Altes Gift im neuen Europa
Laut einer Umfrage gibt es einen europäischen Antisemitismus.
von Leon de Winter


Das Ergebnis der Umfrage, die die Europäische Kommission unter rund 7500 Europäern durchführen ließ, lautet zusammengefasst: "Israel ist die größte Gefahr für den Weltfrieden." Dieses Ergebnis war krude und erschreckend, aber es kam nicht ganz unerwartet. Wer aufgepasst hat, weiß, dass der Geist, der aus dieser Botschaft spricht, schon eine Weile über Europa liegt. Um genau zu sein: Dieser Geist hat sich seit dem 11. September 2001 in den europäischen Medien immer stärker bemerkbar gemacht.
Der Schock der Zerstörung der Twin Towers schien Amerika und Europa anfangs fester zusammenzuschmieden, doch binnen weniger Monate wurden die ersten Risse sichtbar, und in die öffentliche Debatte in Europa schlich sich so etwas wie klammheimliche Schadenfreude über das für die Amerikaner so beschämende Ende ihrer arroganten, unzerstörbaren New Yorker Türme. Wer sich die Berichterstattung und die Kommentare in den europäischen Medien in den letzten zwei Jahren ansieht, registriert nicht nur eine zunehmende Skepsis hinsichtlich Amerikas Rolle in der Welt, sondern vor allem auch eine Verschärfung der Emotionen: blanken, hasserfüllten Antiamerikanismus.
Martin Hohmanns Rede passt zur neuen Gefühlslage
Zwei Jahre nach Nine Eleven lautet die in Europa vorherrschende Schlussfolgerung, dass sich Amerika die Angriffe vonseiten der Islamisten selbst zuzuschreiben habe. Aber damit nicht genug. In Europa besteht offenbar auch ein großer Hunger nach Verschwörungstheorien. Bücher über die vermeintlich obskure Rolle der CIA und des israelischen Geheimdienstes Mossad beim Untergang der Türme finden in ganz Europa reißenden Absatz. Zugleich tragen Filme und Bücher von Leuten, die dem äußersten linken Flügel der amerikanischen Gesellschaft zuzurechnen sind, wie etwa Michael Moore, mit dankbarer Zustimmung der europäischen Intelligenzija zur Lächerlichmachung der amtierenden US-Regierung und bestimmter Aspekte der US-amerikanischen kulturellen Tradition bei. Und von Mal zu Mal wird deutlicher, dass die Antiglobalisierungsbewegung vor allem eine vehement antiamerikanische Bewegung ist.
Was hat das alles damit zu tun, dass die Mehrheit der Europäer die Ansicht vertritt, Israel stelle die größte Gefahr in der Welt dar? Warum ausgerechnet Israel? Wieso beeinträchtigt Israel die Gemütsruhe des durchschnittlichen Europäers? Welche Überlegungen bringen die Mehrheit der Bürger Europas mit seiner Gesamtbevölkerung von 376 Millionen Menschen dazu, ein Land, das gerade einmal halb so groß ist wie Belgien und sechs Millionen Einwohner hat, wovon fünf Millionen Juden sind, als größte Gefahr für den Weltfrieden zu bezeichnen?
Seit 1982 wütet ein massiver Öffentlichkeitskrieg, in dem sich das positive Bild, das Europäer überwiegend von Israel hatten - und das vermutlich von jeher forciert und künstlich war -, allmählich in das aufgelöst hat, das heute vorherrscht: Israel, das ist ein explosives Gemisch aus jüdischer Aggressivität, jüdischer Arroganz, jüdischer moralischer Erpressung und jüdischem Finassieren. Die nach dem Zweiten Weltkrieg durch strenge gesellschaftliche Tabus unterdrückten Stereotype sind nach 50 Jahren springlebendig wieder aufgetaucht (nachdem sie in der arabisch-islamischen Welt jahrzehntelang sorgsam gezüchtet wurden). Die amerikanische Außenpolitik wird aufgrund der Präsenz von als Juden identifizierbaren Politikern wie Richard Perle und Paul Wolfowitz sowohl in populären Komplott-Theorien als auch in seriösen Medien als Ausfluss israelischer, also jüdischer, Interessen bezeichnet. In der Wahrnehmung vieler Europäer verschwimmen die Grenzen zwischen den konservativen Gruppierungen in der amerikanischen und in der israelischen Gesellschaft; in ihren Augen bringen die Interessen hegemonialer Juden wie Scharon und radikaler Christen wie Bush den Weltfrieden ins Wanken.
