber Muslimen eingefangen. Heitmeyer wertet dies "zur Zeit als religiöse Komponente der Fremdenfeindlichkeit".

Für die Anhänger eine "couragierten und konfliktbewussten Zivilgesellschaft" sieht der Wissenschaftler denn, ähnlich wie bei der Bekämpfung des Antisemitismus, noch viel Arbeit. "Die Bewährungsprobe", so Heitmeyer, "steht erst noch bevor."

Frankfurter Rundschau, 12.12.2003

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