Mit dem Ergebnis der Meinungsumfrage - auch wenn diese technisch nicht gut war - hat sich der schönste Traum Osama bin Ladens erfüllt: Er hat den Westen entzweit, und die Europäer lasten nun in bester antisemitischer Tradition Israel, dem Land der Juden, die größten Übel in der Welt an.
Um zu überleben, hat Israel seit 1948 vier bittere Kriege mit der arabischen Welt führen müssen. Doch sein schwerster Krieg scheint der gegenwärtige Öffentlichkeitskrieg zu sein. Und die Umfrage zeigt, dass Israel diesen Krieg verloren hat.
In Europa findet der israelisch-palästinensische Konflikt kolossal viel Beachtung. Weit mehr als Tschetschenien oder der Bürgerkrieg im Sudan. Obwohl es in den besetzten Gebieten im Grunde um einen relativ begrenzten regionalen Konflikt, um zu vernachlässigend kleine und unfruchtbare Stückchen Land geht, wird in den europäischen Medien unvergleichlich viel mehr darüber berichtet als über andere Krisenherde in der Welt. Da wären, um nur ein paar Beispiele aus der Fülle der schwelenden Unruhen herauszugreifen, die einen weltweiten atomaren Flächenbrand nach sich ziehen könnten: der Kaschmirkonflikt zwischen den nervösen Atommächten Pakistan und Indien, die Irritationen um das von einem wahnsinnigen Filmfreak regierte Nordkorea, die atomaren Ambitionen der diktatorisch regierten, paranoiden Länder Iran, Libyen, Saudi-Arabien, Chinas Hadern mit dem wohlhabenden und unbeugsamen Taiwan.
So grausam und tragisch die aktuellen Ereignisse um und in Israel, die Woche für Woche Menschenleben kosten, auch sein mögen, die Kontinuität der Nationalstaaten in der Region ist vom Terrorismus und den israelischen Reaktionen darauf in keinster Weise in Mitleidenschaft gezogen. Die Medien scheinen zwar tagtäglich etwas anderes zu insinuieren, doch tatsächlich ist der Status quo rund um Israel stabiler denn je. Der palästinensische Terrorismus kann der Stärke und dem Überlebenswillen Israels nichts anhaben, und die israelischen Militäraktionen können ihrerseits das palästinensische Unabhängigkeitsstreben nicht unterdrücken.
Vom Iran und von Syrien gestützte libanesische Terrorgruppen sorgen regelmäßig für Unruhe an Israels Grenzen, aber den Weltfrieden - definiert als das Nichtvorhandensein ganze Kontinente überziehender militärischer Gewaltsamkeiten - kann auch das in keinerlei Weise aushöhlen, denn als spaltendes Element in den globalen Kräfteverhältnissen fungiert dieser regionale Konflikt, wie die meisten regionalen Konflikte anderswo auf der Welt, heute nicht mehr. Die gefährliche Rivalität zwischen dem atlantischen und dem osteuropäischen Machtblock hat sich mit der Sowjetunion aufgelöst. Womit allerdings nicht gesagt sein soll, dass es unmöglich wäre, mit einem solchen Konflikt andere Konflikte in Gang zu setzen. Osama bin Laden ist sich des Symbolwerts Israels zutiefst bewusst.
In den neunziger Jahren sind in Tschetschenien in dem immer noch anhaltenden Krieg zwischen Moskau und islamischen Separatisten Schätzungen zufolge 100000 Menschen ums Leben gekommen. Der Krieg des islamischen Regimes im Sudan gegen die christlichen und animistischen Stämme im Süden des Landes hat schätzungsweise ein bis zwei Millionen Tote gefordert. Auch der Kampf zwischen den Hutu und den Tutsi hat Millionen Menschenleben gekostet. Horrende Zahlen, die um ein Vielfaches höher sind als die Zahl der Palästinenser, die während der beiden Intifadas bei israelischen Militäraktionen ums Leben kamen. Das besondere Augenmerk, das Europa auf Israel richtet, hat also nichts mit dem Ausmaß der von Israel verübten Gräuel zu tun, denn diese Gräuel sind anderswo um etliches schrecklicher. Und auch mit seiner Größe oder seinem Bevölkerungsumfang oder der Art seiner Bodenschätze - die es praktisch nicht besitzt - kann es nicht zu tun haben, dass man Israel so viel Beachtung schenkt.
Wie sehen die konkreten Zahlen aus? Die unabhängige israelische Menschenrechtsorganisation B'tselem veranschlagt die Zahl palästinensischer Toter während beider Intifadas und der Zeit dazwischen, also innerhalb von 16 Jahren, vom Dezember 1987 bis einschließlich Juni 2003, auf 3544, das sind 0,6 pro Tag (auf israelischer Seite gab es mehr als 1100 Tote). Anders ausgedrückt: Obwohl der israelisch-palästinensische Konflikt auf tragische Weise nahezu täglich Opfer fordert, wird das Ausmaß der Gewalt dort von der Gewalt in anderen Teilen der Welt übertroffen - weit mehr Tote forderte allein der heiße Sommer 2003 in französischen Altersheimen.
Wenn also offenbar nicht Fakten, sondern Emotionen zählen, gilt es, die Quellen für diese Emotionen zu finden. Der damalige CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann weist den Weg dorthin. In seiner bekannten Rede in seinem Wahlkreis erklärte Hohmann den Zuhörern in der Nähe von Fulda am 3. Oktober dieses Jahres, dass man einmal die Mitschuld der Juden an der Entstehung und am Terror des bolschewistischen Sowjetregimes zur Sprache bringen müsse. Er berief sich dabei auf zwei dubiose Bücher, die bei empfänglichen Lesern einen tiefen emotionalen Hunger stillen. Genau darauf zielt auch Hohmann. Er hat, wie schon andere vor ihm, nach einer Gelegenheit gesucht, um im jüdischen Volk Täter und Schuldige ausfindig machen zu können.
Das Bedürfnis, Israel und damit auch andere Juden (einschließlich der militanten Bolschewiken, die ihre einstige Religion und Kultur hassten) als Täter bezeichnen zu können, hat nach den Massenmorden in Sabra und Schatila 1982 eine ganz eigene Dynamik gewonnen und durch die große Empörung der Medien über Israels Umgang mit den Palästinensern zu einer immer größeren Dämonisierung Israels geführt.
Journalisten sehen nur, was sie sehen wollen - Israel als Täter
Wer die Namen der Lager im Internet "googled", erhält an die 25000 Treffer. Wenige Monate zuvor im selben Jahr, 1982, hatte der syrische Präsident Assad die Stadt Hama dem Erdboden gleichmachen lassen, doch die Blutbäder von Sabra und Schatila, obwohl von weit geringerem Ausmaß (die libanesische Polizei schätzte die Zahl der Toten auf über 400, die Israelis auf über 800; in Hama starben mindestens 10000), waren ein viel größeres "Medien-Event" - Hama ging praktisch lautlos an der Öffentlichkeit vorüber.
Das hat einen einfachen Grund: Mit Sabra und Schatila konnte Israel in Zusammenhang gebracht werden, mit Hama nicht. Das legt die Schlussfolgerung nahe, dass Opfer rein arabischer Konflikte für die europäischen Medien kaum Publizitätswert besitzen. Belegt wird diese Hypothese auch durch die Tatsache, dass zum Beispiel die Ereignisse vom Mai 1985, als schiitische Amal-Kämpfer in Schatila (ja, in demselben Lager) mehr als 600 Palästinenser töteten, für die westlichen Medien keinen Nachrichtenwert hatten.
In den europäischen Medien verwandelten Sabra und Schatila die Israelis in Täter. Die direkt Verantwortlichen waren zwar die Milizen der libanesischen Maroniten, die gemäß den Regeln des soziokulturellen Spiels im Nahen Osten mit einem vernichtenden Blutbad Rache für den beschämenden Mord an ihrem Clanführer nehmen mussten, aber Europa war so sehr an der israelischen Täterschaft gelegen, dass feine Unterschiede nicht zählten. Seit September 1982 wurde Israel in zunehmendem Maße als brutaler Menschenrechtsverletzer hingestellt. Den Tragödien großen Ausmaßes, die sich anderswo im Nahen Osten und in der arabisch-islamischen Welt abspielten, zollte die internationale Presse nie die Beachtung, die Israel zukam.
Eine weitere Katastrophe für das Bild Israels in der Öffentlichkeit folgte im April 2002: Dschenin. Die Berichte über angebliche Massenmorde der israelischen Armee (später sowohl von den UN wie von Human Rights Watch entkräftet) sind in den europäischen Medien zwar im Nachhinein einigermaßen zurechtgerückt worden, doch der Eindruck, den die ersten Berichte über Dschenin hinterlassen hatten, ließ sich nicht mehr verwischen. Die meisten Journalisten sahen, was sie sehen wollten: Israel als Täter. Die europäische Öffentlichkeit las, was sie lesen wollte: Juden, die als Täter auftraten.
Wer sich Ausmaß und Häufigkeit der schrecklichen Gräuel ansieht, die tagtäglich überall auf der Welt stattfinden, kann zu keinem anderen Schluss kommen, als dass das besondere europäische Augenmerk auf den israelisch-palästinensischen Konflikt die gleichen obsessiven Züge trägt wie in der arabisch-islamischen Welt. Im Erleben der Araber ist Israel zur Quelle aller demütigenden Übel geworden, von denen die arabischen Länder in den vergangenen Jahrhunderten heimgesucht wurden; virulenter Antisemitismus ist zu einer völlig akzeptierten Regung geworden. Bei den Europäern gedeiht das Bedürfnis, Israel zu dämonisieren, auf einem anderen Nährboden.
Das obsessive Interesse der europäischen Medien für Israel hat vor allem mit der Vergangenheit zu tun. Israel wurde von europäischen Juden gegründet, die dem europäischen Judenhass entflohen waren; es ist das kontinuierliche Symbol für die Gleichgültigkeit und die Ohnmacht Europas am Tiefpunkt der europäischen Zivilisation: der industriellen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Europa während des Zweiten Weltkriegs.
Die Bürger wollen die Last der Schoah abschütteln
Dass Israel auf der Liste der von den Europäern als Bedrohung empfundenen Länder ganz obenan steht, hat relativ wenig mit seinen politischen und militärischen Taten zu tun, die sich - so exzessiv sie manchmal sein mögen - gegen die Grausamkeiten, die sich anderswo auf der Welt ereignen, relativ unscheinbar ausnehmen. Es ist etwas anderes. Dass Israel zu Europas Staatsfeind Nummer eins geworden ist, hängt vielmehr mit den Zwangsvorstellungen zusammen, die Europäer Juden gegenüber hegen: Es hat letztlich mit dem Bedürfnis der Europäer zu tun, sich ein für allemal von der Last der Schoah zu befreien und die ärgerliche moralische Erpressung seitens der arroganten israelischen Politiker und der amerikanischen Wortführer jüdischer Organisationen zu beenden. Wenn Juden selbst Täter sind, wird der europäischen Verantwortung für die Schoah etwas von ihrer Ausschließlichkeit genommen. Wenn Juden als Nazis bezeichnet werden können, werden die ursprünglichen Nazis ein bisschen jüdisch.
Wenn Sabra, Schatila und Dschenin als Vernichtungslager bezeichnet werden können, ist Auschwitz nicht länger eine absonderliche Tragödie der europäischen Zivilisation, sondern ein gewöhnlicher Vorfall in einer Reihe gewöhnlicher Unmenschlichkeiten. Wenn der jüdische Staat für die größte Gefahr für den Frieden in der Welt gehalten werden kann, gewinnt die nazistische Ideologie ("Die Juden sind unser Unglück"), von der sich so viele haben verführen lassen, posthum eine gewisse Respektabilität. Wenn Juden selbst Blutbäder anrichten, sind sie um kein Haar besser als Nazis und verlieren jeden Anspruch auf moralische Überlegenheit.
Am 11. September 2001 erklärten bin Laden und seine Islamisten dem Westen, dem Land von Kreuzrittern und Juden, den Krieg. Es scheint, als habe sich Europa seither schon fast panisch da-rum bemüht, ihm pazifizierend zu verdeutlichen, dass nicht Europa das Haus der Kreuzritter sei, sondern Amerika, und dass man auch in Europa die wahre, böse Natur der Juden kenne.
Vor 80 Jahren schrieb Friedrich Holländer zu einer Melodie von Bizet das traurig-sarkastische Lied An allem sind die Juden schuld:
An allem sind die Juden schuld,
die Juden sind an allem schuld,
allem schuld.
Warum sind denn die Juden schuld?
Kind, das verstehst du nicht,
sie sind dran schuld.


Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. - Leon de Winter, einer der bekanntesten Autoren Hollands, wurde als Sohn niederländischer Juden 1954 geboren. Von Bauern versteckt, überlebten seine Eltern den Holocaust
DIE ZEIT, 11.12.2003 Nr.51


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